Majjhima Nikāya, Mittlere Sammlung

Erstes Halbhundert - Mūlapannāsam

V. BUCH: KLEINE PAARE - Cūlayamakavaggo

44. Erklärungen II - Cūlavedalla Sutta

 

So habe ich es gehört: 

Als der Erhabene einmal am Eichhörnchenfutterplatz im Bambushain bei Rājagaha weilte, ging der Upāsaka Visakha zur Bhikkhuni Dhammadinna[1], begrüßte sie, setzte sich zu ihr und fragte sie:

«Edle Frau, was nennt der Erhabene Persönlichkeit?» - «Bruder Visakha, die fünf Gruppen des Ergreifens nennt der Erhabene Persönlichkeit, nämlich die Ergreifensgruppen sichtbare Gestalt oder Körperlichkeit, Empfindung, Wahrnehmung, unbewußte gestaltende Tätigkeiten und Bewußtsein.» - «Gut, edle Frau», sagte Visakha, erfreut über ihre Erklärung, und fragte weiter: «Wie hat der Erhabene die Entstehung der Persönlichkeit erklärt?» - «Der Erhabene hat erklärt, daß die Persönlichkeit aus dem Durst oder Lebenstrieb entsteht, der zur Wiedergeburt führt, von Wohlgefallen und Lust begleitet ist und hier und dort sich ergötzt, nämlich aus dem Durst nach Sinnenlust, aus dem Durst nach Leben und aus dem Durst nach Selbstabtötung.» - «Wie hat der Erhabene das Aufhören der Persönlichkeit erklärt?» - «Sie hört auf wenn dieser Durst völlig aufgegeben, vernichtet, verworfen, abgelegt und vertrieben worden ist.» - «Welchen Weg hat der Erhabene zum Aufhören der Persönlichkeit gewiesen?»  - «Den achtfachen Weg hat der Erhabene gewiesen, nämlich rechte Einsicht, rechte Gesinnung, rechtes Reden, rechtes Tun, rechten Lebenserwerb, rechte Bemühung, rechte Andacht und rechte Geistessammlung.» - «Sind Ergreifen und die fünf Gruppen des Ergreifens dasselbe oder Verschiedenes?» - «Sie sind nicht dasselbe, aber auch nicht Verschiedenes. Was bei den fünf Gruppen des Ergreifens der triebhafte Wille ist, das ist dabei das Ergreifen.» - «Wie entsteht der Persönlichkeitsglaube[2]?» - «Wenn ein unbelehrter gewöhnlicher Mensch, der die Edlen nicht kennt und der Lehre der Edlen unkundig ist, der keine guten Menschen kennt und der Lehre guter Menschen unkundig ist, die Körperlichkeit für sein Ich hält oder sein Ich für die Körperlichkeit, oder wenn er meint, die Körperlichkeit sei in seinem Ich enthalten oder in der Körperlichkeit sei sein Ich enthalten, wenn er die Empfindung, die Wahrnehmung, die unbewußten gestaltenden Tätigkeiten und das Bewußtsein für sein Ich hält oder sein Ich für empfindend, wahrnehmend, unbewußt gestaltend oder bewußt, wenn er meint, Empfindung, Wahrnehmung, unbewußte gestaltende Tätigkeiten und Bewußtsein seien in seinem Ich enthalten oder in diesen Gruppen sei sein Ich enthalten, dann entsteht der Persönlichkeitsglaube.» - «Und wie entsteht der Persönlichkeitsglaube nicht?» - «Wenn ein wohl belehrter Edeljünger, der die Edlen kennt und der Lehre der Edlen kundig ist, der gute Menschen kennt und der Lehre guter Menschen kundig ist, die Körperlichkeit nicht für sein Ich hält und sein Ich nicht für körperlich, wenn er nicht meint, daß die Körperlichkeit in seinem Ich oder sein Ich in der Körperlichkeit enthalten sei, wenn er die Empfindung, die Wahrnehmung, die unbewußten gestaltenden Tätigkeiten und das Bewußtsein nicht für sein Ich hält und sein Ich nicht für empfindend, wahrnehmend, gestaltend und bewußt hält, wenn er nicht meint, diese Gruppen seien in seinem Ich oder sein Ich in den Gruppen enthalten, dann entsteht der Persönlichkeitsglaube nicht.» - «Welches ist der edle achtfache Weg?» - «Dieses ist der edle achtfache Weg: rechte Einsicht, rechte Gesinnung, rechtes Reden, rechtes Tun, rechter Lebenserwerb, rechtes Bemühen, rechte Andacht, rechte Geistessammlung.»

«Ist der edle achtfache Weg zusammengesetzt oder nicht zusammengesetzt?» - «Er ist zusammengesetzt.» - «Umfaßt der edle achtfache Weg drei Abschnitte oder bilden drei Abschnitte den edlen achtfachen Weg?» - «Der edle achtfache Weg umfaßt nicht drei Abschnitte, sondern drei Abschnitte bilden den edlen achtfachen Weg: rechtes Reden, rechtes Tun und rechter Lebenserwerb sind der Abschnitt der Sittlichkeit, rechtes Bemühen, rechte Andacht und rechte Geistessammlung sind der Abschnitt der Geistessammlung, rechte Einsicht und rechte Gesinnung sind der Abschnitt der Weisheit.»

«Was ist Geistessammlung, welche Vorstellungen gibt es in der Geistessammlung, was ist das Zubehör der Geistessammlung, wie wird die Geistessammlung hervorgebracht?» - «Sammlung des Denkens auf einen einzigen Gegenstand ist Geistessammlung; die vier Achtsamkeitsübungen (Satipatthāna) sind die Vorstellungen in der Geistessammlung; das vierfache rechte Bemühen ist das Zubehör der Geistessammlung; durch Übung, Entfaltung und Pflege dieser Dinge wird die Geistessammlung hervorgebracht.»

«Wie viele Arten gestaltender Tätigkeiten gibt es?» - «Drei Arten: solche, die an den Körper gebunden sind, solche, die dem Reden vorausgehen, und solche, die das Denken begleiten.» - «Welches sind diese drei Arten?» - «Eine körperliche gestaltende Tätigkeit ist das Ein- und Ausatmen; Nachdenken und Überlegen gehen dem Reden voraus; Wahrnehmung und Empfindung begleiten das Denken.» - «Warum ist das so?» - «Weil Ein- und Ausatmen ein körperlicher Vorgang und an den Körper gebunden ist, darum ist es eine körperliche gestaltende Tätigkeit. Weil man zuerst nachdenkt und überlegt, bevor man redet, darum sind Nachdenken und Überlegen gestaltende Tätigkeiten, die dem Reden vorausgehen. Weil Wahrnehmung und Empfindung psychische Vorgänge und an das Denken gebunden sind, darum sind sie gestaltende Tätigkeiten, die das Denken begleiten.»

«Wie gelangt man zum Aufhören von Wahrnehmung und Empfindung?» - «Ein Bhikkhu, der zum Aufhören von Wahrnehmung und Empfindung gelangt, denkt nicht: <Ich werde zum Aufhören von Wahrnehmung und Empfindung gelangen>, oder: <Ich gelange dahin>, oder: <Ich bin dahin gelangt>, sondern weil er vorher seinen Geist dementsprechend geschult hatte, darum bringt er ihn zu diesem Zustande!» - «Was hört bei einem Bhikkhu, der zum Aufhören von Wahrnehmung und Empfindung gelangt ist, zuerst auf: die gestaltenden Tätigkeiten des Körpers oder die des Redens oder die des Denkens?» - «Zuerst hören die gestaltenden Tätigkeiten des Redens (Nachdenken und Überlegen) auf, dann die des Körpers (Atmen) und zuletzt die des Denkens (Wahrnehmung und Empfindung).» - «Wie erhebt man sich wieder aus dem Zustand des Aufhörens von Wahrnehmung und Empfindung?» - «Ein Bhikkhu, der sich aus diesem Zustande erhebt, denkt nicht: <Ich werde mich erheben>, oder: <Ich erhebe mich>, oder: <Ich habe mich erhoben>, sondern weil er vorher seinen Geist so geschult hatte, darum bringt er ihn in diesen Zustand.» - «Was tritt zuerst wieder auf, wenn sich der Bhikkhu aus diesem Zustand wieder erhoben hat: die gestaltenden Tätigkeiten des Körpers oder die des Redens oder die des Denkens?» - «Zuerst tritt die gestaltende Tätigkeit des Denkens wieder auf, dann die des Körpers, zuletzt die des Redens.» - «Wie viele Berührungen treffen ihn dann?» - «Drei Berührungen: die der Leerheit, die des Fehlens von Vorstellungen und die der Wunschfreiheit[3].» Wohin neigt sich das Denken eines Bhikkhus, der sich aus diesem Zustand wieder erhoben hat?» - «Es neigt sich zur Absonderung oder zum Alleinsein».

«Wie viele Arten von Gefühlen gibt es?» - «Drei Arten: Lustgefühl, Unlustgefühl und gleichgültiges Gefühl.» - «Wie ist Lustgefühl, wie ist Unlustgefühl, wie ist gleichgültiges Gefühl?» - «Was körperlich oder geistig als lustvoll und angenehm gefühlt wird, das ist Lustgefühl; was körperlich oder geistig als schmerzhaft und unangenehm gefühlt wird, das ist Unlustgefühl; was körperlich oder geistig weder als lustvoll und angenehm noch als schmerzhaft und unangenehm gefühlt wird, das ist gleichgültiges Gefühl.» - «Was ist bei einem Lustgefühl das Lustvolle und was das Schmerzliche; was ist bei einem Unlustgefühl das Lustvolle und was das Schmerzliche; was ist bei einem gleichgültigen Gefühl das Lustvolle und was das Schmerzliche?» - «Bei einem Lustgefühl ist das Fortbestehen lustvoll und die Veränderung schmerzlich, bei einem Unlustgefühl ist das Fortbestehen schmerzlich und die Veränderung lustvoll; bei einem gleichgültigen Gefühl ist es lustvoll, wenn man es bemerkt, und schmerzlich, wenn man es nicht bemerkt.» - «Wozu neigt man bei Lustgefühl, wozu bei Unlustgefühl, wozu bei gleichgültigem Gefühl?» - «Bei Lustgefühl neigt man zu leidenschaftlichem Begehren, bei Unlustgefühl zu Ablehnung, bei gleichgültigem Gefühl zu Unwissenheit.» - «Ist das bei jedem Gefühl so?» - «Nein, nicht bei jedem.» - «Was muß man bei einem Lustgefühl bekämpfen, was bei einem Unlustgefühl, was bei einem gleichgültigen Gefühl?» - «Bei einem Lustgefühl muß man die Neigung zu leidenschaftlichem Begehren bekämpfen, bei einem Unlustgefühl die Neigung zur Ablehnung, bei einem gleichgültigen Gefühl die Neigung zur Unwissenheit.»

«Muß man das bei jedem Gefühl tun?» - «Nein, nicht bei jedem. Wenn zum Beispiel ein Bhikkhu in der ersten Stufe der Versenkung verweilt, dann hat er dadurch schon leidenschaftliches Begehren aufgegeben; also gibt es dabei keine Neigung zu leidenschaftlichem Begehren. Wenn ein Bhikkhu denkt: <Wann werde ich das Gebiet erreichen, das die Edlen schon jetzt erreicht haben?>, und sie so um die höchste Befreiung beneidet, dann entsteht bei ihm infolge des Neides ein Mißbehagen; damit hat er schon das Ablehnen aufgegeben; also gibt es bei ihm keine Neigung zum Ablehnen. Wenn ein Bhikkhu in der vierten Stufe der Versenkung verweilt, dann hat er dadurch schon Unwissenheit aufgegeben; also gibt es dabei keine Neigung zur Unwissenheit.»

«Was ist das Gegenteil von Lustgefühl?» - «Unlustgefühl.» - «Was ist das Gegenteil von Unlustgefühl?» - «Lustgefühl.» - «Was entspricht[4] dem gleichgültigen Gefühl?» - «Unwissenheit.» - «Was ist das Gegenteil von Unwissenheit?» - «Wissen.» - «Was entspricht dem Wissen?» - «Befreiung oder Erlösung.» - «Was entspricht der Erlösung?» - «Nirwana.» - «Was entspricht oder was ist das Gegenteil von Nirwana?» - «Deine Frage, Bruder Visakha, geht zu weit. Du konntest die Grenze der Fragen nicht einhalten. In das Nirwana mündet der Reinheitswandel, zum Nirwana führt er hinüber, im Nirwana endet er. Wenn du willst, Bruder Visakha, gehe zum Erhabenen, befrage ihn darüber und behalte das, was er dir sagt, im Gedächtnis!»

Befriedigt von der Belehrung der Bhikkhuni Dhammadinna und erfreut stand Visakha auf, verabschiedete sich ehrerbietig, indem er Dhammadinna rechts umwandelte, ging zum Erhabenen und berichtete ihm das ganze Gespräch. Darauf sprach der Erhabene: «Weise ist die Bhikkhuni Dhammadinna, sehr weise. Wenn du mich gefragt hättest, würde ich dir ebenso geantwortet haben wie Dhammadinna. Ihre Erklärungen sind richtig; behalte sie im Gedächtnis!»

So sprach der Erhabene. Mit Freude und Dank nahm Visakha seine Erklärung an.

 

 



[1]Dhammadinna ist seine ehemalige Ehefrau, die in den Orden eingetreten war, während Visakha als Anhänger Buddhas im weltlichen Leben blieb. Daher redet er sie mit ayye an (so sagt z. B. die Magd Kali zu ihrer Herrin) und sie ihn mit avuso, etwa gleich <Bruder>.

[2]Das heißt: der Glaube, daß die Persönlichkeit das Ich sei, der Grundirrtum, aus dem alle Ichsucht und alle Übel entspringen. Persönlichkeit bedeutet hier das Individuum mit allem, was dazugehört, wie Kleidung und Schmuck, Wohnung, Nahrung und aller materielle und ideelle Besitz.

[3]appanihito, die Bedeutung dieses seltenen Wortes ist unsicher.

[4]patibhāga wird hier in zwei Bedeutungen gebraucht: <Gegenteil> und <Gegenstück> oder <Entsprechung>.


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