In früheren Kapiteln haben wir versucht, ein Bild von der Reichweite der Rechten Achtsamkeit zu geben, die sich von der Hilfe in Alltagsaufgaben bis hinauf zum höchsten Ziel der Buddha-Lehre, der Leidbefreiung, erstreckt. Die Achtsamkeit erscheint daher im buddhistischen Schrifttum nicht nur als eine <geistige Fähigkeit> (indriya) von bedeutendem kontrollierendem Einfluß, sondern auch als eine <geistige Kraft> (bala), die, wenn sie voll entwickelt ist, nicht mehr von Gegenkräften erschüttert werden kann (denn dies ist die Definition einer <geistigen Kraft> in der buddhistischen Tradition).
Diese so weit- und tiefreichende Wirkungskraft resultiert schon aus der Übungsphase des Reinen Beobachtens und kommt hauptsächlich aus vier Quellen:
- 1. aus der ordnenden und damit benennenden Funktion des Reinen Beobachtens;
- 2. aus seinem gewaltlosen, zwangfreien Vorgehen;
- 3. aus seiner Fähigkeit des Innehaltens und Stillehaltens;
- 4. aus der sich aus ihr ergebenden Unmittelbarkeit der Anschauung.
Wenn man, ohne vorherige Erfahrung in geistiger Schulung oder Meditation, seinen Blick nach innen richtet und besonders auf die vielen flüchtigen Gedanken und Gefühle, die einen großen Teil der täglichen Geistestätigkeit bilden, so wird sich meist ein wenig erfreuliches Bild bieten: nämlich eine Unordnung und Verworrenheit, wie man sie sicher nicht in seinem Wohnraum dulden würde. Aus der modernen «Bewußtseinsstrom» -Literatur (James Joyce u.a.) mag heute manchem ein ähnliches Bild einer verworren-geschwätzigen Gedankenwelt vertrauter geworden sein; doch oft wohl mehr aus solchen Büchern als aus der Selbstbetrachtung. Denn diese wird noch immer von vielen gescheut, im Glauben, daß jede Innenschau krankhaft, «morbid», sei; aber auch wohl deshalb, weil der sich bietende Anblick dem Selbstgefühl des gerichteten Denkens mit seinen Spitzenleistungen wenig schmeichelhaft ist. Und doch ist eine Konfrontierung mit diesen weniger präsentablen Aspekten unseres Geistes unerläßlich, wenn man die ganze Aufgabe sehen will, die zu leisten ist, und wenn die erstrebte Klärung, Läuterung und Entfaltung des Geistes eine sichere und tiefreichende Grundlage haben soll.
In der Übung des Reinen Beobachtens kann jedoch dieser Blick auf die flüchtigen, fragmentarischen Gedanken und Gefühle frei gehalten werden von dem für das Selbstgefühl peinlichen Ich-bezug. Denn im Reinen Beobachten gibt es keinerlei Ich-Identifizierung mit irgendwelchen Bewußtseinsinhalten, den höheren oder niederen. Sie ziehen am beobachtenden Auge vorbei wie die Passanten einer belebten Straße. Der innere Abstand wird gewahrt, und so wird auch negativen Eindrücken der Stachel entzogen. Eine Gelegenheit für solche Selbstbeobachtung bietet sich z.B. bei Unterbrechung der Hauptübung durch äußere Störungen, schweifende Gedanken usw.; und so können auch diese nutzbar gemacht werden.
Welcher Anblick bietet sich uns nun bei einer solchen Innenschau? Wir bemerken zunächst eine große Anzahl von Sinnenwahrnehmungen wie Seheindrücke, Töne, Gerüche usw., die fast ununterbrochen, gleichsam im Hintergrund, durch unseren Geist ziehen. Die allermeisten sind undeutlich und fragmentarisch und bleiben unbeachtet. Doch manche von ihnen beruhen auf Wahrnehmungstäuschungen oder Fehlurteilen, und die etwas deutlicheren mögen mit vagen Stimmungen und Gefühlen verquickt sein. Uns selber unbewußt, beeinflussen und verfälschen solch ungeprüfte Eindrücke häufig unsere Entscheidungen und Urteile. Gewiß, alle diese Hintergrunds-Eindrücke sollen nicht etwa ständig oder auch nur regelmäßig zu Gegenständen gerichteter Achtsamkeit gemacht werden. Doch wir sollten hin und wieder einen Blick auf sie werfen; denn wenn wir sie ignorieren und sich selber überlassen, können sie die Zuverlässigkeit unserer voll-bewußten Wahrnehmungen und die Klarheit unseres Geistes erheblich beeinträchtigen.
In noch höherem Grade als von den flüchtigen Hintergrunds-Sinneneindrücken gilt dies aber von jenen mehr artikulierten, jedoch noch unausgereiften Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühlen, Absichten usw., die mit unserem zweckgerichteten Denken enger verknüpft sind und es daher stärker beeinflussen. Auch hier begegnen wir einer Fülle von undeutlichen, lückenhaften und fehlerhaften Sinnenwahrnehmungen, von Fehlassoziationen und ungeprüften Vorurteilen des Denkens und Fühlens. Weiterhin werden wir feststellen, wie viele unserer Gedankengänge fragmentarisch bleiben und ein vorzeitiges Ende finden, sei es wegen ihrer Schwäche, wegen mangelnder Konzentration oder wegen Mangels an Bekenntnismut zu ihren Konsequenzen. Ebenso steht es auch mit unserem Gefühls- und Willensleben. Wie viele edlen Gefühle und Absichten kommen nur zu einem kurzen, schwachen Aufflackern, ohne sich in Wille, Tat oder klares Denken umzusetzen!
Tausende von vagen Gedanken und Stimmungen, von momentanen Wünschen und Leidenschaften kreuzen unseren Geist und unterbrechen einander wie unbeherrschte Disputanten, die einander ins Wort fallen. All dies übt in seiner Summierung einen ungünstigen Einfluß aus auf das Gesamt-Bewußtseinsniveau. Wenn solche unklaren und fragmentarischen Geistesfunktionen ungeprüft und mit Fehlurteilen oder Leidenschaften verquickt ins Unterbewußtsein sinken, aus den sie jederzeit hervorbrechen können, so stärken sie verhängnisvoll die Unberechenbarkeit und Unzuverlässigkeit künftiger Entscheidungen und Urteile und damit des Gesamtcharakters. Sie können auch zu unkontrollierten Gewohnheitsbildungen führen, die schwer zu entwurzeln sind.
Die wirkliche Kraft und der Helligkeitsgrad des Gesamtbewußtseins lassen sich nicht beurteilen bloß nach dem begrenzten, vom gerichteten Willen grell beleuchteten Bewußtseinsausschnitt und dessen Spitzenleistungen, sondern ebenso wichtig ist der wachsende oder sich verringernde Umfang jener im Halbdunkel liegenden Bewußtseinsgebiete, von denen wir hier sprachen.
Es ist die tägliche kleine Lässigkeit in Gedanken, Worten und Taten, die Selbstvernachlässigung des Geistes, welche durch viele Lebensjahre und, dem Buddha zufolge, durch viele Lebensläufe hindurch einen Zustand innerer Unordnung und Verworrenheit geschaffen und geduldet hat. Die alten buddhistischen Meister sagten: «Aus Lässigkeit entsteht eine Menge Schmutz, ja ein ganzer Kehrichthaufen. Es ist, wie wenn sich in einem Hause täglich nur ein wenig Schmutz ansammelt; doch wenn er durch Jahre hindurch anwächst, wird es eben ein großer Kehrichthaufen» (Kommentar zum Sutta-Nipāta).
Es sind die unaufgeräumten Ecken unseres Inneren, wo unsere gefährlichsten Feinde hausen und von wo aus sie uns unversehens überfallen und uns nur allzu oft überwältigen. Diese Welt des Halbdunkels bildet einen fruchtbaren Nährboden für Gier und Haß in allen ihren Graden, sowie auch für die dritte und stärkste der drei «Wurzeln allen Übels» (akusala-mūla), die Verblendung, die gleichfalls starke Förderung erhält aus diesen dunklen und verdunkelnden Bereichen.
Alle Versuche, diese drei Hauptbefleckungen des Geistes - Gier, Haß und Verblendung - auszumerzen oder entscheidend zu schwächen, müssen scheitern, solange sie ungestörte Zuflucht und Unterstützung finden in jenen unkontrollierten Bewußtseinsbereichen. Doch wie können wir dem abhelfen? Gewöhnlich versucht man, diese unter- oder halbbewußten Vorgänge zu ignorieren und sich auf die Gegenkräfte des gerichteten Vollbewußtseins zu verlassen. Doch dies reicht nicht tief genug. Um diesen unkontrollierten Strömungen wirksam zu begegnen, muß man sie zunächst durch das Reine Beobachten kennen lernen. Und dieser Akt des Reinen Beobachtens ist auch gleichzeitig ein wirksames Gegenmittel. Denn wo das volle Licht der Achtsamkeit und Besonnenheit hinfällt, können die Zwielichtzustände des Bewußtseins nicht existieren. Das Wirkungsprinzip ist hier die einfache Tatsache, daß zwei Gedanken nicht gleichzeitig bestehen können. Wo achtsames Beobachten einsetzt, da ist kein Raum für einen verworrenen oder unheilsamen Gedanken.
Im ruhigen Beobachten eines komplexen Gebildes heben sich allmählich die einzelnen Komponenten deutlich ab und können in ihrer Eigenart und in ihrem Verhältnis zum Ganzen identifiziert werden; und so gewinnt die Struktur des Gebildes an Klarheit. Ebenso vollzieht auch das Reine Beobachten eine ordnende und klärende Funktion bei jenem wirren Knäuel halbartikulierter Gedanken und Impulse, die sich im Bewußtseinshalbdunkel überschneiden. Die einzelnen Stränge werden dann deutlicher in ihrem Ursprung und ihrem Verlauf und damit zugänglicher dem ordnenden, regulierenden und formenden Bemühen der Geistesschulung.
Während Jahrzehnten des gegenwärtigen Lebens und durch die unausdenkbaren Zeitperioden vergangener Daseinswanderungen hindurch hat sich tief im menschlichen Geist ein eng verknotetes, ja gleichsam verfilztes Gewebe gebildet von instinktiven Reaktionen und geistigen Gewohnheiten, die nicht mehr in Frage gestellt werden. Es sind Einlullungen und Gewohnheiten darunter, die ein organisches inneres Wachstum über einen engen Bezirk hinaus notwendig unterbinden müssen. Hier ist es eben das Reine Beobachten in seiner ordnenden Funktion, das dieses dichte Gewebe auflockert. Es enthüllt dabei die oft nur vorgeschobenen Motive und nachträglichen Rechtfertigungen der Triebe und Vorurteile; es deckt ihre wahren Wurzeln auf, die oft nur in recht oberflächlichen oder abwegigen Gedanken- und Triebassoziationen bestehen. Kraft des Reinen Beobachtens zeigen sich so in diesem scheinbar so unzugänglichen und geschlossenen Gefüge deutliche Lücken, die das Schwert der Weisheit erweitern kann. Dieses Deutlichwerden der inneren Zusammenhänge und damit der Zugänglichkeit, dieses Aufzeigen der Bedingtheit und damit der Veränderlichkeit nimmt jenen Trieben, Vorurteilen und Gewohnheiten, ja sogar der materiellen Welt selber ihre Selbstverständlichkeit. Durch das «Schwergewicht harter Tatsachen» der inneren und äußeren Welt werden viele Menschen so stark beeindruckt, daß sie zögern, sich einer methodischen geistigen Schulung zu unterziehen, an deren Erfolgsmöglichkeit sie zweifeln. Die so einfache Übung des Reinen Beobachtens aber vermag schon nach kurzer Zeit dieses Zaudern und Zweifeln zu zerstreuen und dem Übenden begründete Zuversicht zu geben.
Diese ordnende und regulierende Funktion des Reinen Beobachtens gehört zu jener «Läuterung der Wesen», die die Lehrrede an erster Stelle als Aufgabe und Ergebnis der Achtsamkeitsübung nennt. Hierzu sagt der alte Kommentar: «Es heißt in den Texten: <Geistesbefleckung verunreinigt die Wesen, Geistesklärung läutert sie> (Samyutta Nikāya 22, 100). Solche Geistesklärung kommt durch eben diesen Satipatthāna-Weg zustande.»
Das Benennen. - Das Sondern und Identifizieren in der ordnenden Funktion des Reinen Beobachtens vollzieht sich, wie bei jeder geistigen Tätigkeit, mit einer sprachlichen Formulierung, d.h. als ein Benennen des identifizierten Vorgangs.
Es liegt ein Wahrheitskern in der Wortmagie der so genannten Primitiven: die Dinge bei ihrem rechten Namen nennen, bedeutet, sie zu beherrschen (wenigstens manchmal). Auch in vielen Märchen kehrt das Motiv wieder, wo die Macht eines Dämons gebrochen wird, wenn man ihm mutig entgegentritt und seinen Namen ausspricht.
Eine Bestätigung davon wird der Übende häufig in der registrierenden und benennenden Funktion des Reinen Beobachtens finden. Insbesondere die «Dämonen» des Bewußtseins-Halbdunkels vertragen nicht die einfache, klärende Frage nach ihrem Namen, geschweige denn die Kenntnis dieses Namens; und dies genügt manchmal schon, um ihre Macht zu lähmen. Der ruhige Blick der Achtsamkeit treibt sie aus ihren Ecken und Verstecken in die gefürchtete Bewußtseinshelle, in der sie ihre Selbstsicherheit und viel von ihrer Kraft verlieren. Obwohl in dieser Phase der Übung noch gar nicht «in Frage gestellt», sondern nur bemerkt und benannt, so glauben sie doch, sich «verantworten» zu müssen; und damit ist schon viel gewonnen.
Wenn unerwünschte oder unedle Gedanken auftauchen, und seien sie auch nur flüchtig und halbartikuliert, so ist dies für das Selbstgefühl nicht gerade angenehm. Daher werden solche Gedanken oft nicht einmal bei ihrem rechten Namen genannt, sondern ohne Prüfung und ohne Widerstand beiseite geschoben. Manchmal verbirgt man auch ihren rechten Namen, d.h. ihre wahre Natur, mit vorgeschobenen Begründungen und Rechtfertigungen, um sie so «respektabel» zu machen. Wenn man sich ihrer immer wieder in dieser Weise entledigt, so wird sich bei solcher Akkumulierung die unterbewußte Druckkraft jener unedlen Tendenzen notwendig verstärken. Auf der anderen Seite wird der Wille zum Widerstand gegen sie geschwächt; die Neigung, moralischen Entscheidungen auszuweichen, wird zunehmen, und die geistig-sittliche Selbstbeurteilung wird immer trügerischer. Gewöhnt man sich aber daran, solche flüchtigen unheilsamen Gedanken oder Gedankenansätze zu bemerken und sie ausdrücklich zu benennen, so wird man sich zunehmend jener beiden Ausweichmethoden des Ignorierens und Beschönigens entwöhnen und sich ohne parteiische Auswahl der Gesamtheit der eigenen Geistesvorgänge gegenüberstellen.
Eine solche Konfrontierung wird den inneren Widerstand gegen unheilsame Tendenzen und verworren-unklare Geisteszustände wecken und stärken. Auch wenn man ihrer nicht gänzlich Herr wird, so werden sie doch bei ihrem Widerauftreten schwächer sein, wenn sich den Eindruck, d.i. die Erinnerung, eines Widerstandes mit sich tragen. Sie werden sich nicht mehr als unangefochtene Meister fühlen, und es wird dann leichter sein, ihnen zu begegnen. Es ist die Kraft des Schamgefühls, die man hier als Bundesgenossen gewinnt, und da hinter ihr der Selbstrespekt steht, ist diese Kraft des Schamgefühls wahrlich nicht gering, wenn man sie recht zu nutzen weiß. So erweist sich das «Benennen» als ein einfaches, aber psychologisch subtiles Hilfsmittel der Charakterbildung.
Das Konstatieren und Benennen soll man natürlich auch auf die guten und förderlichen Gedanken und Impulse richten, die dadurch ermutigt und gestärkt werden. Ohne diese Aufmerksamkeit mögen viele Ansätze zum Guten unbemerkt und ungenutzt verloren gehen.
Rechte Achtsamkeit ermöglicht es, alle äußeren Geschehnisse und inneren Vorgänge für den eigenen Fortschritt zu verwerten. Selbst Unheilsames kann als Einsatzpunkt für die Entstehung von Heilsamem dienen, wenn es durch Konstatieren und Benennen in ein Beobachtungs- und Erkenntnisobjekt verwandelt wird, was allein schon eine innere Distanzierung vom Unheilsamen bedeutet.
In der Lehrrede sind die Methoden des Konstatierens und Benennens nicht weniger als viermal angedeutet, und zwar durch den Gebrauch der direkten Rede innerhalb des Textes:
Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß das Ordnen und Benennen der geistigen Vorgänge eine unerläßliche Vorbereitung ist für jene Einsicht in ihre wahre Beschaffenheit, welche die Aufgabe des Klarblicks (vipassanā) ist. Diese beiden Funktionen helfen nämlich, die Illusion der Einheitlichkeit, Kompaktheit und Substanzhaftigkeit der einzelnen Bewußtseinsvorgänge aufzulösen, die Eigenart und Begrenztheit ihrer jeweiligen Funktionsweise zu erkennen und ihr momentanes Entstehen und Vergehen klar zu erfassen.
Die Welt, in der wir leben, - unsere Umwelt und unsere Innenwelt - ist voll von unliebsamen Eindrücken, Fehlschlägen und Konflikten. Aus eigener bitterer Erfahrung weiß der Mensch, daß er nicht stark genug ist, jeder einzelnen der inneren und äußeren Gegenkräfte in offenem Kampfe zu begegnen und sie zu besiegen. Er weiß, daß er in seiner Umwelt nicht alles so haben kann, wie er es gern möchte, und daß in der Innenwelt seines Geistes Triebe und Leidenschaften, Launen und Fantasien nur allzu häufig siegreich sind über die Stimmen von Vernunft, Pflichtbewußtsein und höheren Idealen. Die Erfahrung lehrt ihn auch, daß eine unerwünschte Situation sich häufig verschlechtert, wenn ein übermäßiger Druck gegen sie angewandt wird. Leidenschaften verstärken sich durch den Versuch gewaltsamer Unterdrückung; ein Streit erhält durch hartnäckige Widerrede immer wieder neue Nahrung; und Störungen erhalten durch Ärger über sie nur ein verstärktes Gewicht und längere Wirkungsdauer.
Immer wieder wird also der Mensch vor Situationen stehen, wo er nicht erzwingen kann, was er wünscht. Doch es gibt Wege, auf denen sich die Widerstände um und in uns ohne Zwang, durch gewaltlose Mittel, überwinden lassen. Sie haben oft Erfolg, wo gewaltsames Vorgehen versagt. Solch ein Weg zwangfreier Lebensmeisterung und Geistesschulung ist Satipatthāna, der Weg rechter Achtsamkeit. In der methodischen Anwendung des Reinen Beobachtens und auch des wissensklaren Handelns (s.S. * f.) werden sich allmählich die ungenutzten Möglichkeiten einer zwangfreien Lebens- und Geisteshaltung voll entfalten und ihre überraschend weitreichenden, segensreichen Auswirkungen offenbaren. Hier, in diesem Zusammenhang sind wir freilich hauptsächlich befaßt mit der Auswirkung auf die Geistesschulung und den Fortschritt in der Meditation. Doch es wird für den Leser nicht schwierig sein, die Anwendung auf andere Lebensgebiete selber zu finden.
Die Widerstände, die sich während meditativer Übungen zeigen und sie behindern, sind hauptsächlich dreifacher Art:
Das Auftreten solcher Ablenkungen ist, neben der Schlaffheit, die hauptsächliche Anfangsschwierigkeit bei Meditationsversuchen. Selbst solche Meditierende, die über alle theoretischen Einzelheiten des gewählten Meditationsobjektes gut unterrichtet sind, haben oft keine Kenntnis davon, wie man jenen Störungen wirksam begegnet. Derart unvorbereitet, werden sie sich gegen die auftretenden Störungen nur in einer undurchdachten, unbeholfenen und unwirksamen Weise wehren können. Zuerst wird der Unerfahrene versuchen, die Störungen leichthin abzuschütteln, und wenn dies nicht gelingt, sie durch Willensanstrengung gewaltsam zu unterdrücken. Doch auch dies wird meist mißlingen. Denn besonders die inneren Störungen sind wie lästige Fliegen, die trotz armefuchtelnden Wegscheuchens nach kurzer Zeit wiederkehren. Solch gewaltsames Wegscheuchen hinterläßt dann im Meditierenden ein Gefühl gereizter Hilflosigkeit und innerer Unruhe, das ein zusätzliches Meditationshindernis bildet. Wenn sich dies während derselben Meditationsstunde mehrmals wiederholt, so mag es den Meditierenden veranlassen, für dieses Mal die Übung abzubrechen. Und wenn er auch bei weiteren Meditationssitzungen die gleiche Erfahrung macht, so wird er entmutigt werden und schließlich geneigt sein, vorschnell jede weitere meditative Bemühung aufzugeben, indem er sich für unbefähigt hält oder gar an der Methode und ihrem Ziel zweifelt.
Wie für den Erfolg im praktischen Leben, ist es daher auch für den meditativen Erfolg entscheidend, in welcher Weise man sich mit den Anfangsschwierigkeiten auseinandersetzt und ob man sie bewältigen kann.
Trefflich sagt ein altchinesisches Weisheitsbuch, das I-Ging, «daß in dem Chaos der Anfangsschwierigkeit die Ordnung schon angelegt ist. So muß der Edle in solchen Anfangszeiten die unübersichtliche Fülle gliedern und ordnen, wie man Seidenfäden aus einem Knäuel auseinander liest und sie zu Strängen verbindet... Wenn man zu Anfang einer Unternehmung auf Hemmung stößt, so darf man den Fortschritt nicht erzwingen wollen, sondern muß vorsichtig innehalten. Aber man darf sich nicht irre machen lassen, sondern muß dauernd und beharrlich sein Ziel im Auge behalten.»
Das beste sowohl faktische wie psychologische Gegenmittel gegen die Anfangsschwierigkeit ist naturgemäß der Anfangserfolg. Solchen Anfangserfolg ermöglicht der zwangfreie Übungsweg des reinen Beobachtens, dem jedes sich bietende Objekt recht ist, da mit jedem Objekt (selbst der Konstatierung der eigenen Unruhe) förderliche Ergebnisse erzielt werden können, die unmittelbare Befriedigung gewähren. Dies wird den Übenden ermutigen und ihm einen Einsatzpunkt für weiteren Fortschritt geben.
Es ist freilich zu spät, wenn man sich mit jenen Störungen erst dann auseinandersetzt, wenn sie sich während der Meditation einstellen. Man muß sich vorher auf sie innerlich vorbereitet haben und die Abwehrmittel kennen.
In der Bewältigung von Meditationsstörungen muß man mit der rechten geistigen Einstellung beginnen. Zunächst muß man es einsehen und nüchtern akzeptieren, daß die erwähnten drei Störungselemente Mitbewohner der Welt sind, in der wir leben. Unsere Mißbilligung wird daran nichts ändern. Wir werden bereit sein müssen, mit einigen dieser Störenfriede Kompromisse zu schließen, und bei anderen werden wir lernen müssen, sie umsichtig und wirksam zu behandeln. Bei rechter geistiger Haltung wird die Einstellung gegenüber den Störungen gelockerter sein und sich vom Ressentiment - dieser zusätzlichen Störung - allmählich frei machen.
1. Da der Meditierende nicht der einzige Bewohner dieser dicht bevölkerten Welt ist, lassen sich äußere Störungen wie Lärm und Geräusch, Unterbrechung durch Besucher usw. nicht immer und gänzlich, ausschalten. Wir werden sie natürlich zu vermeiden oder abzustellen suchen, doch Unwille über sie wäre eine falsche und nutzlose Reaktion und, wie wir sagten, eine zusätzliche Störung. Wir können nicht stets auf «elfenbeinernen Türmen», hoch über der lärmenden Menge, in künstlicher Absonderung leben, und der Sinn rechter Meditation ist es keineswegs, zeitweilige Schlupflöcher der Weltvergessenheit zu bieten. Realistische Meditation hat vielmehr die Aufgabe, innerhalb dieser gegebenen Welt den Geist des Menschen zu festigen, zu läutern und in seinen Möglichkeiten zu entfalten, damit er fähig werde, mit eben dieser Welt konfrontiert zu werden, sie zu verstehen, sie innerlich zu meistern und sie schließlich zu transzendieren. Und zu dieser unserer Welt gehören eben auch all die mannigfachen äußeren Störungen, die sich durch unsere städtische Zivilisation so sehr vermehrt haben. Es ist daher unerläßlich, daß wir die Auseinandersetzung mit ihnen in die Geistesschulung einbeziehen.
2. Ein Satipatthāna-Meister Burmas, der ehrw. Mahasi Sayado, sagte: Bei einem unerlösten Weltmenschen ist es unvermeidlich, daß Befleckungen des Geistes (moralische oder solche der Funktionsweise) immer wieder auftauchen. Man muß sie konstatieren und gut kennen, damit man das geeignete Gegenmittel aus dem Bereich des Satipatthāna auf sie anwenden kann. Wenn man die Befleckungen in solcher Weise ins Auge faßt, so werden sie oft schon dadurch schwächer und kurzlebiger, und es wird leichter sein, sie gänzlich zu überwinden. Die Befleckungen des eigenen Geistes und die Umstände ihres Auftretens zu kennen, ist daher für den Übenden ebenso wichtig wie die Kenntnis seiner guten Gedanken. So können selbst unsere Schwächen zu unseren Lehrmeistern werden. Daher sei man weder beschämt, noch entmutigt, wenn man ihnen begegnet.
3. Die dritte Gruppe von unerwünschten Eindringlingen sind die Tagträume und schweifenden Gedanken mannigfacher Art Tagträume können bestehen aus Erinnerungsbildern der nahen oder fernen Vergangenheit, darunter solche, die aus dem Unterbewußtsein auftauchen; Zukunftsgedanken, wie Planen, Fantasieren, Fürchten und Hoffen. Auch flüchtige Wahrnehmungen während der Meditationszeit können vom Tagträumen endlos weitergesponnen werden. Sobald Achtsamkeit und Konzentration nachlassen, stellen sich gewöhnlich sofort die schweifenden Gedanken und Tagträume ein und füllen das entstandene geistige Vakuum. Obwohl, einzeln betrachtet, schwach und unscheinbar, sind sie doch durch die Häufigkeit und Beharrlichkeit ihres Auftretens ein beträchtliches Hindernis in der Meditation; und nicht nur für den Anfänger, sondern auch stets, wenn der Geist unruhig, zerstreut oder lethargisch ist. Obwohl sie erst dann völlig schwinden, wenn mit erreichter Heiligkeit (arahatta) unfehlbare Achtsamkeit das Tor des Geistes bewacht, so kann doch eine weitgehende Kontrolle über die schweifenden Gedanken erzielt werden, selbst für längere Meditationsperioden.
All diesen vorerwähnten Tatsachen muß volles Gewicht beigemessen werden, wenn sie unsere innere Haltung gegenüber den Meditationsstörungen bestimmen sollen. Durch eine solche vorherige realistische Betrachtung wird man besser vorbereitet sein, wenn diese Störungen während der Meditation auftreten. Es gibt dann drei Methoden, ihnen zu begegnen, die nacheinander anzuwenden sind, d.h. wenn die jeweils vorhergehende Methode erfolglos geblieben ist. Diese drei Methoden sind Anwendungsweisen des Reinen Beobachtens, die sich im Stärkegrad der Achtsamkeit unterscheiden, welche man der Störung widmet. Die grundlegende Verhaltensregel ist hier: der Störung nicht mehr Aufmerksamkeit zu schenken und Gewicht beizumessen, als es die Umstände erfordern.
1. Zunächst konstatiere man die Störung kurz und leichthin, ohne ihr Nachdruck zu geben und ohne sich mit den Einzelheiten zu befassen. Danach richte man die Achtsamkeit sofort wieder auf das meditative Betrachtungsobjekt, und diese Rückwendung mag recht wohl gelingen, wenn die Störung schwach war oder die von ihr unterbrochene Konzentration stark genug. In diesem Stadium ist es besonders wichtig, daß man sich mit der Störung nicht in ein «Gespräch» oder gar ein Argumentieren einläßt. Wenn man dies vermeidet, wird man dem störenden Eindringling keinen zusätzlichen Grund geben, sich lange aufzuhalten. In einer guten Anzahl von Fällen wird dann die Störung bald schwinden, wie ein Besucher, der keinen warmen Empfang erhält. Solch kurzes Entlassen einer Störung wird es oft möglich machen, ohne Beeinträchtigung der inneren Ruhe zum Meditationsobjekt zurückzukehren. Das zwangfreie Gegenmittel ist hier, der Störung nur ein Mindestmaß ruhiger und rein sachlicher Aufmerksamkeit zu schenken.
2. Wenn aber die Störung andauert, so soll man eben die gleiche Methode der knappen Konstatierung immer wieder geduldig anwenden. Es mag dann sein, daß die Störung aufhört, wenn sie ihre Kraft erschöpft hat oder ihr natürliches Ende findet. Die Geisteshaltung ist hier, einer anhaltenden Störung unentwegt mit einem entschiedenen und wiederholten «Nein» zu begegnen, mit der stillen, aber festen Weigerung, sich ablenken oder irritieren zu lassen. Es ist die Haltung der Geduld und Festigkeit. Die Fähigkeit wachsamen Beobachtens muß hier unterstützt werden durch die Fähigkeit, ruhig zu warten und seinen Standort nicht aufzugeben.
Diese beiden letztgenannten Methoden werden im allgemeinen erfolgreich sein gegenüber schweifenden Gedanken und Tagträumen, die schwach sind und es bleiben, wenn sie durch Zuwendung der Achtsamkeit isoliert werden. Doch auch bei den beiden anderen Störungstypen, den äußeren und den geistigen Befleckungen, wird man häufig Erfolg haben.
3. Wenn aber, aus irgendwelchem Grunde, die jeweilige Störung trotzdem nicht weicht, so soll man ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken und sie als Achtsamkeits- und Erkenntnisobjekt akzeptieren und auswerten. Dadurch wird eine Meditations-Störung zu einem legitimen Meditations-Objekt, und was ursprünglich hemmte, wird nun ein Förderungsmittel. Dieses neue Objekt möge man beibehalten, bis die äußere oder innere Veranlassung, es aufzunehmen, geschwunden ist oder schwächer wurde; dann kehre man zum ursprünglichen Meditationsobjekt zurück. Wenn aber das neue Objekt - die nicht mehr störende «Störung» - sich als ergiebig erweist, so möge man es während dieser Meditationssitzung beibehalten.
Wird man zum Beispiel durch ein anhaltendes Hundegebell gestört, so schenke man ihm seine ungeteilte Aufmerksamkeit, beschränke sie aber auf den Ton und unterscheide diese Hörwahrnehmung von der eigenen impulsiven Reaktion darauf, z.B. Ärger. Wenn aber Ärger oder mit dem Hundegebell assoziierte schweifende Gedanken bereits aufgetreten sind, so sollen sie in ihrer Beschaffenheit kurz konstatiert und aus dem Geist entlassen werden.
Auch hierbei bleibt man im Rahmen der Satipatthāna-Übung, nämlich der «Betrachtung der Geistobjekte», im Sinne der folgenden Textstelle: «Er kennt das Ohr und die Töne, sowie die Fessel (hier der Ärger), die durch beide bedingt entsteht».
Beim ersten Auftreten wird wohl das Gebell unmittelbar mit der Vorstellung oder dem Begriff «Hund» assoziiert werden. Doch sobald man das Reine Beobachten darauf gerichtet hat, entlasse man die Vorstellung «Hund» und konzentriere sich ausschließlich auf den reinen Ton. In dessen Ansteigen und Fallen wird man, ähnlich wie bei der Ein- und Ausatmung, das Entstehen und Vergehen (udayabbaya) eines körperlichen Vorgangs klar unterscheiden können und dadurch im anschaulichen Verständnis des Daseinsmerkmals der Vergänglichkeit gefördert werden.
Eine ähnliche Haltung nehme man ein gegenüber geistigen Befleckungen wie Begehrlichkeit, Ärger, Unruhe, Zerstreutheit usw. Man betrachte sie klar und ruhig, mit innerer Distanz. Man unterscheide ihr erstes Auftreten von ihrer Wiederholung sowie von der Reaktion auf sie, durch Willfährigkeit, Unzufriedenheit, Gereiztheit usw. Damit macht man Gebrauch von der Wirkungskraft des Benennens und deutlichen Konstatierens. In den wiederkehrenden Wellen solch unerwünschter Geisteszustände wird man allmählich Gradunterschiede von «stärker» oder «schwächer» unterscheiden lernen und wird bei der Entstehungs- und Ablaufsweise der Befleckungen auch noch andere nützliche Beobachtungen machen können. Selbst wenn diese innere Distanzierung von den eigenen Befleckungen nur zeit- und teilweise gelingt, so wird dies doch zu ihrer Schwächung beitragen.
Diese Übung fällt unter die «Betrachtung des Geisteszustandes» (cittānupassanā) und der «Geistobjekte» (dhammānupassanā, z. B. der Hemmungen).
Diese ebenso einfache wie wirksame Verwandlung von negativen Erfahrungen, nämlich Störungen und unerwünschten Geisteszuständen, in Meditationsgegenstände und Erkenntnishilfen mag als der Höhepunkt zwangfreier Wirkungskraft betrachtet werden. Diese Methode, alle Erfahrungen als Hilfen auf dem Pfade zur inneren Läuterung und Leidbefreiung zu benutzen, ist charakteristisch für den Geist der Satipatthāna-Übung. Widersacher werden hier zu Freunden. Denn jene negativen Erfahrungen sind unsere Lehrer geworden, und Lehrer, wie auch immer geartet, sollten als Freunde gelten.
Wir wollen es nicht unterlassen, hier aus einem bemerkenswerten kleinen Buch einer englischen Schriftstellerin zu zitieren, «Der kleine Schlosser» («The Little Locksmith») von Katharine Butler Hathaway:
«Ich bin entsetzt über die Unwissenheit und Verschwendungssucht, mit der Menschen, die es besser wissen sollten, Dinge, die ihnen nicht zusagen, einfach fortwerfen. Sie werfen Erfahrungen fort, Menschen, Ehen, Lebenssituationen und vieles andere, bloß weil sie es nicht mögen. Wenn du ein Ding fortwirfst, so ist es aus damit. Anstelle von etwas, das du hattest, hast du nun gar nichts. Deine Hände sind leer, sie haben nichts, das sie in Arbeit nehmen können. Doch fast alle diese Dinge, die man voreilig wegwirft, kann man mit ein wenig Magie in ihr gerades Gegenteil verwandeln.... Doch die meisten Menschen denken nicht daran, daß in fast jeder schlechten Lage eine Möglichkeit der Verwandlung besteht, durch die Unerwünschtes in Erwünschtes geändert werden kann.»
Eine solche magische Kraft hat Satipatthāna.
Wie wir bereits sagten, kann man die drei Störungsarten nicht immer vermeiden oder ausschließen. Sie gehören zur Welt, in der wir leben, und ihr Kommen und Gehen unterliegt zu einem guten Teil ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit, unabhängig von unserer Billigung oder Mißbilligung. Doch durch das Reine Beobachten können wir verhindern, daß diese Störungen uns überwältigen und uns von unserem inneren Standort verdrängen. Wenn wir unseren Stand auf dem sicheren Boden rechter Achtsamkeit nehmen, wiederholen wir in einem recht bescheidenen Maße, doch in wesentlich gleicher Weise, jene historische Situation unter dem Baume der Erleuchtung, als Māra, der Widersacher, vergeblich versuchte, den Asketen Gotama von jener Stätte zu verdrängen. Im Vertrauen auf die Kraft der Achtsamkeit können auch wir zuversichtlich jene Worte wiederholen, die der Buddha kurz vor seiner Erleuchtung sprach: «Nicht soll (Māra) mich von diesem Platze verdrängen!» (Padhāna-Sutta, Sutta-Nipāta).
Unser unverlierbarer Vorteil in der Auseinandersetzung mit unerwünschten Gedanken ist der einfache Umstand, daß immer nur ein einziger Gedanke im genau gleichen Moment existieren kann und nicht etwa zwei Bewußtseinsmomente gleichzeitig. Solange also das Reine Beobachten währt, kann keine Störung, kein unheilsamer Gedanke bestehen. Wenn wir uns also daran gewöhnt haben, das Reine Beobachten immer wieder in eine Folge unerwünschter Eindrücke oder eine Reihe unheilsamer Gedanken einzuschalten, so gewinnen wir allmählich festen Boden unter unseren Füßen, so daß wir nicht mehr so leicht von jenen Strömungen fortgeschwemmt werden. Wenn wir an diesem sicheren Grund in unserem Inneren, dem potentiellen «Sitz der Erleuchtung», festhalten und ihn weiter ausbauen, so können wir ihn schließlich gegen alle feindlichen Anstürme und falschen Ansprüche verteidigen.
Für eine volle Entfaltung der geistigen Fähigkeiten des Menschen bedarf es der Mitwirkung und des Gleichgewichtes von zwei einander ergänzenden Kräften, der aktivierenden und der zügelnden. Der Buddha, als ein tiefblickender Seelenkenner, hatte diese Notwendigkeit erkannt und ihr Ausdruck gegeben in seiner Lehre vom «Gleichgewicht der (fünf) geistigen Fähigkeiten» (indriya samatta). In unserem Zusammenhang ist es dabei wichtig, daß die Fähigkeit der Energie (viriyindriya) und die der Geistessammlung (oder Ruhe; samādhindriya) gleichmäßig stark entwickelt werden. Ferner wird von den sieben Erleuchtungsgliedern die Entwicklung von dreien zum Anspornen (Aktivieren) des Geistes empfohlen und von anderen dreien zu seiner Beruhigung. In beiden Fällen, bei den geistigen Fähigkeiten und den Erleuchtungsgliedern, ist es die Achtsamkeit, die nicht nur über deren Gleichmaß zu wachen hat, sondern auch tätig die Stärkung sowohl der aktivierenden wie auch der zügelnd-beruhigenden Kräfte fördert.
Achtsamkeit, obwohl scheinbar von rein passiver Natur, ist doch auch ein beträchtlicher aktivierender Faktor. Denn Achtsamkeit erzieht zu einer Wachsamkeit und Regsamkeit, zu einer Aktions- und Reaktionsbereitschaft des Geistes, die unerläßlich sind für jegliches zweckgerichtete Handeln. Im gegenwärtigen Zusammenhang sind wir jedoch hauptsächlich an der zügelnden Funktion der Achtsamkeit interessiert und wollen nun untersuchen, wie diese Funktion den Aufgaben der Schulung und der Befreiung des Geistes hilft.
Das Reine Beobachten ermöglicht ein Innehalten und Stillehalten des Geistes, das so wichtig und wohltuend ist inmitten des ungestümen Drängens (in uns und um uns) zu vorschnellem Handeln, Eingreifen, Beurteilen und Bewerten. Es verleiht die Fähigkeit, Handlungen und Urteile hintanzusetzen, bis genaue Beobachtung der Tatsachen und weises Nachdenken gezeigt haben, ob Dinge, Situationen oder Menschen wirklich so sind, wie sie erscheinen oder vorgeben. Das Reine Beobachten bewirkt ein heilsames Verlangsamen in der Impulsivität des Denkens, Fühlens, Redens und Handelns. Es lehrt, «die abschließenden Impulse in die Gewalt zu bekommen» (Nietzsche) und Verwicklungen durch unnötiges Einmischen zu vermeiden.
Chinesische Weisheit sagt hierzu:
- «Unter allem, was die Dinge endet und die Dinge anfängt,
- gibt es nichts Herrlicheres als das Stillehalten.»
- Schu Gua, ein alter Kommentar zum I-Ging,
- übersetzt von Richard Wilhelm
Im Lichte der Buddha-Lehre besteht das wahre «Enden der Dinge» im Enden der Wiedergeburten durch die Wahnerlöschung, dem Nibbāna, das auch bezeichnet wird als «Stillung der Gestaltungen», oder der Daseinsgebilde (sankhārānam vūpasamo). Dies ist das höchste und vollkommene Innehalten. Das Ende der Gestaltungen aber geschieht durch das Ende des Gestaltens, das Ende der Gebilde durch das Ende des Bildens, das Ende der Dinge durch das Ende des Verdinglichens. Mit Gestalten, Bilden und Verdinglichen meinen wir hier das weltbejahende, weltenbauende karmische Wirken. Die Stillung dieses karmischen Wollens und Wirkens ist das «Ende der Dinge», das Ende des Leidens. Es ist jenes «Ende der Welt», das dem Buddha zufolge nicht durch Wandern (auch nicht durch Raumfahrten) zu erreichen, sondern nur in uns selber zu finden ist.
Dieses Ende der Leidenswelt kündet sich uns an in jedem Akt des achtsamen Innehaltens, als einem Innehalten im Anhäufen von Kamma (kammāyūhana), im Aufschichten (ācaya-gāmi) und Aneinanderreihen von flüchtigen Gestaltungen, im Bauen vergänglicher Welten. Doch auch, wer diesem letzten Ziele nicht nachstrebt, wird im innehaltenden und stillehaltenden Reinen Beobachten viele unheilsame Dinge zu ihrem Ende bringen, und viel mehr noch wird er gar nicht entstehen lassen, darunter jene Dinge, die durch blindes Eingreifen und Einmischen entstehen und unabsehbare Gefahren und Verwicklungen mit sich bringen.
«Wer einzugreifen hat gelassen, der sieht sich überall in Sicherheit.»
Sutta Nipāta Vers 953
«Wer Einhalt zu tun weiß, kommt nicht in Gefahr.»
Taoteking Kap. 44
Es wurde ferner gesagt, daß es auch unter all dem, «was die Dinge anfängt», nichts Vorzüglicheres gibt als das Stillehalten. Im buddhistischen Sinne sind die Dinge, die das Inne- oder Stille halten wirksam anfängt, die zum Abschichten karmischer Bindung führenden Dinge (apacayagāmino dhammā), welche durch den Achtfachen Pfad, die Vierte Edle Wahrheit, entwickelt werden. Die acht Pfadglieder werden traditionsgemäß in drei Gruppen eingeteilt: Sittlichkeit, Sammlung (Geistesruhe) und Weisheit (Klarblick). Dieser Dreiteilung folgend, wollen wir nun zeigen, wie alle diese Eigenschaften entscheidende Hilfe von der innehaltenden Achtsamkeit erhalten.
Im Bemühen um sittliche Läuterung und Selbsterziehung ist es nur in Ausnahmefällen geraten, direkt mit jenen Charakterschwächen zu beginnen, die tiefe Wurzeln in alten Gewohnheiten oder starken Leidenschaften haben. Verfrühte Versuche, diese mit unzulänglichen Mitteln zu bekämpfen, werden allzu oft in entmutigenden Niederlagen enden. Erfolgversprechender ist es daher, sich zuerst jenen Schwächen in der Handlungs- und Redeweise, sowie solchen Fehlurteilen und Vorurteilen zuzuwenden, die durch Unüberlegtheit und Voreiligkeit verursacht sind; und deren gibt es viele. Wie oft geschieht es, daß ein einziger Moment der Überlegung einen falschen Schritt hätte verhindern können, der eine lange Kette schwerwiegender Folgen haben mag. Es ist die Übung im Reinen Beobachten, durch die wir das rechtzeitige Innehalten lernen können, und zwar zuerst in einfachen Situationen unserer Wahl, wo es uns leichter fällt. Viele von den Störungen und Eindrücken während der Meditationszeit sind von so belangloser Art, daß sie nicht in Konflikt mit unseren stärksten üblen Gewohnheiten und Einstellungen kommen; und ebensolche leichteren Fälle kann man auch aus dem Alltagsleben wählen. An ihnen kann man es dann leichter lernen, jede andere Reaktion als das reine Konstatieren des Vorgangs zu vermeiden oder bis zu gründlicher Prüfung zu verschieben. Hat man so mit dem beobachtenden Innehalten in einfacheren Fällen begonnen und diese Fähigkeit durch Übung gestärkt, so wird es zunehmend besser gelingen, das Innehalten auch dann einzuschalten, wenn man überrascht, provoziert oder in Versuchung geführt wird. In gleicher Weise wird es dann schließlich auch gelingen, alte üble Gewohnheiten und triebhafte Leidenschaften zuerst zu schwächen und dann zu brechen. Denn wenn diese spontanen oder impulsiven Abläufe an irgendeinem Punkt durch das innehaltende Beobachten unterbrochen werden, so verlieren sie schon dadurch viel von ihrer Kraft und ihren unheilsamen Folgen.
Wenn wir zum Beispiel irgendeinen schönen Gegenstand sehen, der uns anzieht, so mag der dabei empfundene Wunsch danach zuerst noch nicht sehr aktiv und gebieterisch sein. Wenn nun schon hier das beobachtende Innehalten einsetzen kann, so mag dieser schwache Wunsch widerstandslos schwinden und bald vergessen sein; oder man wird das Element der Anziehung in ein stilles ästhetisches Gefallen sublimieren können. Im Rahmen der Achtsamkeitsübung wird man an diesem Punkt fähig sein, jenen Eindruck unmittelbar als eine von angenehmem Gefühl begleitete Sehwahrnehmung zu registrieren und zu neutralisieren. Wenn es aber an diesem frühen Punkt noch nicht zum Innehalten kommt und man den anziehenden Gegenstand immer wieder mit begehrlichem Auge betrachtet, so wird der anfänglich schwache Wunsch zu starkem Begehren anwachsen. Kann man nun hier die Zügel anziehen und dem beobachtenden Innehalten Raum geben, so wird man es verhindern können, daß jenes starke Verlangen in ungestüm fordernden Worten Ausdruck findet. Doch wenn es zu solchen Worten kommt, so mag die Zurückweisung durch den anderen neue Verwicklungen bringen: innerlich durch Enttäuschung, Bitterkeit oder gar Haßgefühl, äußerlich durch heftigen Streit.
Aber selbst ein Innehalten in diesem späten Stadium mag noch Schlimmeres verhüten: etwa den Versuch, sich fremden Besitz heimlich oder gewaltsam anzueignen. Und selbst nach ausgeführter unheilsamer Handlung wird ein besinnendes Innehalten verhindern, daß sich die üble Geisteseinstellung wiederholt und als Charakterzug verhärtet.
So vermag das Innehalten die Tore zu unheilvollen Entwicklungen zu schließen. Ob dies früher oder später geschieht, wird vom erreichten Grad der Achtsamkeit abhängen, zu deren Entfaltung diese Schulung dient.
Das Innehalten beim Reinen Beobachten hilft auch zur Gewinnung meditativer Geistessammlung und fördert im allgemeinen den inneren Frieden und die Ruhe des Geistes.
Die Gewöhnung an beobachtendes Inne- und Stillehalten befähigt den Geist, sich aus einem allzu lärmend und anspruchsvoll gewordenen äußeren Geschehen in die eigene Stille zurückzuziehen, wann immer es ratsam oder erwünscht ist. Man wird dabei lernen, daß es keineswegs nötig ist, auf jeden Reiz oder Eindruck zu reagieren oder jede Begegnung mit Menschen, Situationen oder Ideen als eine Aufforderung zu aktiver Stellungnahme zu betrachten. Wenn man unnötiges Eingreifen und überflüssige Geschäftigkeit reduziert hat und wenn auch das eigene Reden und Handeln durch vorheriges prüfendes Innehalten ruhiger und besonnener geworden ist, so werden sich äußere Reibungen mit der Umwelt und damit innere Spannungen verringern. Das Alltagsleben wird eine größere Harmonie gewinnen, und die manchmal beträchtliche Kluft zwischen dem unruhigen Alltagsbewußtsein und der für die Meditation erforderlichen Geistesruhe wird kleiner werden. Weniger Unruheschwingungen, gröbere oder feinere, werden dann in die Meditationsstunden eindringen und die «Hemmung der Unruhe» (uddhacca-samyojana), ein Haupthindernis der Konzentration, wird seltener auftreten und leichter überwindbar sein.
Regelmäßige Hinlenkung des Reinen Beobachtens auf kontinuierliche Ablaufreihen innerer und äußerer Vorgänge wird die Fähigkeit des Geistes fördern, sich in der Meditation auf ein einziges Objekt zu konzentrieren. Auch der Festigkeit und Stetigkeit des Geistes wird die regelmäßige Achtsamkeitsübung dienlich sein.
So werden durch das Innehalten und Stillehalten beim Reinen Beobachten die folgenden wichtigen Elemente meditativer Geistesruhe gefordert: Ruhe, Klarheit, Konzentrationsfähigkeit, Festigkeit und Stetigkeit, sowie Reduzierung der Objektvielfalt. Auch das Durchschnittsniveau des Bewußtseins wird erhöht und in den vorgenannten Eigenschaften dem meditativen Bewußtsein angenähert.
In der Reihe der sieben Erleuchtungsglieder (siehe Lehrrede) finden wir, daß das Erleuchtungsglied <Ruhe> dem der <Sammlung> vorausgeht; und im gleichen Sinne heißt es häufig in den buddhistischen Texten: «Wenn er innerlich beruhigt ist, konzentriert sich der Geist». Diese Aussagen werden nun im Lichte der vorstehenden Ausführungen verständlicher werden.