Jātakam, Wiedergeburtsgeschichten

206. Die Erzählung von der Kurunga-Gazelle (Kurungamiga-Jātaka) [1]

„Die Schlinge hier, gemacht aus Leder“

 

§A. Dies erzählte der Meister, da er im Vejuvana verweilte, mit Beziehung auf Devadatta. Als nämlich damals der Meister hörte: „Devadatta geht auf Mord aus“, sprach er: „Nicht nur jetzt, ihr Mönche, geht Devadatta auf meine Ermordung aus, sondern auch früher schon ging er darauf aus.“ Darauf erzählte er folgende Begebenheit aus der Vergangenheit.

 

§B. Als ehedem zu Benares Brahmadatta regierte, war der Bodhisattva eine Kurunga-Gazelle und wohnte im Walde unweit eines Teiches in einem Gebüsche. Unweit von diesem Teiche hatte sich auf der Spitze eines Baumes ein Specht [2] niedergelassen. In dem Teiche aber hatte eine Schildkröte ihre Wohnung. So wohnten diese drei als Freunde einträchtig beieinander.

Ein Gazellenjäger aber sah, als er im Walde umherging, an einer Trinkstelle die Fußspur des Bodhisattva. Er legte deshalb eine aus Riemen gefertigte, einer eisernen Kette an Festigkeit gleichende Schlinge dorthin und ging dann weg. Als der Bodhisattva während der ersten Nachtwache kam, um Wasser zu trinken, fing er sich in der Schlinge und stieß das Schlingengeschrei aus. Auf dies Geschrei kam der Specht von seiner Baumspitze und die Schildkröte kam aus dem Wasser hervor und sie überlegten, was zu tun sei. Da sagte der Specht zur Schildkröte: „Liebe, du hast Zähne; zerbeiße du diese Schlinge. Ich will hingehen und bewirken, dass jener nicht herbeikommt; so wird unser Freund durch unser beider Anstrengung am Leben bleiben.“ Und indem er dies verkündete, sprach er folgende erste Strophe:

§1. „Die Schlinge hier, gemacht aus Leder,
die musst du, Schildkröte, zerbeißen;
ich aber will inzwischen machen,
dass unser Jäger nicht herbeikommt.“ —

Die Schildkröte begann nun den Lederriemen zu zerbeißen; der Specht aber flog nach dem Dorfe, wo der Jäger wohnte. Zur Zeit der Morgendämmerung nahm der Jäger seinen Jagdspeer und ging fort. Als der Vogel merkte, dass jener fortgehe, stieß er einen Schrei aus, schlug mit den Flügeln und stieß ihn, als er zur vordern Türe hinausging, in das Gesicht. Der Jäger dachte: „Von einem Unglücksvogel bin ich getroffen“, und kehrte wieder um. Nachdem er ein Weilchen geruht hatte, nahm er abermals seinen Jagdspeer und ging fort.

Der Vogel aber hatte gemerkt: „Dieser ist zuerst zur vordern Tür hinausgegangen; jetzt wird er zur Hintertüre hinausgehen“; und er flog weg und setzte sich an die Hinterseite des Hauses. Auch der Jäger dachte: „Als ich zur vordern Tür hinausging, sah ich einen Unglücksvogel; jetzt werde ich zur hintern Türe hinausgehen“; und er ging zur hintern Türe hinaus. Der Vogel stieß abermals einen Schrei aus, flog auf ihn zu und stieß ihn in das Gesicht.

Als so der Jäger abermals von dem Unglücksvogel getroffen war, dachte er: „Dieser lässt mich nicht hinausgehen“; und er kehrte um und schlief bis Sonnenaufgang. Als aber die Sonne aufgegangen war, nahm er seinen Jagdspeer und ging weg. — Jetzt flog der Vogel rasch fort und meldete dem Bodhisattva, der Jäger komme. In diesem Augenblicke waren von der Schildkröte alle Riemen mit Ausnahme eines einzigen durchgebissen. Ihre Zähne aber sahen aus, als wollten sie herausfallen, und ihr Maul war mit Blut beschmiert. — Als nun der Bodhisattva sah, wie der junge Jäger mit seinem Jagdspeer blitzschnell daherkam, durchbrach er den letzten Riemen und floh in den Wald. Der Vogel setzte sich auf die Spitze eines Baumes; die Schildkröte aber blieb wegen ihrer Schwäche dort liegen. Darauf warf der Jäger die Schildkröte in seinen Sack und hängte ihn an einem Baumstumpfe auf.

Da kehrte der Bodhisattva zurück und schaute hin; und da er merkte, dass die Schildkröte gefangen sei, dachte er: „Ich werde meinem Freunde das Leben retten“, und zeigte sich dem Jäger, als ob er schwach wäre. Dieser dachte: „Er wird schwach sein; ich werde ihn töten“; und er verfolgte ihn mit seinem Speere. Der Bodhisattva lief weder zu weit, noch zu nahe von ihm und kam so mit ihm in den Wald. Als er merkte, dass er schon weit gegangen war, verwirrte er seine Spur und lief mit Blitzesschnelle auf einem andern Wege zurück. Dann hob er mit seinem Horn den Sack in die Höhe, ließ ihn zu Boden fallen, dass er zerbrach, und ließ die Schildkröte heraus. Der Specht flog inzwischen vom Baume herab.

Nun gab ihnen der Bodhisattva folgende Ermahnung: „Ich habe durch euch das Leben behalten; ihr habt an mir getan, was ein Freund tun soll. Jetzt aber könnte der Jäger zurückkehren und euch fangen. Darum, Freund Specht, nimm deine Jungen und gehe anderswohin und auch du, liebe Schildkröte, kehre in das Wasser zurück.“ Sie aber taten so.

Der Meister sprach, als er völlig erleuchtet war, folgende zweite Strophe:

§2. Die Schildkröte ins Wasser ging,
zum Walde eilte die Gazelle
und von dem bösen Wege brachte
der Specht weit seine Jungen fort.

Als der Jäger an diesen Ort zurückkehrte und nichts mehr dort sah, nahm er seinen zerrissenen Korb und kehrte voll Ärger in sein Haus zurück. Die drei Freunde aber blieben, so lange sie lebten, in ungeschwächtem Vertrauen und gelangten dann an den Ort ihrer Bestimmung.

 

§C. Nachdem der Meister diese Lehrunterweisung beschlossen, verband er das Jātaka mit folgenden Worten: „Damals war der Jäger Devadatta, der Specht war Sāriputta, die Schildkröte Moggallāna, die Kurunga-Gazelle aber war ich.“

Ende der Erzählung von der Kurunga-Gazelle


[1] Vgl. das gleich betitelte Jātaka 21, das indes einen ganz andern Inhalt hat.

[2] Das Jātaka 279 könnte auch „Die Erzählung von dem Specht“ betitelt sein, ebenso wie im Jātaka 206 statt von einem Spechte von einem Kranich die Rede sein könnte. Das an beiden Stellen gebrauchte Wort „satapatta“, skrt. „satapattra“, kann nämlich diese beiden Vögel bedeuten.


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