„Wo ging sie hin, wo ist sie jetzt“
§A. Dies erzählte der Meister, da er im Veluvana verweilte, mit Beziehung auf Ajātasattu.
§D. Die Begebenheit ist schon oben im Thusa-Jātaka [Jātaka.338] erzählt. —
Auch hier erkannte der Meister, als er einmal den König mit seinem Sohne spielen und zugleich die Predigt anhören sah: „Durch diesen wird der König in Gefahr kommen.“ Und er sprach: „O Großkönig, die Könige der Vorzeit hüteten sich vor dem, was ihnen Verdacht einflößte, und taten ihre Söhne beiseite, damit sie erst nach ihrem Tode die Regierung führen sollten.“ Nach diesen Worten erzählte er folgende Begebenheit aus der Vergangenheit.
§B. Als ehedem zu Benares Brahmadatta regierte, nahm der Bodhisattva zu Takkasilā in einer Brahmanenfamilie seine Wiedergeburt und wurde ein weit berühmter Lehrer. Bei ihm erlernte der Sohn des Königs von Benares, „Prinz Yava“ [2] [Yavakumara] mit Namen, mit großem Eifer alle Künste. Als er dann wieder gehen wollte, nahm er von seinem Lehrer Abschied. Da der Lehrer infolge seiner Kenntnis der Vorzeichen erkannte, dass seinem Schüler durch dessen Sohn einmal eine Gefahr entstehen werde, dachte er: „Ich will sie für ihn beseitigen“, und begann, über ein Gleichnis nachzudenken.
Damals aber war ein Pferd, an dessen Fuße war eine Beule entstanden. Um die Beule zu pflegen, behielt man das Pferd zuhause. Unweit davon war ein Brunnen. Eine Maus nun ging aus dem Hause heraus und fraß an der Beule des Pferdes. Das Pferd konnte sie nicht abwehren. Da es aber eines Tages den Schmerz nicht auszuhalten vermochte, traf es die Maus, als sie wiederkam, um an der Beule zu nagen, mit seinem Fuße, tötete sie und schleuderte sie in den Brunnen. Als die Pferdewärter die Maus nicht sahen, sagten sie: „An anderen Tagen kam eine Maus und nagte an der Beule. Jetzt ist sie nicht zu sehen; wohin ist sie gegangen?“ Der Bodhisattva aber machte den Zusammenhang offenkundig und sprach: „Andere, die es nicht wissen, sagen: ‘Wo ist die Maus?’ Ich aber allein weiß, dass die Maus getötet und in den Brunnen geworfen wurde.“ Aus diesem Tatbestande machte er ein Gleichnis, dichtete darüber die erste Strophe und gab sie dem Prinzen.
Während er nach einem zweiten Gleichnis suchte, sah er, wie das Pferd, nachdem die Beule wieder verschwunden war, fortging, sich nach einem Platze begab, wo ein Haufe Gerste war, und, um die Gerste zu verzehren, sein Maul durch eine Öffnung des Zaunes steckte. Auch daraus machte er ein Gleichnis, dichtete darüber eine zweite Strophe und gab sie ihm.
Die dritte Strophe aber stellte er vermittelst seiner Einsichtsfülle zusammen, gab sie ihm und sprach: „Mein Sohn, wenn du den Thron bestiegen hast und dich am Abend nach dem Lotosteiche begibst, um zu baden, so steige vom obersten Teil der Treppe herunter, indem du die erste Strophe hersagst. Wenn du dann deinen Palast betrittst, in dem du wohnst, so sage die zweite Strophe her, während du auf die unterste Stufe der Treppe trittst; wenn du dann von da zum obern Ende der Treppe kommst, so sage die dritte Strophe her.“ Mit diesen Worten entließ er den Prinzen. —
Der Prinz kehrte nach Hause zurück, wurde hier Vizekönig und bestieg nach dem Tode seines Vaters den Thron. Ihm wurde ein Sohn geboren. Als dieser im Alter von sechzehn Jahren stand, dachte er aus Herrschbegierde: „Ich will meinen Vater töten“, und er sprach zu seinen Begleitern: „Mein Vater ist noch jung; wenn ich seinen Tod abwarte, werde ich hochbetagt und vom Alter niedergedrückt. Was hat es für einen Zweck, in diesem Alter noch König zu werden?“ Die anderen erwiderten: „O Fürst, man kann nicht nach der Grenze gehen und Räubereien verüben; du musst deinen Vater durch irgendein Mittel töten und das Reich in Besitz nehmen.“ Der Prinz erwiderte: „Es ist gut.“ Innerhalb des Palastes begab er sich in die Nähe des Lotosteiches, wo der König am Abend zu baden pflegte, und indem er dachte: „Hier werde ich ihn töten“, blieb er mit gezücktem Schwerte dort stehen.
Am Abend schickte der König eine Magd namens Musika (= „Maus“) fort mit folgendem Auftrage: „Gehe hin und reinige die Oberfläche des Lotosteiches; ich will baden.“ Als sie dorthin kam und den Lotosteich reinigte, sah sie den Prinzen. Aus Furcht, sie könne seine Tat bekannt machen, hieb sie der Prinz in zwei Teile und warf sie in den Lotosteich.
Jetzt kam der König herbei, um zu baden. Die übrigen Leute sagten: „Heute kommt die Sklavin Musika nicht zurück; wohin ist sie gegangen, wo ist sie?“ Darauf sprach der König folgende erste Strophe:
Während er so sprach, ging er an das Ufer des Lotosteiches.
Da dachte der Prinz: „Die Tat, die ich begangen, ist meinem Vater bekannt.“ Voll Furcht lief er davon und teilte dies seinen Begleitern mit. — Nach sieben oder acht Tagen sagten sie abermals zu ihm: „O Fürst, wenn der König es gewusst hätte, wäre er nicht ruhig geblieben. Er wird in Gedanken so gesagt haben. Töte ihn!“
An einem andern Tage stellte sich der Prinz, das Schwert in der Hand, an den Fuß der Treppe, und als der König herbeikam, suchte er allenthalben nach einer Gelegenheit, ihn zu ermorden. Da sagte der König beim Gehen folgende zweite Strophe her:
Der Prinz dachte: „Mein Vater hat mich gesehen“, und lief erschrocken davon. Nachdem er abermals einen halben Monat hatte verstreichen lassen, dachte er: „Ich will den König mit einer Schaufel niederschlagen und auf diese Weise töten.“ Und er nahm eine Schlagschaufel mit einem langen Stiel und stellte sich hin, indem er sie herabhängen ließ. Der König aber sagte, indem er dabei zum oberen Teil der Treppe hinaufstieg, folgende dritte Strophe her:
Da nun der Prinz an diesem Tage nicht davonlaufen konnte, warf er sich dem Könige zu Füßen und bat: „Schenke mir das Leben!“ Der König jagte ihm Schrecken ein, ließ ihn mit starken Ketten fesseln und in das Gefängnis verbringen. Als er dann unter dem weißen Sonnenschirm auf seinem prächtig geschmückten königlichen Throne saß, dachte er: „Unser Lehrer, der weitberühmte Brahmane hat mir, weil er diese Gefahr für mich voraussah, diese drei Strophen gegeben.“ Und mit begeistertem Ausruf sprach er die folgenden übrigen Strophen:
In der Folgezeit bestieg nach dem Tode seines Vaters der Prinz den Thron.
§C. Nachdem der Meister diese Unterweisung beschlossen, verband er das Jātaka mit folgenden Worten: „Damals war ich selbst der weitberühmte Lehrer.“
Ende der Erzählung von der Maus
[2] Auf Deutsch: „Prinz Gerste“. Vgl. dazu das Wortspiel in der zweiten Strophe des Jātaka.
[3] Das Wortspiel besteht darin, dass das Wort „Maus“ zugleich der Name der Magd ist.
[4] Vgl. die Anmerkung 2.