Udāna - Verse zum Aufatmen

EINLEITUNG

von Fritz Schäfer

"Udāna" heißt eine Sammlung von Lehrtexten (sutta), die jeweils den Anlaß für einen markanten, oft ergreifenden Ausspruch des Buddha angeben. Sie gehört zur ältesten Quelle seiner Lehre, dem Pālikanon, der auch "Dreikorb" (Tipiţaka) heißt, weil seine drei Teile, vor unserer Zeitrechnung auf Palmblätter geschrieben, früher in Körben aufbewahrt wurden. Der zentrale Teil des Dreikorbs für den Wahrheitsucher ist der "Korb der Lehrtexte" (Suttapiţaka). Darin sind die Lehrreden und Gespräche des Buddha gesammelt.[1]


Von den fünf Sammlungen (nikāya) dieses Korbes sind drei - die "Mittlere", die "Längere" und die "Gruppierte Sammlung" - in diesem Verlag erschienen, ferner aus der vierten, der "Kürzeren Sammlung" (Kuddhaka-Nikāya), einer ihrer ältesten Teile, die Verssammlung "Sutta-Nipāta". Eine ähnlich felsige Tiefe wie im Sutta-Nipāta findet sich auch in den Udāna-Versen.[2] Dennoch sind seit dem letzten Erscheinen der längst vergriffenen Übersetzung des einzigen deutschen Gesamtübersetzers, Seidenstücker, 78 Jahre vergangen, und die Herzstücke daraus, die Verse, sind bis heute noch nie in gebundener Sprache ins Deutsche übersetzt worden; denn Seidenstücker übersetzte in Prosa. Deshalb habe ich 1985 gern die Anregung von Kurt Onken aufgegriffen, für eine Kurzausgabe im Rahmen seiner Stiftung "Haus der Besinnung" wenigstens die Verse möglichst nahe dem Rhythmus des Originals zu übersetzen. Aber auch dieses schmale Bändchen ist lange vergriffen.

Um so mehr gebührt dem Verlag Dank für diese vollständige Ausgabe, die außer sämtlichen in gebundener Sprache übersetzten Versen nun auch die Prosateile des Udāna, ein Inhaltsverzeichnis, ein alphabetisches Gesamtregister und Fußnoten mit Erläuterungen und Hinweisen auf Parallelstellen enthält.

Wie der Kurzausgabe 1985 kann auch dieser vollständigen Ausgabe vorausgeschickt werden:
“Der lebenspraktische Zweck macht eine Befassung mit indologischen oder sprachwissenschaftlichen Fragen entbehrlich. Der 'Geschmack der Erlösung' durchzieht die Udāna. Von ihm so viel wie möglich in die deutsche Sprache hinüberzuretten, war das Hauptanliegen. Daraus ergab sich zwar ein Streben nach treuer Übertragung nach Sinn, Reihenfolge und Versrhythmus, doch bei allem Bemühen um Wortidentität ohne zu viel Scheu vor Umschreibungen, wo es für ein plastisches Pāliwort kein auch die 'Obertöne' umfassendes deutsches Wort gibt. Auf keinen Fall sollte die präzise Leuchtkraft des Urtextes deutschen 'Oberbegriffen' weichen, die vielleicht nicht falsch sind, aber doch einen Grauschleier des Allgemeinen über die bestimmte Aussage des Vorbildes gezogen hätten. Mit der Zeit werden sich zwar sicher noch Möglichkeiten zu weiteren Verfeinerungen ohne Einbuße an Übersetzungstreue zeigen, doch ist in diesem Sinne wohl keine Übersetzung jemals fertig.“[3]

So wurden die Jahre seither zu einer gründlichen Überarbeitung der Texte verwendet. Dabei hat sich der Eindruck noch vertieft, dass die Sammlung Udāna wahrhaftig "Verse zum Aufatmen" enthält. Dazu hieß es schon in der Einleitung zur Kurzausgabe von 1985:

"Wahrheitsworte, aus der Wachheit in unsere Traumwelt hineingesprochen, ergreifen - durch alle Formen hindurch - unmittelbar das Herz. Damit hat auch die Bezeichnung 'udāna' zu tun. Sie bedeutet wörtlich 'Aufatmen' - vom Aufatmen des Ergriffenen bis zu dem unbeschreiblichen Aufatmen des Erlösten. So sind denn auch die meisten Udāna nicht Teile einer systematischen Lehrdarlegung, sondern wurden vom Erwachten als Hinweis auf einen Anlaß gesprochen, der beim Beobachter Ergriffenheit und Besinnung auslösen konnte als herzunmittelbare Hilfen auf dem Heilsweg. Manche sind wahre Kernsprüche, die einen Anblick oder ein Ereignis für den Zuhörer ganz aus dem trüben Strom der Denkgewöhnung herausheben in die Klarheit wahnloser Sicht, und einzelne nehmen dem ganzen Dasein den Schleier hinweg.“[4]

Darauf aufbauend wurde es möglich, in kurzen Fußnoten bisweilen in Tiefen hineinzuleuchten, die sonst kaum durch längere Erklärungen zu erschließen gewesen wären. Das ließ den Gedanken aufkommen, in einem zweiten Teil dieses Buches noch Strophen aus den Verssammlungen Sutta-Nipāta, Theragātha (Strophen[5] der Mönche), Therīgāta (Strophen der Nonnen) und Dhammapada (Wahrheitpfad) wiederzugeben, die ich im Lauf von Jahrzehnten aus verschiedenen Anlässen übersetzt hatte. Die meisten davon sind unveröffentlicht, und ein erheblicher Teil entstammt gerade dem nach Alter und Tiefe dem Udāna so verwandten Sutta-Nipāta. So werden erhellende Vergleiche und Ergänzungen möglich mit der im selben Verlag vorliegenden Übersetzung Nyānaponikas und (soweit Lesern verfügbar) der immer noch vergriffenen Gesamtausgabe der Neumannschen Übersetzung der "Sammlungen in Versen". Auch dabei zeigt sich immer wieder, dass gerade die Verse dank leuchtkräftiger Wendungen mit der "Frische des Alters" ungelöste Fragen zu lösen vermögen in einem Sinne, wie einmal ein einsamer winterlicher Besucher dem Haus der Besinnung ins Gästebuch geschrieben hat:

"Und eine Frische strömt und weht.
die alles einfach macht.
Des Friedens freier Atem weht
durch Tag und helle Nacht."

Heidelberg, im Frühjahr 1998 Fritz Schäfer


[1] Ein anderer (Vinayapiţaka) enthält die Asketenregeln, ein dritter (Abhidhammapiţaka) wurde erst ein Jahrtausend später als riesige Sammlung von systematisch angeordneten, tabellarisierten und klassifizierten Lehrinhalten von Mönchsgelehrten verfaßt.
[2] Seidenstücker bemerkt, daß teilweise die Udāna-Texte "einfacher, altertümlicher und ursprünglicher" sind als Parallelstellen im Sutta Piţaka (Seid 1913 S. 62). Grundsätzliches zur Frage von Alter und Authentizität des Pālikanon bei Schäfer, S. 20 ff.
[3] UdBo S. III f.
[4] UdBo S. V
[5] Neumanns Bezeichnung "Lieder" könnte als "Gesänge" mißverstanden werden.


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