1. So habe ich gehört. Einmal hielt sich der Erhabene bei Sāvatthī im Jeta Hain, dem Park des Anāthapiṇḍika auf. Dort richtete er sich folgendermaßen an die Bhikkhus: "Ihr Bhikkhus." - "Ehrwürdiger Herr", erwiderten sie. Der Erhabene sagte dieses:
2. "Ihr Bhikkhus, ich werde euch einen Vortrag über die Zügelung der Triebe halten [1]. Hört zu und verfolgt aufmerksam, was ich sagen werde." - "Ja, ehrwürdiger Herr", erwiderten die Bhikkhus. Der Erhabene sagte dieses:
3. "Ihr Bhikkhus, ich sage, die Vernichtung der Triebe gibt es für einen, der weiß und sieht, nicht für einen, der nicht weiß und sieht. Was weiß und sieht er zur Vernichtung der Triebe? Weises Erwägen und unweises Erwägen. Wenn jemand unweise erwägt, entstehen Triebe, die noch nicht entstanden sind, und Triebe, die bereits entstanden sind, nehmen zu. Wenn jemand weise erwägt, entstehen Triebe nicht, die noch nicht entstanden sind, und Triebe, die bereits entstanden sind, werden überwunden."
4. "Ihr Bhikkhus,
5. "Welche Triebe, ihr Bhikkhus, sollten durch Sehen [2] überwunden werden? Ihr Bhikkhus, ein nicht unterrichteter Weltling,
versteht nicht, welche Dinge für das Erwägen geeignet sind, und welche Dinge für das Erwägen ungeeignet sind. Weil das so ist, erwägt er jene Dinge, die für das Erwägen ungeeignet sind, und erwägt jene Dinge nicht, die für das Erwägen geeignet sind."
6. "Was sind die Dinge, die für das Erwägen ungeeignet sind, die er erwägt?
Dies sind die Dinge, die für das Erwägen ungeeignet sind, die er erwägt. Und was sind die Dinge, die für das Erwägen geeignet sind, die er nicht erwägt?
Dies sind die Dinge, die für das Erwägen geeignet sind, die er nicht erwägt. Indem er Dinge erwägt, die für das Erwägen ungeeignet sind, und indem er Dinge nicht erwägt, die für das Erwägen geeignet sind, entstehen noch nicht entstandene Triebe in ihm, und bereits entstandene Triebe nehmen zu."
7. "Auf solche Weise erwägt er unweise:
Oder ansonsten ist er über die Gegenwart verwirrt:
8. "Wenn er auf solche Weise unweise erwägt, entsteht eine von sechs Ansichten in ihm.
Diese spekulative Ansicht, ihr Bhikkhus, wird das Dickicht der Ansichten genannt, die Wildnis der Ansichten, die Verdrehtheit der Ansichten, der Wankelmut der Ansichten, die Fessel der Ansichten. Durch die Fessel der Ansichten gebunden, ist der nicht unterrichtete Weltling nicht befreit von Geburt, Alter und Tod, von Kummer, Klagen, Schmerz, Trauer und Verzweiflung; er ist nicht befreit von Dukkha, sage ich."
9. "Ihr Bhikkhus, ein wohlunterrichteter edler Schüler, der die Edlen beachtet und in ihrem Dhamma bewandert und geschult ist, der aufrechte Menschen beachtet und in ihrem Dhamma bewandert und geschult ist, versteht, welche Dinge für das Erwägen geeignet sind, und welche Dinge für das Erwägen ungeeignet sind. Weil das so ist, erwägt er jene Dinge nicht, die für das Erwägen ungeeignet sind, und erwägt jene Dinge, die für das Erwägen geeignet sind."
10. "Was sind die Dinge, die für das Erwägen ungeeignet sind, die er nicht erwägt? Es sind Dinge,
Dies sind die Dinge, die für das Erwägen ungeeignet sind, die er nicht erwägt. Und was sind die Dinge, die für das Erwägen geeignet sind, die er erwägt? Es sind Dinge,
Dies sind die Dinge, die für das Erwägen geeignet sind, die er erwägt. Indem er Dinge nicht erwägt, die für das Erwägen ungeeignet sind, und indem er Dinge erwägt, die für das Erwägen geeignet sind, entstehen noch nicht entstandene Triebe nicht in ihm, und bereits entstandene Triebe werden überwunden."
11. "Er erwägt weise: 'Dies ist Dukkha'; er erwägt weise: 'Dies ist der Ursprung von Dukkha'; er erwägt weise: 'Dies ist das Aufhören von Dukkha'; er erwägt weise: 'Dies ist der Weg, der zum Aufhören von Dukkha führt' [5]. Wenn er auf solche Art weise erwägt, werden drei Fesseln in ihm überwunden:
Diese nennt man die Triebe, die durch Sehen überwunden werden sollten [6]."
12. "Welche Triebe, ihr Bhikkhus, sollten durch Kontrolle überwunden werden?
Während Triebe, Ärger und Fieber in einem entstehen könnten, der mit nicht kontrollierten Sinnen verweilt, gibt es keine Triebe, keinen Ärger oder Fieber in einem, der mit kontrollierten Sinnen verweilt. Diese nennt man die Triebe, die durch Kontrolle überwunden werden sollten."
13. "Welche Triebe, ihr Bhikkhus, sollten durch Gebrauch überwunden werden? Da benutzt ein Bhikkhu weise betrachtend die Robe nur zum Schutz vor Kälte, zum Schutz vor Hitze, zum Schutz vor dem Kontakt mit Stechfliegen, Moskitos, Wind, Sonne und Kriechtieren, und nur, um die Schamteile zu bedecken."
14. "Weise betrachtend benutzt er Almosenspeise, weder zum Spaß, noch zur Berauschung, noch zum Schmücken, noch zur Verschönerung, sondern nur, um diesen Körper am Leben zu erhalten, ihn zu ernähren, um Unbehagen zu beenden und das heilige Leben zu unterstützen, indem er erwägt: 'So werde ich alte Gefühle beenden, ohne neue Gefühle hervorzurufen [8], und ich werde gesund und ohne Tadel sein und ich werde ein leichtes Leben haben.'"
15. "Weise betrachtend benutzt er die Lagerstätte nur zum Schutz vor Kälte, zum Schutz vor Hitze, zum Schutz vor dem Kontakt mit Stechfliegen, Moskitos, Wind, Sonne und Kriechtieren, und nur um die Unbillen des Wetters abzuwehren und um sich der Zurückgezogenheit zu erfreuen."
16. "Weise betrachtend benutzt er krankheitsbedingte Medikamente und Requisiten, nur zum Schutz vor entstandenen leidhaften Gefühlen und zum Wohle guter Gesundheit. [9]"
17. "Während Triebe, Ärger und Fieber in einem entstehen könnten, der die Requisiten nicht so benutzt, gibt es keine Triebe, keinen Ärger oder Fieber in einem, der sie so benutzt. Diese nennt man die Triebe, die durch Gebrauch überwunden werden sollten."
18. "Welche Triebe, ihr Bhikkhus, sollten durch Erdulden überwunden werden? Weise betrachtend erträgt da ein Bhikkhu Kälte und Hitze, Hunger und Durst, und Kontakt mit Stechfliegen, Moskitos, Wind, Sonne und Kriechtieren; er erträgt böswillige, unwillkommene Worte und entstandene körperliche Gefühle, die schmerzhaft, quälend, scharf, bohrend, unangenehm, schmerzlich und lebensbedrohlich sind. Während Triebe, Ärger und Fieber in einem entstehen könnten, der solche Dinge nicht erduldet, gibt es keine Triebe, keinen Ärger oder Fieber in einem, der sie erduldet. Diese nennt man die Triebe, die durch Erdulden überwunden werden sollten."
19. "Welche Triebe, ihr Bhikkhus, sollten durch Vermeiden überwunden werden? Weise betrachtend vermeidet da ein Bhikkhu einen wilden Elefanten, ein wildes Pferd, einen wilden Bullen, einen wilden Hund, eine Schlange, einen Stumpf, ein Dornengestrüpp, einen Abgrund, eine Klippe, eine Müllgrube, eine Kloake. Mit weiser Erwägung vermeidet er, auf ungeeigneten Sitzen Platz zu nehmen, zu ungeeigneten Lagerstätten zu wandern [10], und sich mit schlechten Freunden abzugeben, da ihn weise Gefährten im heiligen Leben eines üblen Verhaltens verdächtigen könnten, wenn er dies täte. Während Triebe, Ärger und Fieber in einem entstehen könnten, der diese Dinge nicht vermeidet, gibt es keine Triebe, keinen Ärger oder Fieber in einem, der sie vermeidet. Diese nennt man die Triebe, die durch Vermeiden überwunden werden sollten."
20. "Welche Triebe, ihr Bhikkhus, sollten durch Entfernen überwunden werden?
Während Triebe, Ärger und Fieber in einem entstehen könnten, der diese Dinge nicht entfernt, gibt es keine Triebe, keinen Ärger oder Fieber in einem, der sie entfernt. Diese nennt man die Triebe, die durch Entfernen überwunden werden sollten."
21. "Welche Triebe, ihr Bhikkhus, sollten durch Entfalten überwunden werden?
Während Triebe, Ärger und Fieber in einem entstehen könnten, der diese Erleuchtungsglieder nicht entfaltet, gibt es keine Triebe, keinen Ärger oder Fieber in einem, der sie entfaltet. Diese nennt man die Triebe, die durch Entfalten überwunden werden sollten [12]."
22. "Ihr Bhikkhus, wenn bei einem Bhikkhu die Triebe,
dann wird er ein Bhikkhu genannt, der gezügelt mit der Zügelung aller Triebe weilt. Er hat das Begehren abgeschnitten, die Fesseln [13] abgeworfen und mit der völligen Durchdringung des (Ich-)Dünkels hat er Dukkha ein Ende gemacht."
Das ist es, was der Erhabene sagte. Die Bhikkhus waren zufrieden und entzückt über die Worte des Erhabenen.
[1] Die Triebe (āsava) sind Befleckungen auf fundamentalster Ebene. Nach der Lehre von der Kette des bedingten Entstehens sind sie die Ursache für die grundlegende Unwissenheit, die die unbefreiten Wesen im Daseinskreislauf gefangen hält.
[2] Das Verb dassana, "sehen" bezieht sich auf das erste Erblicken des Dhamma beim Stromeintritt.
[3] Es werden keine bestimmten Dinge aufgelistet, sondern die geeigneten und ungeeigneten Dinge werden anhand ihrer Wirkung charakterisiert. Der Übende wird also nicht aus der Verantwortung für die Anwendung und Entfaltung seiner jeweils vorhandenen Weisheit genommen.
[4] Sechs Formen der Ich-Ansicht, somit Beispiele falscher Ansicht: die ersten beiden sind allgemeiner Eternalismus und Nihilismus, die dritte eine "spirituelle" Variante. Nummer vier und fünf könnten als intellektuelle Spekulation über Nicht-Selbst betrachtet werden. Schließlich hat ein Weltling keine Möglichkeit Nicht-Selbst direkt zu sehen, und das "Ich" schleicht sich bei spekulativen Spielchen über die "höchste Wirklichkeit" gern über die Hintertür herein. Die sechste Ansicht ist eine auf halbem Weg "steckengebliebene" Betrachtung von Kamma.
[5] Dies ist die Standardformel der vier Edlen Wahrheiten; im Falle des Weltlings beschreibt sie das weise Erwägen, das mit Einsicht verbunden ist. Im Falle des Stromeingetretenen beschreibt sie die mit dem Stromeintritt verbundene Funktion: das Erblicken des Dhamma im Lichte der vier Edlen Wahrheiten.
[6] Daß die drei Fesseln, die beim Stromeintritt überwunden werden, mit Trieben gleichgesetzt werden, läßt auf eine lockerere Anwendung des Begriffes schließen.
Sīlabbatapāramāso, das Anhaften an oder Überschätzen von Ritualen ist nicht nur ein Problem religiöser Menschen. Es geht hier um fundamentale Daseinsfesseln, die jeder Weltling hat. Rituale sind hier normierte Vorgehensweisen, von denen wir uns ein Zu-Hause-Fühlen erwarten, vom “Prost”, “Gesundheit”, “Wie geht’s?” und anderen Gruppenritualen über das Anhören unserer Lieblingsmusik bis hin zu den kleinsten alltäglichen Verhaltensmustern, mit denen wir es uns im Daseinskreislauf – vergeblich – behaglich einrichten wollen.
[7] Diese Sinneskontrolle beruht auf der Anwendung von Achtsamkeit und Wissensklarheit; äußerlich durch eine Kontrolle des Sinnes-"Input", dort wo man eine Wahl hat, welchen Einflüssen man sich aussetzt; innerlich durch das Erkennen der Sinneseindrücke als das was sie sind - ohne Verstrickung und Identifikation mit ihnen.
[8] Dies wird im Allgemeinen so verstanden: alte Gefühle des Hungers und neue Gefühle des Überessens. Die Essensbetrachtung verhindert aber auch neue Gefühle, die mit Gier oder Ablehnung gegenüber dem Essen entstehen könnten.
[9] Diese vier Reflektionen sind auch heute noch die tägliche Übung der Ordinierten in der Tradition des Theravāda-Buddhismus.
[10] Im Falle der angesprochenen Bhikkhus bezieht sich das auf Orte, die nach den Ordensregeln nicht erlaubt sind, bzw. an denen die Gefahr von Verstößen gegen die Regeln besteht. Selbstverständlich können auch Laienpraktizierende von diesen Empfehlungen profitieren, indem sie mit weiser Erwägung Orte vermeiden, an denen dem inneren Wachstum Schaden zugefügt werden könnte.
[11] Eine Umschreibung der Verwirklichung von Nibbāna. Mehr zu den Erleuchtungsgliedern in MN10 und MN118.
[12] Der Sinnestrieb wird auf der dritten Erleuchtungsstufe (Nichtwiederkehr) überwunden, Werdenstrieb und Unwissenheitstrieb erst bei Erlangen der Arahantschaft.
[13] Beim Stromeintritt werden die drei Fesseln, die unter 11. erwähnt sind, abgeworfen. Zwei weitere Fesseln - Sinnesbegierde und Abneigung - werden beim Erreichen der Stufe des Einmalwiederkehrers geschwächt und beim Nichtwiederkehrer überwunden. Das Abwerfen der restlichen fünf Fesseln - Begierde nach feinstofflichem Dasein, Begierde nach formlosem Dasein, Ich-Dünkel, Aufgeregtheit und Unwissenheit - ist dem Arahant vorbehalten.