So habe ich es gehört:
Einst weilte der Erhabene am Eichhörnchenfutterplatz im Bambushain bei Rājagaha. Um dieselbe Zeit hielt sich der ehrwürdige Rāhula im Park der Mangosprößlinge auf. Nachdem der Erhabene gegen Abend seine Meditation beendet hatte, ging er zu Rāhula in den Park. Sobald Rāhula ihn kommen sah, machte er einen Sitzplatz zurecht und stellte Wasser zum Fußwaschen bereit. Der Erhabene setzte sich und wusch die Füße, und Rāhula verneigte sich vor ihm und setzte sich zu ihm. Dann ließ der Erhabene ein wenig Wasser im Becken stehen und sagte zu Rāhula: «Siehst du diesen geringen Rest Wasser im Becken?» - «Ja, Herr!» - «Ebenso gering ist das Leben eines Samana, der sich nicht vor bewußter Lüge scheut.» Dann goß er den Rest Wasser aus und sagte: «Siehst du, daß der Rest Wasser ausgegossen ist?» - «Ja, Herr!» - «Ebenso ausgegossen ist das Leben eines Samana, der sich nicht vor bewußter Lüge scheut.» Dann kehrte er das Becken um und sagte: «Siehst du, daß dieses Becken umgekehrt ist?» - «Ja, Herr!» - «Ebenso verkehrt ist das Leben eines Samana, der sich nicht vor bewußter Lüge scheut.» Dann kehrte er das Becken wieder auf und sagte: «Siehst du, daß dieses Becken hohl und leer ist?» - «Ja, Herr!» - «Ebenso hohl und leer ist das Leben eines Samana, der sich nicht vor bewußter Lüge scheut.
Wenn ein großer, starker Kriegselefant des Königs mit gewaltigen Stoßzähnen in der Schlacht mit den Vorderfüßen und mit den Hinterfüßen kämpft, mit dem Vorderleib und mit dem Hinterleib kämpft, mit dem Kopf, mit den Ohren, mit den Zähnen und mit dem Schwanz kämpft, aber den Rüssel schont, dann weiß der Elefantenreiter, daß der Elefant sein Leben noch nicht preisgegeben hat. Wenn der Elefant aber sogar mit dem Rüssel kämpft, dann weiß der Elefantenreiter, daß der Elefant sein Leben preisgegeben hat und daß er nun zu allem fähig ist. Ebenso, Rāhula, ist jemand, der sich nicht vor bewußter Lüge scheut, zu allem Bösen fähig. Darum, Rāhula, strebe danach, nicht einmal im Scherz zu lügen!
Weißt du, Rāhula, wozu man einen Spiegel braucht?» - «Man braucht ihn, um sich zu betrachten.» - «So mußt du dich immer wieder betrachten, wenn du etwas tust, wenn du etwas redest, wenn du etwas denkst. Wenn du vorhast, etwas zu tun oder zu reden oder zu denken[1], dann mußt du dich so betrachten: würde das, was ich tun oder reden oder denken will, mir schaden oder einem anderen schaden oder beiden schaden, so ist es unheilsam und leidbringend; und wenn du beim Betrachten merkst, daß es schädigen würde, daß es unheilsam und leidbringend sein würde, dann mußt du es, wenn du irgend kannst, nicht tun oder reden oder denken. Wenn du aber merkst, daß es weder dir noch einem andern noch beiden schaden würde, daß es also heilsam ist und Erfreuliches mit sich bringen würde, dann darfst du es tun oder reden oder denken.
Während du dabei bist, etwas zu tun, zu reden oder zu denken, mußt du dich so betrachten: schadet das, was ich jetzt tue oder rede oder denke, mir oder einem andern oder beiden, so ist es unheilsam und leidbringend; und wenn du beim Betrachten merkst, daß es schädigend, unheilsam und leidbringend ist, dann halte dich zurück, so zu handeln, zu reden oder zu denken. Wenn du aber merkst, daß es weder dir noch einem andern noch beiden schadet, daß es also heilsam ist und Erfreuliches mit sich bringt, dann fahre fort, so zu handeln, zu reden oder zu denken.
Wenn du etwas getan oder geredet hast, dann mußt du dich so betrachten: hat das, was ich getan oder geredet habe, mir oder einem andrem oder beiden geschadet, so ist es unheilsam und leidbringend; und wenn du beim Betrachten merkst, daß es schädigend, unheilsam und leidbringend war, dann sollst du es deinem Meister oder erfahrenen Mitbrüdern offen eingestehen, und hast du es offen eingestanden, dann mußt du dir ernstlich vornehmen, dich künftig zu beherrschen und nicht wieder so zu handeln oder zu reden. Wenn du aber merkst, daß es weder dir noch einem andern noch beiden schadet, daß es also heilsam ist und Erfreuliches mit sich bringt, dann kannst du froh sein und mußt immer wieder danach streben, Heilsames zu tun und zu reden.
Wenn du etwas gedacht hast, dann mußt du dich so betrachten: hat das, was ich dachte, mir oder einem andern oder beiden geschadet, so ist es unheilsam und leidbringend; und wenn du beim Betrachten merkst, daß es schädigend, unheilsam und leidbringend war, dann muß es dein Gewissen beunruhigen, dann mußt du dich schämen und davor zurückschrecken. Hat es dein Gewissen beunruhigt, hast du dich geschämt und bist du davor zurückgeschreckt, dann mußt du dir ernstlich vornehmen, dich künftig zu beherrschen und nicht wieder so zu denken. Wenn du aber merkst, daß es weder dir noch einem andern noch beiden schadet, daß es also heilsam ist und Erfreuliches mit sich bringt, dann kannst du froh sein und mußt immer wieder danach streben, Heilsames zu denken.
Alle Samanas und Brahmanen, die in früherer Zeit ihr Tun in Werken, Worten und Gedanken rein hielten, haben dies dadurch erreicht, daß sie sich immer wieder betrachteten; alle Samanas und Brahmanen, die künftig ihr Tun in Werken, Worten und Gedanken rein halten werden, werden dies dadurch erreichen, daß sie sich immer wieder betrachten; und alle Samanas und Brahmanen, die gegenwärtig ihr Tun in Werken, Worten und Gedanken rein halten, erreichen das dadurch, daß sie sich immer wieder betrachten. Darum, Rāhula, strebe danach, dein Tun in Werken, Worten und Gedanken rein zu halten, indem du dich immer wieder betrachtest.»
So sprach der Erhabene. Rāhula nahm die Belehrung mit Freude und Dank an.
[1]Im Text wird für Tun, Reden und Denken gesondert alles immer mit den gleichen Worten gesagt, mit Ausnahme des letzten Abschnitts für das Denken, der deshalb gesondert übersetzt wird.