20 Mai 1999
Wenn die Welt und das Leben nur unter dem Aspekt des Elends gesehen wird, ist man da nicht einseitig auf einem Auge blind, wenn nur das Negative gesehen wird?
Es wird gesehen, wie es tatsächlich ist. Es wird die Wahrheit gesehen, unverschleiert, offen ehrlich. Warum wollen Sie sich weiterhin selbst betrügen?
Eine rein auf das Leiden beschränkte Sicht der Dinge, ein Leben ohne Endbestimmung, nur die Vernichtung als Ziel, ein Weg ohne Schöpfer, ohne Gott, wo soll da eine Erlösung liegen? Erlösung müßte doch etwas positives sein, nach dieser Definition dürfte ein Mensch der das Leben liebt, niemals die nirvanische Erlösung anstreben, im Gegenteil müßte er sie fürchten.
Er fürchtet sich aus Unwissenheit, weil er die Zusammenhänge dieses Daseins
nicht erkennt. Er sollte sich eigentlich vor diesem Dasein fürchten.
Dieser Tage habe ich ein Buch über Leben und Lehre des hinduistischen Mystikers Ramana Maharshi gelesen. Er benutzt ganz ähnliche Meditationstechniken, die allerdings ein völlig anderes Ziel zu haben scheinen: Die Verschmelzung mit dem Göttlichen, also etwas völlig positiv formuliertes, ähnlich wie die christlichen Mystiker.
Die Verschmelzung mit dem Göttlichen mag einem Unwissenden erstrebenswert erscheinen. Kann es aber nicht sein, weil es zu erneuter Geburt – Altern – Erkranken – und Sterben führt. Auch Götter (auch der liebe Gott) haben nur ein befristetes Dasein und sind dem Zerfall unterworfen.
Hierzu ein Gedicht aus dem Dhp.178
- Besser als Alleinherrschaft auf Erden,
- Besser als Geburt in einem Götterreich,
- Besser als die Herrschaft über alle Welt
- Ist fürwahr das Ziel des Eintritts in den Strom.
Im Anguttara Nikaya III.71 finden Sie etwas über das Alter der Götter. In Majjh.49 ist ein Gespräch überliefert zwischen Buddha und dem Lieben Gott (Brahma). In A.VII.58 erzählt Buddha, dass er selbst schon als der Große Brahma geboren wurde.
Warum kommen die Mystiker der verschiedenen Traditionen in der Meditation trotz ähnlicher Techniken zu solch unterschiedlichen Betrachtungsweisen und Ergebnissen?
Es gibt in diesem Universum eine Kraft oder Energie, vielleicht vergleichbar
mit der Schwerkraft, die uns in die Gegenrichtung der Erlösung zieht. Diese
Kraft will, dass wir immer wieder geboren werden, sie ernährt sich daran. Diese
Kraft versucht uns, von der Erlösung abzubringen. Im Christentum wurde diese
Kraft als Teufel bezeichnet. Im Buddhismus wird sie
Mara
genannt. Sie kann in allen möglichen Formen auftreten.
Das erste große Hindernis auf dem Weg zur Befreiung ist das andere Geschlecht
(siehe Anguttara Nikaya I.1).
Hat man das Elend in dem Anhaften daran erkannt und sich davon befreit, lauert
schon das nächste Hindernis: Macht, Einfluss, Berühmtheit.
Wie Buddha erwähnt, waren einige seiner Mönche und Anhänger schon sehr weit in der Meditation fortgeschritten. Als sie dadurch Berühmtheit erlangten, fingen sie wieder an zu lügen, um Ihre Macht zu erhalten oder zu erweitern, und gelangten dadurch wieder auf die falsche Fährte zur Wiedergeburt und damit zu erneutem Leiden.
Wolfgang Greger