Dritte völlig neu bearbeitete
Auflage
Paul Christiani & Cie.,
Kreuzlingen 1947
Einleitung
Das
alte Indien
Der
Buddha
1: Die Weltanschauung des Buddhismus
1. Die
Wahrheit vom Leiden
2. Die
Wahrheit vom Ursprung des Leidens
3. Die
Wahrheit vom Ende des Leidens
2: Die Sittlichkeitslehre des Buddhismus
1. Rechte
Gesinnung
2. Rechtes
Reden
3. Rechtes
Tun
4. Rechte
Lebensführung
3: Die Heilslehre des Buddhismus
1. Rechter
Kampf
2. Rechtes
Gedenken
3. Rechte
Sammlung
4. Der
höhere Pfad
5. Das
Nirvana
6. Der
Spiegel der Buddhalehre
Anhang
1. Der
Pali-Kanon
2. Geschichtlicher
Überblick
In indischen Wörtern ist c wie tsch, j wie dsch, y wie deutsches
j auszusprechen; h bezeichnet auch nach Mitlauten einen Hauchlaut, also
th wie t-h in Rathaus, bh wie b-h in lebhaft, ph wie p-h in Klapphorn usw.
Die Betonung richtet sich nach der Länge der vorletzten Silbe; ist
diese lang, so wird sie betont, ist sie kurz, so wird die drittletzte Silbe
betont. Silben mit e und o sind stets lang. Die Betonung ist schwach, die
Länge der Silben wird aber deutlich hervorgehoben. s immer wie ss.
Wir verzichten in diesem Buch auf die Unterscheidung ähnlicher Laute,
wie sie in sprachwissenschaftlichen Werken üblich ist, und deuten
auch die Länge der Selbstlaute nicht an. Um eine richtige Aussprache
zu sichern, geben wir, wo Zweifel entstehen könnten, dem zu betonenden
Selbstlaut einen Akzent z. B. Gótama.
Abkürzungen zu den Quellenangaben (siehe hierzu den Anhang)
AN Angūttara-Nikāya
DN Digha-Nikāya
MN Mājjhima-Nikāya
SN Samyutta-Nikāya
"Andere geben,
wenn sie die Buddha-Lehre darlegen,
ihre eigenen Erläuterungen und sprechen Lob und Tadel aus;
Subhūti aber legte die Lehre dar, ohne die Grenzen dessen,
was der Meister gelehrt hat,
zu überschreiten."
Buddhagosa in Manoratha-pūranī zur
Angūttara-Nikāya, XIV, a.
Die Lehre, die der Buddha der Menschheit als Vermächtnis hinterliess, kennt keinen göttlichen Weltschöpfer und Weltregenten, keinen Erlöser, keine göttliche Offenbarung, keine Seele, wenn man unter diesem Wort eine unveränderliche Wesenheit versteht, und auch keine religiösen Dogmen oder Lehrsätze, die man glauben muss, um das höchste Ziel, den ewigen Frieden, zu erreichen; der Buddha hat, im Gegenteil, davor gewarnt, religiöse Dogmen auf irgendeine Autorität hin gläubig anzunehmen. Kann man hiernach sagen, der Buddhismus sei eine Religion? Gewiss nicht, sofern das Wort Religion im herkömmlichen Sinne gebraucht wird.
Gerade weil der Buddhismus keine Religion in unserm, abendländischen Sinne ist, darum verträgt er sich mit jeder Religion so gut, dass er in Süd-, Mittel- und Ostasien bei Völkern verschiedener Rasse, verschiedener Kulturstufe und verschiedener Religion Eingang finden konnte. Wie der Chinese, der Kungfutse und Laotse verehrt; der Japaner, der zu den Schinto-Göttern betet; der Singhalese, der an gute und böse Geister glaubt, der Tibeter und der Mongole die Lehre des Buddha als Richtlinie für ihr Denken und Handeln angenommen haben, so kann sich ihr auch der Europäer Zuwenden, gleichviel ob er einer christlichen Kirche oder einer andern Religionsgemeinschaft angehört oder nicht. Denn der Buddha wendet sich an alle Menschen, ohne Unterschied der Rasse und des Glaubens, und zeigt ihnen den von ihm als richtig erkannten Weg zur Erkenntnis der Wirklichkeit und zur höchsten, unvergänglichen Glückseligkeit.
Er zeigt ihnen den Weg, nichts weiter! Von jedem einzelnen hängt es ab, ob er den Weg gehen kann und will oder nicht. Ob der Weg der richtige ist, kann nur der wissen, der ihn bis zu Ende gegangen ist. Alle aber, die ihn bisher ganz gegangen sind, haben bezeugt, dass er wirklich ans Ziel führt.
Wenn wir hier von der Lehre des Buddha reden, meinen wir die Lehre, die der historische Buddha Gótama im 6. Jahrhundert vor Christus im Gangesland verkündete, aber nicht die Religionssysteme, die sich aus ihr und im Anschluss an sie in späteren Jahrhunderten entwickelten, teils durch Vermischung mit Bestandteilen alten Volksglaubens, teils durch Hinzufügung neu entstandener philosophischer Lehren und religiöser Anschauungen; die Religionssysteme also, die mit ihren mannigfachen rituellen Gebräuchen als die verschiedenen Abarten des Buddhismus gegenwärtig in den Ländern Asiens anzutreffen sind. Diese nationalen Ausprägungen des Buddhismus sind wichtige und lehrreiche Gegenstände religionsgeschichtlicher und völkerkundlicher Forschung, keine von ihnen kann jedoch auf europäischen Boden verpflanzt werden, weil hier alle Voraussetzungen für sie fehlen. Eine andere Frage aber ist die, ob sich nicht in der ursprünglichen Lehre des Buddha ein Wahrheitsgehalt findet, der, unabhängig von den räumlichen und zeitlichen Verhältnissen, für die Menschen aller Länder und Zeiten den gleichen Wert hat, und zwar einen so hohen Wert, dass auch das auf seine Zivilisation stolze Europa nicht zu verschmähen braucht, sich durch ihn zu bereichern. Diese Frage kann nur entschieden werden, wenn man die ursprüngliche, reine Buddhalehre kennt. In sie einzuführen ist der Zweck dieses Buches.
Unsere Kenntnis der Buddhalehre beruht auf zwei Überlieferungsmassen, die nach den Sprachen, in denen sie geschrieben sind, Pali-Kanon und Sanskrit-Kanon genannt werden. Der Pali-Kanon liegt nahezu vollständig in zwei Pali-Ausgaben gedruckt vor; die eine, in lateinischer Schrift, ist von der im Jahre 1882 von Rhys Davids gegründeten Pali-Text Society in London, die andere, in siamesischer Schrift, auf Befehl und Kosten des Königs Chulalongkorn von Siam herausgegeben worden. Vom Sanskrit-Kanon wurden im Jahre 1903 von der Expedition des Berliner Museums für Völkerkunde unter Leitung von Grünwedel in Chinesisch-Turkestan ziemlich umfangreiche Reste entdeckt und von Pischel untersucht. Pischel sagt darüber (in «Leben und Lehre des Buddha», 3. Auflage 1921): «Es lässt sich schon jetzt behaupten, dass der Sanskrit-Kanon von dem Pali-Kanon völlig unabhängig ist, wie schon die abweichende Einteilung zeigt. Der Kern der Lehre Buddhas ist aber bis in Einzelheiten hinein genau derselbe in beiden Fassungen, was ein glänzendes Zeugnis ablegt für die Treue der Überlieferung.» Neuere Forschungen haben ergeben, dass es nicht nur einen, sondern mehrere, voneinander abweichende Sanskrit-Kanons gegeben hat, von denen bisher allerdings nur Bruchstücke bekannt geworden sind. Es waren die heiligen Schriften verschiedener Sekten, die sich in den ersten Jahrhunderten nach dem Buddha bildeten und später wieder verschwanden. Ausserdem liegt der Kanon in chinesischer und in tibetischer Sprache vor. Der Pali-Kanon ist jedoch ohne Zweifel von allen der älteste. Ihn legen wir deshalb unserer Darstellung zugrunde. Da der Buddha seine Reden wahrscheinlich in Pali gehalten hat, worüber weiter unten noch zu reden sein wird, so dürfen wir mit einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit annehmen, dass wir im Pali-Kanon echtes Buddha-Wort finden, obwohl sicherlich nicht alles, was darin als Ausspruch des Buddha gekennzeichnet wird, wirklich von ihm gesprochen, sondern manches erst später hinzugefügt worden ist. Nur das, was sich bei strenger Prüfung als echt erweist, soll hier im Zusammenhang dargestellt werden.
Mag nun auch der Wahrheitsgehalt der ursprünglichen Buddha-Lehre
von Zeit und Raum unabhängig sein, so ist doch ihre Ausgestaltung,
ihre sprachliche Einkleidung zeitlich und räumlich bedingt und nicht
zu trennen von dem geschichtlichen Zusammenhang, in dem sie verkündet
wurde. Deshalb ist es zu ihrem vollen Verständnis notwendig, sich
wenigstens in grossen Zügen die Lebensverhältnisse des alten
Indien und das Lebensbild des Buddha zu vergegenwärtigen.
Etwa ein Jahrtausend vor Christus begegnen wir in Indien den Anfängen philosophischen Denkens. Seine Träger waren damals im wesentlichen die Priester, die Brahmanen. Nur vereinzelt werden daneben auch Angehörige der Kriegerkaste, des Adels, als Wissenskundige erwähnt. Der dritte Stand, die Bauern, nahm daran ebensowenig teil wie die Angehörigen der untersten Kaste, die Hörigen und Knechte.
Aus den ältesten Urkunden sehen wir, wie sich das Leben der Brahmanen beschaulich im Dorfe abspielte. Wir lesen von herdenzüchtenden Brahmanen und von Brahmanenschülern, die das Vieh ihrer Meister auf die Weide trieben, auch von reichen Adligen, die die Brahmanen an ihren Hof luden und dort Redeturniere der geistlichen Herren veranstalteten. Einige Jahrhunderte später, etwa im sechsten Jahrhundert vor Christus, - das ist die Zeit, in der der Buddha lebte - blühten bereits Handel und Gewerbe in grossen, glänzenden Städten, die von wohlgepflegten Gärten und Hainen umgeben waren. In den Berichten aus dieser Zeit treten neben Königen und Fürsten auch reiche Kaufleute auf und wohlhabende, angesehene Handwerksmeister in den Städten und wir sehen ein buntes Leben und Treiben, das uns an die Blütezeit der deutschen Städte im Mittelalter erinnert.
Eine Zentralgewalt gab es damals in Indien nicht. Nebeneinander standen mehrere Kleinstaaten und dazwischen freie Städte. Zuweilen mag es auch Fehden zwischen den Fürsten untereinander und wohl auch zwischen Fürsten und Städten gegeben haben. Viel ist davon nicht die Rede, weil die grosse Masse des Volkes und besonders die Gelehrtenwelt, die Brahmanen, die uns davon hätten berichten können, sich kaum darum kümmerten. Wenn die Fürsten Krieg führten, so war das eine Sache, die nur die Kriegerkaste, den Adel, anging. Bürger und Bauern wurden davon ebensowenig berührt wie die Priester. Von politischen oder sozialen Nöten hören wir aus dieser Zeit nichts. Nicht die Not des täglichen Lebens war es, auch nicht die Bedrückung durch Fremdherrschaft, wie bei den alten Juden, woraus im alten Indien der Drang nach religiösem und philosophischem Denken entsprang, sondern umgekehrt: in der Beschaulichkeit eines von äusserer Not unberührten Lebens, in der Ruhe der Wohlhabenheit entstand der Trieb, über die Stellung des Menschen zur Welt, über Wert und Unwert des menschlichen Lebens nachzudenken.
Anfangs waren es nur die Brahmanen, die sich mit solchen Fragen befassten. Ihre Aufgabe war es ja von alters her, die heiligen Schriften, den Veda, zu studieren, die Opferwissenschaft zu pflegen und einen gelehrten Nachwuchs heranzubilden. Der Veda ist die Gesamtheit der Schriften, denen die brahmanisch gläubigen Inder göttlichen Ursprung zuschreiben. Er umfasst Hymnen, Lieder, Opfersprüche, Vorschriften für die Opferhandlungen und Erklärungen, die im Laufe vieler Jahrhunderte nach und nach entstanden sind. Der Umfang des Veda übertrifft den der Bibel um mehr als das Sechsfache. Seine ältesten Teile sind (nach Deussen, Allgemeine Geschichte der Philosophie 1, 1, S. 41) um etwa 1900 v. Chr. verfasst worden.
Aus der alten Opferkunde, deren Gegenstand die arischen Götter waren, der Donnerer Indra, der Gott des Feuers Agni und der Mondgott Varuna, entwickelte sich Schritt für Schritt eine neue, höhere Weltanschauung, die in den Anhängen zum Veda, in den Upanischaden, den Geheimlehren, ihren Ausdruck fand. Da sprach man von einem Weltschöpfer Prajāpati, an dessen Stelle später das Brahman tritt, der unpersönliche Urgrund aller Dinge, den man mit dem Atman, dem Ich, gleichsetzte.
Das Urproblem des religiösen Denkens war hier wie überall: Was wird aus dem Menschen nach dem Tode? Die Brahmanen der alten Zeit glaubten, dass die Gestorbenen, die sie die «Väter» nannten, auch im Jenseits immer wieder sterben. Der Wiedertod aber konnte, so meinten sie, abgewendet und im Jenseits die Unsterblichkeit erlangt werden durch das Wissen einer bestimmten Geheimlehre. Wer dieses Geheimwissen nicht hat, bleibt sterblich und kehrt nach längerer oder kürzerer Wanderung zur Erde zurück, sei es in Menschen-, sei es in Tiergestalt. So entstand der Seelenwanderungsglaube.
Welchen Weg die Seele nach dem Tode nimmt, den lichten Weg in die Götterwelt, den Weg zurück auf die Erde oder den finsteren Weg in die Unterwelt, die Hölle, das entschied sich nach dem Mass von Verdienst oder Schuld, nach den guten oder bösen Werken, auf Indisch Karma.
Auch wenn die guten Werke überwogen, blieb immer noch der Kreislauf der Seelenwanderung. Wenn die Frucht der guten Werke im Jenseits aufgezehrt war, musste der Mensch wieder hinabsteigen entweder in die Menschenwelt oder in die Tierwelt, in ein Gespensterreich oder in die Hölle, um noch den Rest der bösen Werke abzubüssen. Befreiung, Erlösung aus diesem Kreislauf erwartete man von Prajāpati oder vom Brahman.
Viel wird darüber spekuliert, wie man sich das Brahman oder den Atman vorzustellen habe. Mit den naivsten Gleichnissen fängt es an. Später erst ringt sich die Erkenntnis durch, dass für den Urgrund aller Dinge, für das Absolute, das Brahman oder den Atman, überhaupt keine menschliche Bezeichnung passt. Das All-eine ist, so wird nun gelehrt, Subjekt und Objekt zugleich oder vielmehr weder Subjekt noch Objekt. Der Erkennende und das Erkannte ist ein und dasselbe. In dieser Einheit, in dem grossen Atman, ist ewige Ruhe und Seligkeit, aber kein Leben. In der Vereinigung, in dem Einswerden mit dem Absoluten, dem grossen Atman suchte man die Erlösung.
***
Aus dieser alten vedischen Spekulation heraus entwickelte sich eine philosophische Methode, die als Sankhya bezeichnet wird. Die gegensätzliche Zweiheit der Erscheinungswelt und des ausserweltlichen Absoluten, die in den Veden nur angedeutet war, tritt hier scharf hervor.
Das Grundprinzip der Erscheinungswelt wird hier die Prākriti,
die Grundwesenheit oder Ursubstanz, genannt. Ihr gegenüber steht das
geistige Prinzip, der Pūruscha. Der Pūruscha ist an sich
unfähig, irgend etwas zu tun, er ist blosser Zuschauer, Geniesser
der Prākriti. Aber durch seine Verbindung mit ihr erleidet er das
Leiden der Welt. Prākriti und Pūruscha, Grundwesenheit und
Geist, gleichen hier dem Blinden und dem Lahmen. Der Blinde trägt
den Lahmen aus dem Walddickicht. Der Wald ist das Weltleiden, das ewige,
dunkle Wogen und Wallen der Grundwesenheit, die immer von neuem in gesetzmässiger
Bewegung das Weltall aus sich heraus entfaltet und wieder in sich auflöst.
Und warum hat sich der Pūruscha, der
Geist, so innig mit der Prākriti, der Grundwesenheit, verbunden,
da diese Verbindung ihm doch nur Leiden schafft? Weil er diese Wirkung
nicht vorhergesehen hat, weil er nicht wusste, was daraus entstehen würde.
Deshalb kann er sich von ihr erst lösen, erst die Befreiung vom Leiden
finden, wenn er zum Wissen erwacht, wenn er erkennt, dass er eigentlich
nicht zu ihr gehört.
Dies ist der Unterschied der Erlösungslehre des Sankhya von der des Veda. Im Veda besteht die Erlösung in der Vereinigung des Ich, des individuellen Atman, mit dem All-einen, dem grossen Atman oder Brahman; im Sankhya besteht sie in der Loslösung, in der Trennung des geistigen Prinzips, des Pūruscha, von der Grundwesenheit, der Prākriti, wobei der Pūruscha als Einzelseele zu denken ist.
***
Neben dem Sankhya, das gewissermassen die theoretische Grundlage abgibt, bestand ein Zweites System, das diese Theorie in die Praxis übersetzte: der Yoga. das heisst Hingebung oder Anspannung. Ein System von asketischen Übungen zur Verwirklichung der durch Nachdenken, durch das Sankhya, gewonnenen Erkenntnis. Hilfsmittel dazu sind die Zauberkräfte der Kasteiung. Sie begann mit einer Regelung und Beherrschung des Ein- und Ausatmens. Dazu kam nach gewissen Regeln eine Sammlung des Geistes. Das geistige Auge wurde nach Innen gerichtet. So versenkte sich der Yogin in sich selbst, sammelte sich zu völligem Gleichmut und gelangte schliesslich zu übernormalen Gemütszuständen, in denen er sich ganz losgelöst fühlte von der Welt, von der Prākriti, und die Seligkeit des Erlöstseins genoss.
***
Als die Philosophie des Sankhya und des Yoga ungefähr auf diesem Standpunkt angelangt war, etwa im sechsten Jahrhundert vor Christus, hatte sich bereits jene Verfeinerung des Lebens vollzogen, die oben angedeutet wurde. Jetzt waren es nicht mehr nur Brahmanensöhne, die sich dem Studium der Weltweisheit widmeten, sondern auch junge Adlige und Söhne reicher Kaufleute und andere angesehene Bürger strömten in grosser Zahl als Schüler den berühmten Lehrern zu, die in den grossen Städten wirkten oder, wohl in der Regel, mit ihren Schülern lehrend im Lande umherzogen. Es bildeten sich Philosophenschulen wie im alten Griechenland und geistliche Orden, deren Mitglieder Samanen genannt wurden. Scharfe Kritik wurde an der alten Priesterschaft der Brahmanen geübt. Die Autorität der heiligen Schriften, des Veda, wurde geleugnet. Man spöttelte über den Ritus der Taufe, die schon ein halbes Jahrtausend vor Christus in Indien in Übung war. Auch andere religiöse Gebräuche, vor allem die Opfer, wurden mehr und mehr vernachlässigt. In dieser Zeit herrschte in Indien die vollkommenste Gewissensfreiheit, die je bestanden hat. Umherziehende Lehrer und Prediger philosophierten und stritten miteinander über Endlichkeit und Unendlichkeit der Welt, über Ewigkeit und Vergänglichkeit des Ich, über Dasein oder Nichtdasein einer unsterblichen Seele. Materialisten lehrten, dass mit dem Tode alles vorbei sei.
Auf der andern Seite deuteten volkstümliche Lehrer das schwer fassbare unpersönliche Brahman zu einem persönlichen Gott um. Er hiess jetzt der Brahma. Man stritt über Willensfreiheit und Notwendigkeit. Auch der Fatalismus war vertreten. Ferner begegnen wir Skeptikern, die lehrten: Es gibt keine Wahrheit, oder alles ist gleich wahr und gleich unwahr.
Vertreter aller dieser verschiedenen Richtungen massen ihre Kräfte
in öffentlichen Redekämpfen. Zu solchen Veranstaltungen wurden
oft Fürsten, Bürgermeister, Stadträte und Publikum mit prahlerischen
Ankündigungen eingeladen.
So ungefähr sah das geistige Leben in Indien aus, als um die Mitte des sechsten Jahrhunderts vor Christus der Mann geboren wurde, der später der Buddha hiess.
Eine eigentliche, zusammenhängende Lebensbeschreibung des Buddha aus alter Zeit ist nicht erhalten. Wahrscheinlich hat es nie eine gegeben. Die Zeitgenossen und die Jünger des Buddha haben sich nur für seine Lehre interessiert, nicht für seinen Lebenslauf, ähnlich wie es bei Sokrates war, von dem wir auch keine zusammenhängende Lebensbeschreibung besitzen. Nichtsdestoweniger steht fest, dass der Buddha wirklich gelebt hat und wo er gelebt hat, auch die Zeit lässt sich mit ziemlicher Sicherheit bestimmen. Wollte man die Berichte im Pali-Kanon anzweifeln, die zum Teil schon sehr bald nach dem Tode des Buddha verfasst, wenn auch zunächst mündlich überliefert und erst später aufgezeichnet worden sind, und die eine Menge sehr bestimmter Angaben aus dem Leben des Buddha enthalten, so muss doch jeder Zweifel verstummen gegenüber der (von Bühler und Jacobi entdeckten) Tatsache, dass die Überlieferung einer anderen, noch heute in Indien vertretenen Religionsgemeinschaft, der Jaina-Sekte, deren Gründer ein Zeitgenosse des Buddha war, die buddhistische Überlieferung in vielen Einzelheiten bestätigt. Ausserdem hat man in der Gegend, die als die Geburtsstätte des Buddha bezeichnet wird, im Jahre 1898 einen Reliquienhügel (bei Piprāva im Tarai) gefunden und geöffnet, in dem sich eine Steatiturne befand, deren Inschrift (nach Pischel) lautet:
«Dieser Behälter der Reliquien des erhabenen Buddha aus dem Geschlecht der Schakyas ist die fromme Stiftung der Brüder samt den Schwestern mit Kindern und Frauen.» Die Urne ist in dem oben genannten Buch Pischels abgebildet. Die Lebenszeit des Buddha ist auf 560 bis 480 vor Christus anzusetzen. Von dem Jahre seines Todes sagt Oldenberg («Buddha»), es sei «eines der am sichersten feststehenden Daten der alt-indischen Geschichte; Rechnungen, bei denen sich die Grösse des möglichen Fehlers in ziemlich engen Grenzen bewegt, ergeben, dass er nicht lange vor oder nach dem Jahr 480 vor Christus gestorben ist.»
Die Geburtsstadt des Buddha hiess Kapilavatthu. Sein Vater, ein kleiner Fürst aus dem Geschlecht der Sakya, nannte sich Suddhodana und der Buddha selbst erhielt bei der Geburt den Namen Siddhattha. Sein Geschlecht, die Sakya, Vasallen des Königs von Kósala, hatte nach der Sitte indischer Adelshäuser den Namen eines altvedischen Sängergeschlechts angenommen und nannte sich Gótama. Gótama ist der gebräuchlichste Name des Buddha. Buddha dagegen ist kein Eigenname, sondern ein Titel, wie «Messias» für Jesus und «der Prophet» für Mohammed. Das Wort bedeutet: «der Erwachte, der Erleuchtete».
Glaubwürdig überliefert ist, dass der Buddha vermählt war und einen Sohn hatte. Im Alter von neunundzwanzig Jahren regte sich in ihm der Drang, über die Grundfragen des menschlichen Lebens nachzudenken. Eine spätere Legende erzählt von vier Ausfahrten des jungen Prinzen nach den Gärten vor der Stadt, auf denen sich ihm die Bilder der Vergänglichkeit alles Irdischen nacheinander zeigten in den Gestalten eines hilflosen Greises, eines Schwerkranken und eines Toten. Zuletzt erschien ihm ein Einsiedler, ein Bild des Friedens und der Erlösung. So soll der Prinz Gótama veranlasst worden sein, über das allem menschlichen Dasein anhaftende Leid nachzudenken, Frau und Kind und den glänzenden Hof seines Vaters zu verlassen und sich in der Weltabgeschiedenheit dem Studium der Philosophie zu widmen.
Entstanden ist diese Legende wahrscheinlich aus einer Lehrrede des Buddha, in der er nach Angūttara-Nikāya III, 39 (FN 1), sagte:
«Während ich in Reichtum und Pracht lebte, kam mir der Gedanke: ‚Wenn ein unkundiger Weltling, der doch selbst dem Altern, der Krankheit und dem Sterben ausgesetzt ist, einen Greis oder einen Kranken oder einen Toten erblickt, so empfindet er Unbehagen und Abscheu. Empfände auch ich, der ich doch auch dem Altern, der Krankheit und dem Sterben ausgesetzt bin, beim Anblick eines Greises, eines Kranken oder eines Toten Unbehagen oder Abscheu, so wäre dies nicht recht von mir.‘ Bei diesem Gedanken entschwand mir aller Jugenddünkel, aller Gesundheitsdünkel und aller Lebensdünkel.»
Fußnote 1) Näheres über die Quellenangaben im Anhang.
Zuerst studierte er den Yoga nacheinander bei zwei Lehrern, Alāra Kalāma und Uddaka Ramaputta, von denen er später noch mit grosser Anerkennung sprach. Die Lehre befriedigte ihn aber nicht. Er zog sich deshalb mehrere Jahre in die Einsamkeit zurück und suchte durch strenge Askese eine überirdische Erleuchtung zu erlangen. Fünf andere Einsiedler weilten in seiner Nähe und bewunderten seinen Eifer. Schliesslich aber, als er ganz entkräftet war, sah er ein, dass er auf diesem Wege das Ziel nicht erreichte, und nahm wieder reichlich Nahrung zu sich, um wieder zu Kräften zu kommen. Da verliessen ihn jene fünf, sie hielten ihn für einen Abtrünnigen, der zum Weltleben zurückkehrte.
Der Samana Gótama aber gelangte nun zur Klarheit. Unter einem Baum sitzend, den die Buddhisten den Baum der Erleuchtung, den Bodhibaum, nennen, fand er in einer Nacht seine Lehre: die Ursache des Leidens und den Weg, der zur Aufhebung des Leidens führt. Damit war aus dem Samana Gótama der Buddha geworden.
Zuerst schwankte er, ob er seine Lehre verkünden sollte. Er sagte sich (MN. 26):
«Wozu der Welt verkündigen, was ich errang in schwerer Müh‘?
Denn wer von Gier und Hass erfüllt, kann doch die Wahrheit nicht
verstehn.
Was widrig, tief, geheimnisvoll, gemeinem Sinn verborgen
ist,
Mag schauen nicht, wen Gier ergötzt und Erdennebels Nacht umhüllt.»
Er überwand aber diesen Zweifel und sagte sich oder vielmehr hörte in einer Vision den höchsten Gott Brahma Sahāmpati zu ihm sprechen:
«Es gibt Wesen, die nur wenig von irdischem Trachten erfüllt sind; wenn sie die Lehre nicht hören, gehen sie zugrunde; sie werden die Lehre verstehen.»
Und so begann er seine Lehrtätigkeit. Vierundvierzig Jahre lang zog er, wie die anderen Lehrer, in den Ländern am Ganges umher und predigte. Sein Ruhm wuchs bald und überstrahlte den aller anderen. Die Zahl seiner Jünger, die sich zu einem Mönchsorden zusammenschlossen, ihr Leben der neuen Lehre widmeten und sie weiter verbreiteten, belief sich bald auf mehrere tausend. Sie waren zum grössten Teil Adlige und Brahmanen, wenn auch grundsätzlich bei der Aufnahme in den Mönchsorden nach der Abstammung nicht gefragt wurde. Von ihnen sind vor allem zu nennen: Sariputta, Moggallāna, Kaccāna, Kāssapa, Anuruddha, Subhūti und die Nonne Dhammadinna. Unter den Namen dieser und noch mancher anderen Jünger sind Lehrreden oder Aussprüche überliefert, die zwar vom Buddha ausdrücklich gebilligt wurden, aber doch deutlich als selbständige Beiträge zu erkennen sind. Sie gehören zum ursprünglichen Buddhismus genau so wie die Reden und Aussprüche des Buddha selbst. Ein anderer oft genannter Jünger, Ananda, ein Vetter und lange Zeit dienender Begleiter des Buddha, zeichnete sich durch ein besonders gutes Gedächtnis aus; er konnte Aussprüche und sogar lange Reden, die er einmal gehört hatte, noch nach langer Zeit wortgetreu wiedergeben. Auf seinen Berichten beruht ein grosser Teil der ältesten buddhistischen Überlieferung.
Der Buddha starb im Alter von achtzig Jahren in der Nähe des Städtchens Kusināra, nicht weit von der heutigen Grenze zwischen Indien und Nepal.
Die Sprache, in der der Buddha seine Lehrreden hielt, war nach der Überlieferung
dieselbe, in der der Pali-Kanon geschrieben ist. Unter den europäischen
Gelehrten gehen die Ansichten darüber auseinander. Pischel und
andere meinen, der Buddha habe die Mundart des Landes, in dem er sich meist
aufhielt, Māgadhi, gesprochen und Pali sei eine Mundart aus dem
westlichen Indien, vermutlich aus dem heutigen Gūjarat. Wahrscheinlich
haben aber Windisch, Geiger und Walleser recht, nach deren
Meinung Pali doch die Sprache des Buddha war. «Diese Sprache»,
sagt Geiger (Pali, Literatur und Sprache, 1916), «war nun aber gewiss
kein reiner Volksdialekt, sondern eine darüber stehende Hoch- und
Gebildetensprache, wie schon in vorbuddhistischer Zeit die Bedürfnisse
des Verkehrs in Indien sie geschaffen hatten. Eine solche Lingua franca
enthielt naturgemäss Elemente aus allen Dialekten, wird sich aber
gerade von den auffallendsten mundartlichen Erscheinungen freigehalten
haben. Aber sie war gewiss nicht vollkommen einheitlich. Sie musste anders
klingen in dem Munde eines Mannes aus dem Māgadhaland als in dem
eines Mannes aus den Gauen der Kósala und Avanti, so wie das Hochdeutsche
eines gebildeten Württembergers, Sachsen oder Hamburgers verschiedenartige Färbungen hat. Da nun der Buddha, obgleich selbst kein Māgadha,
seine Haupttätigkeit im Māgadhaland und in den angrenzenden
Gebieten entfaltete, so wird die Māgadhi seiner Sprache ihren besonderen
Charakter verliehen haben. Man könnte diese Sprache daher wohl als
eine Māgadhi bezeichnen, wenn sie auch die groben mundartlichen
Eigentümlichkeiten dieses Dialekts vermied.» Das Pali verhält
sich zum Sanskrit ähnlich wie das Italienische zum Lateinischen.
Im Mahaparinibbānasutta, dem grossen Bericht über die letzten Tage des Buddha, hören wir, wie der Buddha ganz kurz vor seinem Hinscheiden noch einen andersgläubigen Geistlichen namens Subhadda empfing, der von ihm belehrt zu werden wünschte. Subhadda fragte den Buddha, was er von den Lehren der anderen berühmten Schulhäupter halte, deren es damals im Gangeslande mehrere gab, und der Buddha antwortete (dem Sinne nach): «Diese Frage wollen wir auf sich beruhen lassen, aber ich will dir sagen, worauf es bei meiner Lehre vor allem ankommt: Das ist der edle achtfache Weg.» Den setzte er ihm auseinander und Subhadda wurde dadurch bekehrt und bat um Aufnahme in die buddhistische Mönchsgemeinde. So wurde er der letzte Jünger, den der Buddha selbst bekehrt hatte.
Mit dem edlen achtfachen Weg hatte der Buddha seine Lehrtätigkeit auch eröffnet. Die erste Rede, die er hielt, nachdem er zur Wissensklarheit, zur Erleuchtung gelangt war, die Rede von Benares, beginnt mit dem edlen achtfachen Weg. Er ist in der Tat Anfang und Ende und Kern der Buddhalehre. Bei allen Wandlungen, die der Buddhismus im Laufe der Jahrhunderte und in den verschiedenen Ländern erlitten hat, ist der edle achtfache Weg unverändert geblieben, und überall in der Welt, wo sich Menschen zum Buddha bekennen, da bekennen sie sich zum edlen achtfachen Weg, so verschieden auch sonst ihre Anschauungen sein mögen.
Die acht Glieder des Weges sind diese: rechte Anschauung, rechte Gesinnung, rechtes Reden, rechtes Tun, rechte Lebensführung, rechter Kampf, rechtes Gedenken und rechte Sammlung. In dieser kurzen, in den Lehrtexten sehr oft wiederkehrenden Formel vom achtfachen Wege steckt die ganze Buddhalehre. Um zu ihr zu gelangen, müssen wir Glied für Glied vornehmen und auseinanderfalten.
***
Wer den achtfachen Buddhaweg beschreiten will, muss schon ein Mindestmass von rechter Anschauung mitbringen. Er muss von vornherein überzeugt sein, dass es nicht gleichgültig ist, ob der Mensch sittlich oder unsittlich lebt, dass es noch etwas gibt, das mit unseren Sinnen nicht ohne weiteres wahrgenommen werden kann, wie die sichtbare, greifbare Welt, dass liebevolle und ehrfürchtige Gesinnung gegen die Eltern und Vorfahren eine wertvolle Tugend ist und dass es Menschen gibt, die Einblick in die andere Welt haben und ihr Wissen darüber mitteilen können. Der Buddha drückt diese erste Voraussetzung, um sie recht deutlich zu machen, negativ und positiv aus. Er sagt zuerst, was falsche Anschauung ist, und dann, was rechte Anschauung ist (MN. 117):
Was ist falsche Anschauung? «Spenden hat keinen Wert, Opfern hat keinen Wert, Darreichung hat keinen Wert, es gibt keine Frucht, keine Vergeltung der guten und bösen Taten, diese Welt ist nicht, es gibt keine andere Welt, ‚Mutter' ist ein leerer Begriff, ‚Vater‘ ist ein leerer Begriff, ‚rein geistige Wesen‘ ist ein leerer Begriff, es gibt in der Welt keine vollkommen lebenden Samanen und Brahmanen, welche diese Welt und die andere Welt aus eigener Kraft wirklich erkannt haben und erklären können.» Dies ist falsche Anschauung.
Was ist rechte Anschauung? «Spenden ist von Wert, Opfern ist von Wert, Darreichung ist von Wert, es gibt eine Frucht, eine Vergeltung der guten und schlechten Taten, ausser dieser Welt gibt es eine andere Welt, ‚Mutter‘ ist kein leerer Begriff, ‚Vater‘ ist kein leerer Begriff, ‚rein geistige Wesen‘ ist kein leerer Begriff, es gibt in der Welt vollkommen lebende Samanen und Brahmanen, welche diese Welt und die andere Welt aus eigener Kraft wirklich erkannt haben und erklären können.» Dies ist rechte Anschauung.
Es muss also eine gewisse aufgeschlossene Grund-Stimmung vorhanden sein, wenn die Lehre auf empfänglichen Boden fallen soll. Wer die hier bezeichnete falsche Anschauung hat, dem hat der Buddha nichts zu sagen. Zur rechten Anschauung gehört aber noch mehr: die Erkenntnis der vier edlen Wahrheiten, nämlich der Wahrheit vom Leiden, der Wahrheit vom Ursprung des Leidens, der Wahrheit vom Ende des Leidens und der Wahrheit von dem zum Ende des Leidens führenden Pfad.
Schon hier, am Anfang, tritt uns eine Eigentümlichkeit des Buddhismus entgegen, die ihn von allen Glaubensbekenntnissen unterscheidet: Sein Ausgangspunkt, sein Fundament ist nicht ein Glauben, sondern ein Erkennen, ein Wissen. Der Buddha sagt einmal (MN. 38) zu seinen Jüngern, nachdem er ihnen einen schwierigen Teil der Lehre dargelegt hatte: «Würdet ihr sagen:
Wir hegen Ehrfurcht vor dem Meister und aus Ehrfurcht vor dem Meister reden wir also?» Sie antworteten: «Nein, Herr, das würden wir nicht!» — «Oder würdet ihr sagen: ‚Ein Samana spricht so und viele Samanen, wir sind es nicht selbst, die so reden‘?» «Nein, Herr, das würden wir nicht!» «Oder würdet ihr euch nur zu dem bekennen, was ihr selbst erkannt, selbst geschaut, selbst erfahren habt?» «Ja, Herr, das würden wir tun.»
An einer anderen Stelle (AN. III. 66) wird erzählt, wie der Buddha auf seiner Wanderung im Lande der Kósola nach dem Marktflecken Kesaputta kommt und dort von den Einwohnern hört, sie seien im Zweifel, welcher von den verschiedenen Samanen und Brahmanen, die ihre einander widerstreitenden Lehren vortragen und sich gegenseitig bekämpfen, nun eigentlich Wahres und welcher Falsches lehre. Der Buddha erklärt ihren Zweifel für berechtigt und sagt zu ihnen:
«Richtet euch nicht nach Hörensagen, nicht nach einer Überlieferung, nicht nach einer blossen Behauptung, nicht nach der Mitteilung heiliger Schriften, nicht nach blossen Vernunftgründen und logischen Deduktionen, nicht nach äusseren Erwägungen, nicht nach der Übereinstimmung mit euren Ansichten und Grübeleien, denkt nicht: ‚Der Samana ist unser Lehrer (darum wollen wir ihm glauben)‘; sondern wenn ihr selbst erkennt, dass diese oder jene Dinge schlecht und verwerflich sind, von Verständigen getadelt und, ausgeführt oder begonnen, zum Unheil und Leiden führen, so sollt ihr sie verwerfen.» Dann gibt er ihnen eine Anleitung, wie sie die Prüfung anstellen sollen.
Er fragt sie, ob Taten, die aus Begierde, aus Hass oder aus Verblendung entspringen, wie Tötung lebender Wesen, Diebstahl, Ehebruch, Lüge, dem Täter zum Heil oder zum Unheil gereichen, und da sie ihm die richtige Antwort geben und auch erkennen, dass das Gegenteil, eine von Begierde, Übelwollen und Verblendung freie Gesinnung gegenüber allem, was lebt, zum Heil und Segen führt, rät er ihnen, sich mit dieser Erkenntnis zufrieden zu geben und nicht weiter nachzugrübeln, denn wessen Geist so frei von Hass und Übelwollen, unverdorben und rein sei, der dürfe sich sagen: «Wenn es eine andere Welt gibt und einen Zustand, in dem Frucht und Vergeltung der guten und schlechten Taten sich einstellen, so werde ich nach dem Tode im Himmelreich wieder erscheinen; gibt es aber keine andere Welt und keine Frucht und Vergeltung der guten und schlechten Taten, so halte ich mich eben hier in dieser Welt frei von Hass und Übelwollen, schuldlos und glücklich.»
Wie man die Wahrheit einer Lehre prüfen soll, hat der Buddha in einem Gespräch mit einem jungen Brahmanen ausführlich dargelegt (MN. 95): «Nachdem man den Lebenswandel eines Lehrers, seine Art zu handeln und zu reden, beobachtet und sich über seinen Charakter ein günstiges Urteil gebildet hat, fasst man Vertrauen zu ihm. Darauf nähert man sich ihm, gesellt sich ihm zu, leiht ihm Gehör und hört seine Lehre an. Hat man sie gehört, so behält man sie im Gedächtnis. Hat man die Lehrsätze behalten, so macht man sich ihren Sinn klar. Hat man ihren Sinn erfasst, so gewähren sie einem Einsicht. Darauf neigt man sich ihnen zu und lässt sie (vorläufig) gelten, dann wägt man sie ab. Hat man sie abgewogen, so wendet man sie praktisch an. Hat man sie praktisch angewandt, so versteht man durch Erfahrung ihren Wahrheitsgehalt, und weise durchdringend schaut man ihn. Auf diese Weise erkennt man die Wahrheit.»
Wer dem Buddha folgen will, der soll nicht glauben, sondern selbst erkennen. Er soll aber die Buddha-Lehre nicht nur kennenlernen, um über sie mitreden zu können, sondern, wenn er sie als wahr erkannt hat, sie auch im Leben befolgen, um ihre heilsame Wirkung an sich selbst zu erfahren. Hierüber sagt der Buddha (MN. 22):
«Manche Toren eignen sich die Lehre an, untersuchen dann aber nicht weise den Sinn der Lehrsätze und erlangen infolgedessen keine Einsicht in die Lehre. Sie erlernen die Lehre nur, um über sie reden und Meinungen äussern zu können. Den Zweck aber, um dessen willen man die Lehre erlernt, begreifen sie nicht. Ihnen gereichen die falsch angefassten Lehren für lange Zeit zum Unheil und Leiden, und zwar deshalb, weil sie sie falsch angefasst haben. Das ist so, als wenn ein Mensch, der Schlangen sucht, eine grosse Schlange fände und sie am Leib oder am Schwanz anfasste. Da würde die Schlange sich auf ihn stürzen und ihm in die Hand, in den Arm oder in andere Glieder beissen, so dass er infolgedessen sterben und tödliche Schmerzen erleiden würde, und zwar deshalb, weil er die Schlange falsch angefasst hat.»
Bereits in der ersten Rede, die der Buddha nach seiner Erleuchtung hielt - es war die Rede vor seinen fünf Studiengenossen im Gazellenhain zu Benares - sagte er: «Wie ich lehre, so tuet, und ihr werdet bald jenes höchste Ziel heiligen Strebens, um deswillen ehrbare Männer in die Heimatlosigkeit ziehen, noch in diesem Leben selbst erkennen, schauen und zu dauerndem Besitz gewinnen.» Und auf seiner letzten Wanderung, kurze Zeit vor seinem Hinscheiden, sprach er: «Suchet eure Rettung und eure Zuflucht in euch selbst und nirgends sonst, lasset die Wahrheit eure Rettung und eure Zuflucht sein und nichts sonst!»
Verworfen wird also aller Autoritätsglaube, aller Offenbarungsglaube,
gefordert aber ernstes Streben nach eigener Erkenntnis und praktische Anwendung
des als richtig Erkannten. Zu prüfen und zu erkennen ist zunächst
die «edle Wahrheit vom Leiden».
Die Unbeständigkeit - Die Lehre vom Nicht-Ich - Die drei Merkmale
Der Buddha lehrt:
«Geburt ist Leiden, Altern ist Leiden, Krankheit ist Leiden,
Tod ist Leiden, Kummer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung sind Leiden.
Mit Unlieben verbunden sein, von Lieben getrennt sein, ist Leiden.
Nicht erlangen, was man wünscht, ist Leiden.
Zusammenfassend: Die ‚fünf Gruppen des Ergreifens‘ sind leidbringend.»
«Leiden» ist die in den deutschen Übersetzungen übliche Wiedergabe des Pali-Worts «dukkha», deckt sich aber nicht ganz mit ihm. Der Begriff «dukkha» reicht weiter als der Begriff «Leiden», er umfasst auch das Unzulängliche, Unbefriedigende, Unvollkommene. Wenn im Folgenden das Wort «Leiden» gebraucht wird, so ist es in diesem Sinne gemeint.
Der vierteilige Lehrsatz vom Leiden lässt sich auch so ausdrücken: «Soweit Zeit, Raum und Kausalität reichen, also im ganzen Bereich unserer Erfahrung, ist alles unzulänglich und unvollkommen.» Die uns geläufigen Ausdrücke Zeit, Raum und Kausalität finden sich zwar nicht im Palikanon, es ist aber trotzdem nicht unberechtigt, sie hier zu gebrauchen, denn es lässt sich zeigen, dass die Begriffe, die wir mit diesen Worten verbinden, dieselben sind, die der Buddha der Einteilung der Wahrheit vom Leiden zugrunde gelegt hat, und es ist ebenso statthaft als zweckmässig die aus einer fernen Zeit und aus einem fernen Lande stammenden, uns fremd anmutenden Ausdrücke dadurch unserem Verständnis nahezubringen, dass wir sie durch ihnen inhaltlich entsprechende Ausdrücke unseres Vorstellungskreises erläutern.
Wenn der Buddha aufzählt: Geburt, Altern, Krankheit und Tod mit ihren Begleiterscheinungen, so gibt er damit die zeitlichen Abschnitte an, in denen unser Leben verläuft, und zwar vom ersten bis zum letzten Augenblick des irdischen Daseins. Wir dürfen also dafür sagen: alles Leben, unter der Anschauungsform der Zeit betrachtet. Der Raum als die subjektive Bedingung der äusseren Anschauung kommt uns am unmittelbarsten dadurch zum Bewusstsein, dass wir die Nähe des uns Unangenehmen, Unwillkommenen und die Trennung von dem Angenehmen, Begehrten als Unlust empfinden. Daher kann uns die Formel «Mit Unlieben verbunden, von Lieben getrennt sein» als die Veranschaulichung des Raumes gelten. Ebenso ist «Nicht erlangen, was man wünscht», der einfachste und unmittelbarste Ausdruck dafür, dass wir uns einer von unserem Willen unabhängigen und unseren Willen durchkreuzenden Ordnung des Geschehens bewusst werden, die wir als das Gesetz von Ursache und Wirkung oder als Kausalität bezeichnen.
In den «fünf Gruppen des Ergreifens» wird noch einmal die gesamte Erscheinungswelt, das ganze der Erfahrung zugängliche Dasein, unter dem Gesichtspunkt des Subjekts, der Individualität, zusammengefasst. Die menschliche Individualität besteht nach dem Buddha aus fünf Aufbau-Elementen oder Gruppen (khandha); sie heissen: körperliche Gestalt, Empfindung, Wahrnehmung, Sankhāra und Bewusstsein.
Die Gruppe der körperlichen Gestalt wird im Mājjhima-Nikāya 28 erklärt als «die vier grossen Gebilde und die von ihnen abhängige körperliche Gestalt». Die grossen Gebilde sind «das Erd-Element, das Wasser-Element, das Feuer-Element und das Luft-Element». Das Wort «Element» bezeichnet hier nicht, wie in der modernen Chemie, Grundstoffe, überhaupt nichts Stoffliches oder Materielles, sondern Empfindungs-Korrelate: Alles, was als fest empfunden wird, gilt als Erd-Element, was als flüssig empfunden wird, als Wasser-Element, was als warm empfunden wird, als Feuer-Element, und was als hauchartig bewegt und flüchtig empfunden wird, als Luft-Element. «Körperliche Gestalt» ist demnach alles, was als sichtbar und raumfüllend empfunden wird, sowohl die körperliche Objektivierung des Menschen, die eigene Individualität, als auch die körperlichen Dinge überhaupt. Als eigene Körperlichkeit ist die körperliche Gestalt ausgestattet mit den Sinnesorganen.
Sobald die Sinne mit den Dingen in Berührung kommen, entsteht die Zweite Gruppe, die Empfindung.
Empfindung ist die Voraussetzung dafür, dass die dritte Gruppe, die Wahrnehmung, zustande kommt.
Empfindung bedeutet hier sowohl den Akt, das Empfinden, als auch den Inhalt, das Empfundene; Wahrnehmung sowohl das Wahrnehmen als auch das Wahrgenommene. (FN 1)
Fußnote (1) Von der Empfindung sagt Schopenhauer in sein er Abhandlung über den «Satz vom Grunde» (IV § 21, S. 51 der Ausgabe letzter Hand) treffend, sie sei nichts weiter als ein subjektives Gefühl, das als solches gar nichts Objektives, also nichts einer Anschauung Ähnliches enthalten kann. «Erst wenn der Verstand . . . in Tätigkeit gerät, . . .‚ geht eine mächtige Verwandlung vor, indem aus der subjektiven Empfindung die objektive Anschauung wird.» (Was Schopenhauer Anschauung nennt, ist dasselbe, was im Buddhismus meist Wahrnehmung genannt wird.) Der Verstand nämlich fasse, sagt Schopenhauer weiter, die Empfindung als eine Wirkung auf, die als solche notwendig eine Ursache haben müsse. Zugleich nehme er den Raum (die Vorstellungsform des Raums), um jene Ursache ausserhalb des Organismus zu verlegen. Denn dadurch erst entstehe ihm das Ausserhalb, dessen Möglichkeit eben der Raum sei. Man vergleiche hiermit die oben folgende Darstellung Mahakaccānas in MN. 18.
Wahrnehmung ruft die vierte Gruppe, die Sankhāra, hervor. Für Sankhāra gibt es kein gleichwertiges deutsches Wort. Man hat das Pali-Wort mit «Gestaltungen», «Bildekräfte» oder «Gemütsregungen» übersetzt, aber alle diese Worte sind missverständlich und geben den Begriff nicht ganz richtig wieder. Das Wort Sankhāra hat je nach dem Zusammenhang, in dem es vorkommt, verschiedene Bedeutungen. Hier, als vierte der fünf Gruppen, umfasst es alle seelischen Vorgänge ausser Empfindung und Wahrnehmung, besonders die unbewussten seelischen Vorgänge, die alle Körperfunktionen begleiten, und auch die, aus denen Begriffe, Vorstellungen und Willensregungen hervorgehen.
Die fünfte Gruppe, das Bewusstsein, benennt man je nach dem, wodurch es in Erscheinung tritt (MN. 38) als Sehbewusstsein, Hörbewusstsein, Riechbewusstsein, Schmeckbewusstsein, Tastbewusstsein und Denkbewusstsein.
Das Ergreifen, das in diesen fünf Gruppen in Erscheinung tritt, ist ein einheitlicher Vorgang; nicht die Gruppen werden ergriffen, sondern das Ergreifen vollzieht sich in den Gruppen.
Die fünf Gruppen können auch von einer anderen Seite betrachtet werden. Im 18. Bericht des MN. billigt der Buddha folgende Darlegung seines Jüngers Mahakaccāna:
«Bedingt durch die Sinne und die ihnen entsprechenden Gegenstände entsteht das Bewusstsein (Gruppe 5), und zwar bedingt durch das Gesicht und das Sichtbare das Sehbewusstsein, durch das Gehör und die Töne das Hörbewusstsein, durch den Geruch und die Düfte das Riechbewusstsein, durch den Geschmack und die Säfte das Schmeckbewusstsein, durch den Tastsinn und das Tastbare das Tastbewusstsein, durch den Verstand und die Vorstellungen das Denkbewusstsein. Das Zusammentreffen der drei - Sinn, Gegenstand und Bewusstsein - ist Berührung. Bedingt durch Berührung entsteht Empfindung (Gruppe 2). Was man empfindet, das nimmt man wahr (Gruppe 3). Von dem, was man wahrnimmt, bildet man Begriffe und Vorstellungen (Gruppe 4) (FN 1). Wovon man Begriffe und Vorstellungen bildet, das breitet man aus als Körperwelt (Gruppe 1) (FN 2). Auf diese Weise kommt für den Menschen die Anschauung der Welt gemäss den früher oder später ins Bewusstsein tretenden Sinneswahrnehmungen zustande.»
Fußnote (1) Hier steht im Text an Stelle von sankhârâ das Verbum vitakketi = «Begriffe und Vorstellungen bilden», womit Mahakaccāna die Bedeutung der 4. Gruppe genauer umschrieben hat.
Fußnote (2) papanceti. Dass man das, was man wahrnimmt, tatsächlich
als Körperwelt ausbreitet, kann man leicht einsehen, wenn man den
Vorgang des Sehens betrachtet. Alles Sehen beruht auf Lichtempfindungen.
Eine Lichtempfindung entsteht dadurch, dass Ätherschwingungen von
einer gewissen Wellenlänge - etwa 0,40 bis 0,76 tausendstel Millimeter
Wellenlänge - unser Auge treffen. Der Strahl selbst, der das Auge
trifft, ist noch kein Licht, sondern das Licht ist ein Erzeugnis unseres
Gesichtssinnes, es ist die Reaktion des Gesichtssinns auf den Reiz, den
der auffallende Strahl auf das Auge oder den Sehnerv ausübt. Wir sehen
überhaupt kein der Aussenwelt angehöriges Licht, sondern nur
Licht, das unserem Leibe angehört, und aus dem erst durch Vermittlung
des Sehnervs entstehenden Licht setzen sich die Gebilde zusammen, die wir
sehen. Selbst das Bild der leuchtenden Sonne am Himmel ist demnach ein
Erzeugnis unseres Gesichtssinns. Es gibt kein an sich existierendes Licht,
sondern es gibt in der Aussenwelt nur lichtlose Ursachen, die das Gebilde
des Lichts in unserem Leibe entstehen lassen. Nur die lichtlosen Ursachen
der Lichtempfindung gehören der Aussenwelt an, dagegen die Wirkung,
die Lichtempfindung, das heisst das Licht selbst, gehört ausschliesslich
dem lebendigen Organismus an. Das Licht und die Sehgebilde treten nun aber
nicht innerhalb der Grenzen unseres Leibes auf, sondern jenseits seiner
Grenzen, oft in grosser Entfernung. Wenn wir eine Landschaft mit der Sonne
am Himmel sehen, so geschieht folgendes: In unserm Gesichtssinn entsteht
das Bild der Landschaft mit dem hell leuchtenden Bild der Sonne und wird
von uns weit ausserhalb unseres Leibes, rund um uns und über uns,
wahrgenommen. Wir also sind es, die das, was durch Vermittlung unseres
Gesichtssinns in unserm Leibe als Licht und Sehgebilde entsteht, um uns
herum ausbreiten als Körperwelt.
Wenn wir hier davon ausgingen, dass Lichtempfindungen
durch Ätherschwingungen hervorgerufen werden, so folgten wir der Lehre
der klassischen Physik. Nach der neueren Quantentheorie muss man jedoch
annehmen, dass das, was die Lichtempfindungen erzeugt, nicht Schwingungen
oder Wellen, sondern sehr kleine Körperchen sind, die jetzt Photonen
genannt werden und deren Masse und Impuls man berechnen kann. Damit lassen
sich aber wieder die bei der Beugung des Lichts auftretenden Erscheinungen
nicht erklären. Kurz, man weiss nicht, ob das, was der Lichtempfindung
zugrunde liegt, als Wellen oder als Körper aufzufassen ist. Das eine
und das andere sind Fiktionen, deren Zweckmässigkeit für die
Wissenschaft zwar nicht zu bestreiten ist, die aber gleichwohl in sich
widerspruchsvoll sind und schon deshalb der Wirklichkeit nicht entsprechen.
Die Zweckmässigkeit beweist nichts für die Richtigkeit, wie Vaihinger
nachgewiesen hat. Jenes Etwas, das uns nötigt, wenn wir das Auge zum
Sehen öffnen, Lichtempfindungen zu haben, ist gänzlich unbekannt
und nach dem heutigen Stand der Physik auch unbestimmbar. Sicher ist nur,
dass es kein Licht ist, sondern dass das Licht erst in unserm Organismus
entsteht.
Ebenso entstehen auch die Töne durch
Vermittlung des Ohrs und des Gehörnervs in unserm Leibe; ausserhalb
gibt es nur tonlose Schallwellen; aber die in unserm Leibe entstehenden
Töne nehmen wir ausserhalb der Grenzen unseres Leibes wahr. Dabei
erkennen wir auch die Richtung, in der sie auftreten, aber nicht oder wenigstens
nicht so genau, wie bei den Sehgebilden, die Entfernung. Noch weniger klar
bestimmt ist der Ort der Wahrnehmung beim Geruchs- und beim Geschmackssinn,
aber auch der Duft, den wir riechen, und der Saft, den wir schmecken, wird
nicht am Ende der Geruchsoder Geschmacksnerven wahrgenommen, sondern ausserhalb
unseres Leibes. Die Tastempfindung entsteht durch einen Reiz, den ein Körper
auf das Tastorgan, z.B. den Finger, mit dem er in Berührung kommt,
ausübt. Durch die Tastempfindung entsteht ein Tastgebilde, das in
uns die Vorstellung von einem Ort im Raum hervorruft. Bewegen wir nun den
Finger tastend um den Körper herum, so entstehen nach und nach viele
Tastgebilde, die wir vermöge unserer Phantasie zusammenfügen
zum Tastgebilde einer Fläche, und die durch Tasten wahrgenommenen
Flächen setzen wir zusammen zu Körpern. So ist es zu verstehen,
dass wir alles, was wir mit den Sinnen wahrnehmen, als Körperwelt
ausbreiten. (Näheres hierüber: Ernst Marcus, «Das Problem
der exzentrischen Empfindung und seine Lösung», Berlin 1918.)
In dieser Darlegung Mahakaccānas erscheinen die fünf Gruppen in anderer Reihenfolge als in der ersten «edlen Wahrheit» und werden als die Aufbau-Elemente der ganzen Erfahrungswelt betrachtet. (1) Dasselbe spricht der Buddha, ohne die Gruppen einzeln aufzuzählen, an anderer Stelle (AN. IV, 45) mit folgenden Worten aus:
«Ich verkünde, dass in diesem klaftergrossen, bresthaften Leib mit seinem Wahrnehmen und Denken die Welt liegt und die Entstehung der Welt und die Aufhebung der Welt und der Pfad, der zur Aufhebung der Welt führt. Durch Wandern ist das Ende der Welt niemals zu erreichen. Und doch gibt es, wenn man das Ende der Welt nicht erreicht hat, keine Befreiung vom Leiden. Deshalb, wahrlich, ersehnt der Weise, der die Welt kennt, der zum Ende der Welt geht und ein heiliges Leben führt, nachdem er das Ende der Welt, das er erkennt, verwirklicht hat, für sich weder diese noch eine andere Welt.»
Fußnote (1) Mahakaccāna gibt in den oben angeführten Sätzen den Kern einer vollständigen Erkenntnislehre, die im wesentlichen mit der Lehre Kants übereinstimmt. Die Übereinstimmung tritt besonders deutlich hervor, wenn man die entsprechenden Ausführungen von Ernst Marcus in «Kants Weltgebäude, Seite 129 ff. vergleicht: «Es würde uns gar nichts nützen, wenn wir nur Empfindungen hätten. Ohne Erinnerung ist die Empfindung so gut wie nichts, denn in jedem Moment, wo sie auftritt, würde sie vergessen sein. ... Wirklich als Sinneserscheinung ist nur das, was die Gegenwart erfüllt. Die sinnliche Gegenwart aber ist nichts als die ausdehnungslose Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft. ... Die Erkenntnis liegt dagegen in jener innerlichen, neu entstandenen, von uns selbst gebildeten Vorstellung, die keinerlei sinnlichen, sondern intellektuellen Charakter hat und Begriff heisst. Der Begriff ist demnach eine zweite, neben der sinnlichen bestehende Vorstellung, die zu leisten vermag, was die Sinnesvorstellung nicht leistet. ... Der Begriff enthält in verschiedenen Zeiten stets dasselbe, und wir können, was im Begriff liegt, nach Belieben in jede Zeit, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft versetzt denken. Daher eben schafft der Begriff die Erinnerung des Vergangenen, aber er schafft zugleich die Voraussicht oder Erwartung des Zukünftigen. Denn wir erwarten, den Gegenstand in Zukunft wiederzufinden und wiederzuerkennen. ... Der Begriff macht aus einer zeitlichen Vielheit oder Mannigfaltigkeit eine intellektuelle oder logische Einheit. ... (S. 139) Empfindung und Anschauung enthalten noch keinerlei Erkenntnis, bringen auch nicht einmal Erkenntnis hervor. Sie enthalten nur den Stoff, der erkannt werden soll und kann. Dieser durch die Sinne gegebene Stoff ... ist unbekannt und wird uns erst dadurch bekannt, dass wir selbst aus eigenen Mitteln uns eine neue Vorstellung, den Begriff, bilden, der die Bedeutung des durch die Sinnlichkeit gegebenen noch unbekannten Stoffes enthält. Ist dieser Begriff gebildet, so ist mit einem Schlage der Stoff bekannt, d. h. zum Gegenstand geworden.»
Leidbringend sind die die Welt aufbauenden fünf Gruppen insofern, als in ihnen oder durch sie das «Ergreifen» zustande kommt. «Es gibt kein Ergreifen ausserhalb der fünf Gruppen. Das Ergreifen ist hier der triebhafte Wille.» (SN. XXII, 82, 6 und MN. 109). Die Zusammenfassung «die fünf Gruppen des Ergreifens sind leidbringend» will also besagen: «Das individuelle, auf dem triebhaften Willen beruhende Dasein ist leidbringend oder unbefriedigend.»
Der Buddha verkennt nicht, dass es auch Freude und Lust, hohe und edle Genüsse im Leben gibt, aber das braucht er nicht besonders zu betonen, da es die Menschen ohnehin wissen. Was sie aber im allgemeinen nicht wissen oder worüber sie sich wenigstens meist nicht klar sind, das ist, dass trotz alles Schönen und Erfreulichen im Leben das Endergebnis doch immer und notwendig unbefriedigend ist. Dass dies klar erkannt und deutlich eingesehen werde, ist dem Buddha das wichtigste. Darum hat er den Beweis dafür seinen Jüngern immer wieder eingeprägt.
***
Woran erkennt man untrüglich, was beglückend und was unbefriedigend ist? Nur daran, ob etwas beständig oder unbeständig ist. Unbeständigkeit oder Vergänglichkeit ist das Kennzeichen der Unvollkommenheit. Nur das Beständige, Unvergängliche ist vollkommen, ist also wahrhaft beglückend. Alles, was einmal vergehen muss, mag es auch im Augenblick als noch so grosses Glück erscheinen, endet mit Leid, und dieses Leid der Unbeständigkeit wirft seinen Schatten schon im voraus auf das scheinbare Glück und beeinträchtigt es. Je glücklicher ein vergänglicher Zustand ist, um so grösser ist bei seinem Ende das Leid. Ein leidvoller aber verwandelt sich durch sein Vergehen nicht in wahres Glück, wenn der ihm folgende leidfreie wiederum unbeständig ist.
Von dieser Grundwahrheit ausgehend, ist zu beweisen, dass alles Leben
unbefriedigend und leidbringend ist, denn alles Leben ist eine Kette von
Werden und Vergehen. Gerade um diesen Beweis möglichst anschaulich
zu machen und gegen jeden Zweifel zu sichern, hat der Buddha die Zerlegung
der Individualität in die fünf Gruppen gelehrt. Er fragt (Mahavagga
1, 6, 42; MN. 109; SN. XXII, 82):
«Was meint ihr wohl: ist die körperliche
Gestalt beständig oder unbeständig?» Die Antwort lautet:
«Unbeständig». - «Was aber unbeständig ist,
ist das beglückend oder unbefriedigend?» «Unbefriedigend.»
«Ist die Empfindung, ist die Wahrnehmung, sind die Sankhāra
(die unbewussten seelischen Vorgänge), ist das Bewusstsein beständig
oder unbeständig?» - «Unbeständig.» - «Was
aber unbeständig ist, ist das beglückend oder unbefriedigend?»
- «Es ist unbefriedigend.»
Da die Individualität in den fünf Gruppen aufgeht, ist hiermit die edle Wahrheit vom Leiden bewiesen.
Der Buddha begnügt sich aber nicht mit dem einfachen verstandesmässig zu erfassenden Beweis, sondern bemüht sich, seinen Jüngern die Unbeständigkeit alles dessen, was im Bereich unserer Erfahrung liegt, und besonders die Unbeständigkeit unserer eigenen Individualität mit greifbarer Anschaulichkeit einzuprägen. Anschaulich sollen wir uns vorstellen, wie unser Leib und wie alles Seelische und Geistige an uns von der Zeugung an über die Geburt und die Kindheit hinweg bis zur Gegenwart sich entfaltet hat, wie es sich täglich und stündlich, ja mit jedem Atemzuge ändert und wie es dereinst, wir wissen nicht wie bald, zerfallen wird, so dass nichts übrig bleibt als ein hässlicher, verwesender Leichnam ohne Empfindung, ohne Wahrnehmung, ohne Sankhāra und ohne Bewusstsein, und wie dann die ganze Welt mit ihren leiblichen und geistigen Genüssen für uns dahin ist.
Der Buddha hat hierfür eine Denkübung empfohlen. Über ihre Bedeutung als Meditation ist weiter unten zu reden. Hier handelt es sich nur um ihren gedanklichen Inhalt. Zunächst sinnt man längere Zeit darüber nach, wie Körper gesetzmässig entstehen und wieder vergehen: Zeugung, Geburt, Altern, Krankheit, Tod mit allen ihren unbefriedigenden Begleiterscheinungen. Hat man sich das Entstehen und Vergehen des Körpers genügend zur Anschauung gebracht, so zergliedert man in Gedanken den Körper in seine anatomischen Bestandteile: «Man betrachtet diesen Körper gründlich von der Fussohle aufwärts und vom Scheitel abwärts, ihn, der durch die Haut begrenzt und mit allerlei unreinen Dingen angefüllt ist, indem man sich sagt: In diesem Körper sind vorhanden Haupthaare, Körperhaare, Nägel, Zähne, Haut, Fleisch, Sehnen, Knochen, Mark, Nieren, Herz, Leber, Rippenfell, Milz, Lunge, Eingeweide, Weichteile, Magen, Kot, Galle, Schleim, Eiter, Blut, Schweiss, Lymphe, Tränen, Serum, Speichel, Rotz, Gelenköl und Harn. Dabei verfährt man geradeso wie ein scharfsichtiger Mann, der ein oben und unten zu öffnendes Gefäss voll verschiedener Arten Korn, Reis, Bohnen, Sesam und Hülsenreis öffnet und den Inhalt gründlich betrachtet und die einzelnen Fruchtarten genau erkennt.»
Auf die anatomische Zerlegung folgt die chemische Analyse des Körpers in Gedanken: «Dann betrachtet man diesen Körper, wie er geht und steht, gründlich nach seiner Zusammensetzung aus den vier Elementen, indem man sich sagt: in diesem Körper ist Festes, Flüssiges, Feuriges und Flüchtiges enthalten. Dabei verfährt man so wie ein gewandter Rinderschlächter, der eine Kuh geschlachtet und in einzelne Stücke zerlegt hat und sich damit an der Kreuzung von vier Hauptstrassen (d.h. auf dem Markt) niedersetzt.»
An Stelle der vier Elemente der altindischen Naturerklärung,
die durch die ionischen Naturphilosophen des 6. Jahrhunderts vor Christus
den Griechen bekannt wurden und während des ganzen Mittelalters im
Abendlande galten, kann man auch die Elemente der neuzeitlichen Chemie
bei der Körperbetrachtung verwenden. Wem die Begriffe der organischen
Chemie geläufig sind, mag an Kohlehydrate, Fette und Eiweiss denken
und an die Elemente, aus denen sie sich aufbauen: Kohlenstoff, Sauerstoff,
Wasserstoff, Stickstoff, ferner an Calcium, Phosphor, Natrium, Schwefel
und die anderen Elemente, die im menschlichen Körper enthalten sind.
Man muss dann freilich auch noch die physikalischen Erscheinungen, wie
Wärme, Elektrizität und sonstige Strahlen, hinzunehmen. Das Ergebnis
ist dann das gleiche: alle Elemente und physikalischen Erscheinungen, die
im menschlichen Körper vorkommen, sind dieselben, die wir in der Aussenwelt
antreffen. Für die Meditation, von der später zu reden sein wird,
haben die altindischen vier Elemente jedoch den Vorteil, dass sie anschaulich
sind, weil sie unmittelbar auf den Empfindungen beruhen, während die
Begriffe der Chemie und Physik abstrakt sind und nur gedacht, nicht aber
anschaulich vorgestellt werden können.
Bis hierher hat man seine Betrachtungen auf den lebenden Körper bezogen. Nun geht man zur Betrachtung des Körpers nach dem Tode über: «Dann stellt man sich einen Leichnam vor, der auf dem Begräbnisplatze liegt, einen Tag nach dem Tode oder zwei oder drei Tage, der aufgedunsen, dunkelblau gefärbt und in Fäulnis übergegangen ist, und zieht daraus die Anwendung auf seinen eigenen Körper, indem man sich sagt: Auch dieser mein Körper ist so beschaffen, ist solcherart, bildet hiervon keine Ausnahme.
Dann stellt man sich einen Leichnam vor, der auf dem Bestattungsplatze liegt und von Krähen oder Adlern oder Geiern oder Hunden oder Schakalen angefressen ist, und zieht daraus die gleiche Anwendung auf seinen eigenen Körper.
Dann stellt man sich einen Leichnam vor, der auf dem Bestattungsplatze liegt, ein Knochengerippe mit blutigen Fleischfetzen, das durch die Sehnen zusammengehalten wird, dann ein Knochengerippe ohne Fleisch, aber voll Blut, das durch die Sehnen zusammengehalten wird, dann ein Knochengerippe ohne Fleisch und Blut, das durch die Sehnen zusammengehalten wird, dann lose Knochen ohne Zusammenhalt, die nach verschiedenen Seiten hin zerstreut sind, hier ein Handknochen, da ein Fussknochen, dort ein Schenkelknochen, ein Schienbein, ein Hüftknochen, ein Rückenwirbel, dort ein Schädel, und zieht daraus die gleiche Anwendung auf seinen eigenen Körper.»
In der gleichen Weise sinnt man über seine Gefühle und Gedanken nach: «Bei jedem Gefühl, das man erlebt, legt man sich Rechenschaft darüber ab, welcher Art dieses Gefühl ist: ein Lustgefühl oder ein Unlustgefühl oder ein gleichgültiges Gefühl, ein fleischliches oder ein nichtfleischliches Lust- oder Unlustgefühl oder ein fleischliches oder ein nichtfleischliches gleichgültiges Gefühl.
Bei jedem Gedanken, der in einem aufsteigt, legt man sich Rechenschaft darüber ab, welcher Art dieser Gedanke ist: ein begehrlicher oder ein begierdefreier, ein hasserfüllter oder ein hassfreier, ein aus Verblendung entsprungener oder ein von Verblendung freier, ein aufmerksamer oder ein abschweifender, ein ausgereifter oder ein unausgereifter, ein auf Höheres gerichteter oder ein nicht auf Höheres gerichteter, ein auf Sammlung gerichteter oder ein nicht auf Sammlung gerichteter, ein auf Befreiung gerichteter oder ein nicht auf Befreiung gerichteter Gedanke.»
***
Hat man die Denkübung so weit durchgeführt und die anschauliche Erkenntnis der Vergänglichkeit gewonnen, so ist man vorbereitet, um tiefer in die Lehre des Buddha einzudringen.
«Was aber unbeständig, unbefriedigend und veränderlich ist», so fragt er weiter, «kann man davon sagen: Dies gehört mir, dies bin ich, dies ist mein Ich?» Die Antwort lautet: «Nein, Herr, gewiss nicht. »
Damit sind wir bei der so viel missverstandenen Lehre vom Nicht-Ich (Pali: Anattâ) angelangt, die man aber richtig verstehen muss, wenn man den Buddha überhaupt verstehen will.
Was unbeständig ist, ist unbefriedigend. Darin, dass wir das Unbeständige als unbefriedigend empfinden, drückt sich aus, dass das Unbeständige nicht unserem wahren Wesen, unserem Ich angemessen ist, nicht zu ihm gehört. Denn wenn es unserem Wesen entspräche, so würde uns das Vergehen der unbeständigen Dinge nicht als unerfreulich erscheinen.
Mit dieser Schlussfolgerung rücken wir die gesamte Erfahrungswelt einschliesslich unseres eigenen leiblich-seelischen Organismus, unserer Individualität, von unserem Ich ab und vollziehen den Trennungsstrich zwischen Nicht-Ich und Ich.
Dass der Körper nicht unser Ich ist, ergibt sich auch daraus, dass er sich aus denselben Stoffen aufbaut, wie die Aussenwelt. «Alles, was es an Festem, Flüssigem, Feurigem und Flüchtigem gibt, sei es in unserem eigenen Körper oder in der uns umgebenden Natur, alles dies ist gleichermassen Festes, Flüssiges, Feuriges und Flüchtiges und man sollte es, der Wahrheit gemäss, in rechter Weisheit also betrachten: Dies ist nicht mein, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein Ich.» (AN. IV, 117).
Auch der Geist ist nicht das Ich. Von dem Glauben, dass der Körper sein Ich sei, sagt der Buddha, kann sich auch ein unwissender Weltling leicht freimachen. «Denn bei diesem, aus den vier Elementen aufgebauten Körper ist das Wachsen und das Vergehen offenkundig und man sieht leicht ein, wie er aufgenommen und abgelegt wird. Dagegen ist ein unwissender Weltling nicht imstande, sich von der Anhänglichkeit an das freizumachen, was man Denken oder Geist oder Bewusstsein nennt. Denn seit langen Zeiten hat er die Vorstellung gehegt und gepflegt, dies sei sein Ich. Es wäre aber besser, er betrachtete den Körper als sein Ich, als dass er seinen Geist als sein Ich betrachtete. Denn der aus den vier Elementen aufgebaute Körper besteht offenkundig immerhin eine Reihe von Jahren, unter Umständen hundert Jahre oder länger; aber das, was man Denken oder Geist oder Bewusstsein nennt, entsteht Tag und Nacht als dieses und vergeht als ein anderes.» (SN. XII, 62.)
«Wenn etwa ein Mann das, was da an Gräsern und Reisig, an Zweigen und Blättern in diesem Hain am Boden liegt, wegtrüge und verbrännte, würdet ihr da wohl denken: Uns trägt der Mann weg, oder: Uns verbrennt er?» «Nein, Herr, gewiss nicht.» «Und weshalb nicht?» «Das sind ja nicht wir, das gehört ja nicht uns.» «Ebenso gehört eure körperliche Gestalt, eure Empfindung, eure Wahrnehmung, gehören eure Sankhāra und gehört euer Bewusstsein nicht euch. Darum gebet dies auf; das Aufgeben wird euch zu Heil und Segen gereichen.» (SN. XXII, 33).
Die bis hierher gewonnene Erkenntnis wird in drei Sprüchen des Dhammapada (277 bis 279) zusammengefasst:
«Alle Sankhāra - hier: Gebilde, Erscheinungen, Lebensprozesse - sind vergänglich. Wer in Weisheit dies anschaulich erkennt, der wendet sich vom Leiden ab. Dies ist der Weg zur Läuterung.
Alle Sankhāra - hier: Gebilde, Erscheinungen, Lebensprozesse - sind unbefriedigend. Wer in Weisheit dies anschaulich erkennt, der wendet sich vom Leiden ab. Dies ist der Weg zur Läuterung.
Alle Dinge sind nicht das Ich. Wer in Weisheit dies anschaulich erkennt, der wendet sich vom Leiden ab. Dies ist der Weg zur Läuterung.»
Im AN. III, 134 heisst es in Übereinstimmung hiermit über die «drei Merkmale»:
«Ob Vollendete in der Welt erstehen oder nicht: eines steht fest als notwendige Bedingung des Daseins, nämlich dass alle Gebilde unbeständig, unbefriedigend und nicht das Ich sind. Dies erkennt und durchschaut ein Vollendeter, und hat er es erkannt und durchschaut, so lehrt er es, zeigt es, macht es klar, verkündet es, enthüllt es, erklärt es im einzelnen und macht es offenbar. »
***
Nachdem der Buddha seine erste Lehrrede in Benares gehalten hatte, wanderte er nach Uruvela. Auf dem Wege dorthin kam er in einen Wald und setzte sich am Fusse eines Baumes nieder. In diesem Walde kam eine Gesellschaft von dreissig jungen Männern zu ihm, die einen Ausflug gemacht und in dem Walde gespielt hatten. Während ihres Spiels hatte eine Frau, die sie mitgenommen hatten, das Gepäck eines der jungen Leute an sich genommen und war damit fortgelaufen. Nun suchten sie diese Frau und fragten den Buddha: «Herr, habt ihr nicht eine Frau gesehen?» Auf die Gegenfrage des Buddha, was sie von der Frau wollten, erzählten sie ihm den Vorgang. Darauf fragte sie der Buddha: «Was meint ihr wohl, ihr jungen Herren, was ist besser für euch: wenn ihr die Frau suchtet oder wenn ihr euer Ich suchtet?» Die Jünglinge antworteten: «Herr, besser wäre es, wenn wir unser Ich suchten.» Um ihnen dabei zu helfen, legte er ihnen die Lehre dar. (Mahavagga I, 14.)
Weder ihnen aber noch sonst jemandem hat der Buddha etwas über das Ich gesagt, sondern er hat immer nur gezeigt, was das Ich nicht ist. Warum? Weil das Ich unerkennbar ist, weil es jenseits unserer Erkenntnis liegt. Die berühmte Inschrift des Apollo-Tempels in Delphi: «Erkenne dich selbst!» fordert streng genommen etwas Unmögliches, aber es meint wohl: «Erkenne deinen Charakter!», das heisst: Erkenne die Art und Weise deines Denkens, Redens und Handelns! Dies ist, da es sich in Raum und Zeit abspielt, erkennbar, es ist - um Kants Ausdruck zu gebrauchen - der «empirische Charakter». Ihn soll man zu erkennen trachten, man soll prüfen, ob die Art unseres Denkens, Redens und Handelns den Forderungen der Vernunft entspricht oder ob sie von unseren Trieben beherrscht wird. Unser empirischer Charakter wird, wie alles, was in Zeit und Raum erscheint, durch Ursachen bedingt. Darum ist er auch nicht, wie Schopenhauer, Driesch (FN 1) und andere Philosophen annehmen, unveränderlich. Vielmehr kann und muss er sich ändern, wenn Ursachen - in diesem Fall: Motive - auf ihn einwirken, die stark genug sind, um eine Änderung hervorzurufen. Hierauf beruht alle Selbsterziehung, die einzige Art der Erziehung, die wirklich durchgreifend ist und sittlichen Wert hat. Alle Erziehung durch andere kann bestenfalls äussern Schliff geben. (Das sollte man bei der Kindererziehung nie vergessen! Gute Kindererziehung darf nichts anderes sein als ein Hinleiten zur Selbsterziehung, und dies geschieht am besten durch vorbildliches Verhalten der Erzieher, das aber echt und ungekünstelt sein muss, wenn es gute Wirkung haben soll.)
Fußnote (1) Driesch, Selbstbesinnung und Selbsterkenntnis, Leipzig 1940.
Im Gegensatz zum empirischen Charakter ist das Ich - der «intelligible Charakter» Kants - notwendig unerkennbar, denn das Ich ist das Erkennende (das Subjekt des Erkennens) und kann deshalb niemals ein Erkanntes (Gegenstand des Erkennens) sein. Der Buddha vermied es, vom Ich zu reden, offenbar weil vom Ich schlechterdings nichts ausgesagt werden kann und weil, wenn vom Ich geredet wird, die Gefahr besteht, dass der Hörende sich unter dem Wort Ich etwas denken will. «Ich» ist aber ein völlig leerer Begriff, bei dem sich nichts denken lässt. Wer das erkannt hat, wird überhaupt nicht versuchen, bei dem Wort Ich etwas zu denken. Für das Denken ist Ich so viel wie nichts. Man kann statt dessen auch sagen: das Ich ist transzendent, das heisst: es ist jenseits der Möglichkeit des Erkennens, womit aber keineswegs gesagt ist, dass es nicht existiere. Diese Wahrheit ist merkwürdigerweise den abendländischen Denkern bis auf Kant unbekannt geblieben, und Kant haben bisher nur wenige verstanden. Dem Buddha aber war sie bewusst.
Einst kam ein Samana einer anderen Schule namens Vacchagotta zu ihm und fragte ihn:
«Verehrter Gótama, wie steht es damit: Gibt es ein Ich?» Auf diese Worte hin schwieg der Erhabene. Dann fragte Vacchagotta: «Verehrter Gótama, gibt es kein Ich?» Auch daraufhin schwieg der Erhabene. Da erhob sich Vacchagotta und ging davon.
Bald darauf fragte Ananda, ein Jünger des Buddha, den Meister, warum er auf die Fragen Vacchagottas nicht geantwortet habe. Nun sprach der Buddha:
«Hätte ich auf die Frage, ob es ein Ich gebe, mit Ja geantwortet, so wäre damit jenen Samanen und Brahmanen beigepflichtet worden, die die Unsterblichkeit der Seele lehren; hätte ich aber auf die Frage, ob es kein Ich gebe, mit Ja geantwortet, so wäre damit jenen Samanen und Brahmanen beigepflichtet worden, die lehren, dass mit dem Tode alles zu Ende sei.
Hätte ich die erste Frage bejaht, wäre das wohl ein Mittel gewesen, um den Fragenden davon zu überzeugen, dass alle Dinge nicht unser Ich sind?» «Herr, gewiss nicht!» «Hätte ich aber die Zweite Frage bejaht, so würde dies dem verworrenen Vacchagotta nur noch mehr Verwirrung eingetragen haben; er würde denken: ‚Früher gab es doch das Ich, jetzt aber ist es nicht mehr‘?» (SN. XLIV, 10).
Es mag hier daran erinnert werden, dass Kant in der «Kritik der reinen Vernunft» II, 2, 1 das Ich eine «an Inhalt gänzlich leere Vorstellung» nennt, «von der man nicht einmal sagen kann, dass sie ein Begriff sei, sondern ein blosses Bewusstsein, das alle Begriffe begleitet. Durch dieses Ich oder Er oder Es (das Ding, welches denkt) wird uns nichts weiter als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Produkte sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können.»
Alles was wir mit unserem vergänglichen Erkenntnisvermögen erkennen können, ist unbeständig, also unbefriedigend, also nicht unser Ich. Für das von den Schlacken der Unbeständigkeit befreite Ich hat der Buddha einen besonderen Ausdruck; er nennt es: «den Vollendeten nach dem Tode». Auf die wiederholte Frage seiner Jünger und Andersgläubiger, ob ein Vollendeter nach dem Tode sei oder nicht sei, hat der Buddha beharrlich die Antwort verweigert, und zwar mit der ausdrücklichen Begründung, dass das Grübeln über diese Frage nicht zweckdienlich sei, nicht einen vollkommenen Wandel der Heiligkeit begründe, nicht zur höheren Weisheit, nicht zur Erleuchtung, nicht zum Nirvana führe. Dass die Frage überhaupt nicht zu beantworten ist, weil sie die Grenzen der Erkenntnismöglichkeit überschreitet, hat der Buddha in einem Zwiegespräch durch ein Gleichnis deutlich gemacht. Er sagte (MN. 72):
«Wenn vor dir ein Feuer brennt und dich jemand fragt, wovon es abhänge, dass das Feuer brenne, was würdest du antworten?» - «Ich würde erklären, dass es von Stroh oder Holz abhänge, dass das Feuer brenne.» - «Und wenn nun das Feuer erloschen ist und jemand dich fragt, wohin es gegangen sei, nach Osten oder nach Westen, nach Norden oder nach Süden, was würdest du antworten?» - «Darauf gibt es keine Antwort, denn dass das Feuer brannte, hing von Stroh oder Holz ab, und nachdem es den Brennstoff verzehrt und keinen andern Brennstoff erhalten hat, ist es mangels Brennstoffs erloschen.» - «Genau so ist alle körperliche Gestalt, alle Empfindung, alle Wahrnehmung, alle Sankhāra und alles Bewusstsein, wodurch man den Vollendeten beschreiben und kennzeichnen könnte, für den Vollendeten aufgegeben, entwurzelt, ganz vernichtet und nicht mehr fähig, wieder in Erscheinung zu treten. Von dem, was man körperliche Gestalt, Empfindung, Wahrnehmung, Sankhāra und Bewusstsein nennt, erlöst, befreit, ist ein Vollendeter gar tief, unermesslich, unergründlich wie das grosse Meer. Deshalb gibt es keine Antwort auf die Fragen, ob er sei oder nicht sei, ob er wieder erscheine oder nicht wieder erscheine.»
Wenn man unseren philosophischen Sprachgebrauch anwenden will, kann man hierfür auch sagen: der Vollendete oder das befreite Ich ist transzendent.
Der Buddha hat aber niemals behauptet, wie manche glauben, dass es ein Ich überhaupt nicht gebe. Im Gegenteil, er hat sich gegen dieses Missverständnis, das schon bei seinen Lebzeiten auftauchte, energisch verwahrt, indem er sagte (MN. 22):
«Ich behaupte, dass ein Vollendeter in der Erscheinungswelt nicht aufzufinden ist, und weil ich dies behaupte, beschuldigen mich manche fälschlich und zu Unrecht, ich wollte mit allem aufräumen, ich lehrte die Vernichtung, das Verschwinden, das Vergehen des wahren Wesens.»
Zur Veranschaulichung des Anattâ-Lehre diene noch folgendes Gleichnis:
Manche Schauspieler leben sich, wie man sagt, in ihre Rollen so gründlich ein, dass sie während des Spiels glauben, sie seien selbst die Person, die sie darstellen. Die Charaktereigenschaften, die der Dichter der Person verliehen hat, die Freuden und Leiden, die er sie in dem Stück erleben lässt, hält der Schauspieler, solange er auf der Bühne steht, für seine eigenen Charaktereigenschaften, für seine eigenen Leiden und Freuden. Daher sind seine Gebärden der Fröhlichkeit und des Schmerzes nicht gekünstelt, sondern echt, und dementsprechend ist der Eindruck seines Spiels auf die Zuschauer hinreissend.
Solchen Schauspielern zu vergleichen sind alle jene Menschen, die die Anattâ-Lehre nicht durchaus begriffen haben. Sie halten ihre Person oder Individualität für ihr Ich und wissen nicht, dass sie nur eine Rolle in der Erscheinungswelt zu spielen haben. Der Dichter des Trauerspiels, in dem sie aufzutreten haben, ist ihr eigenes Karma (siehe unten), das ihnen ihre Charaktereigenschaften, ihre Freuden und Leiden genau vorgeschrieben hat. Im Textbuch ihres Lebens ist vom Dichter - ihrem Karma - auch verzeichnet, wann, wo und wie sie abzutreten haben. Alle Menschen, ja überhaupt alle Wesen, sind den Weisungen ihres Karma unterworfen und können sich ihnen in keiner Weise entziehen.
Wer dagegen von der Wahrheit der Anattâ-Lehre voll durchdrungen ist, der gleicht einem Schauspieler, der sich während des Spiels in jedem Augenblick bewusst ist, dass er eine ihm vorgeschriebene Rolle durchzuführen hat, aber nicht selbst die Person ist, die er darstellt. Er weiss, dass die Freuden und Leiden, die er nach seiner Rolle auf dem Welttheater zu geniessen oder zu erdulden hat, nicht seine Freuden und Leiden sind, dass sie ihn selbst gar nicht berühren. Auch er muss freilich seine Rolle im Leben genau nach den Vorschriften seines Karma bis zu Ende durchführen, aber wenn er sie richtig durchgeführt hat, wenn er dank seinem Karma befähigt war, den edlen achtgliedrigen Buddha-Weg bis zu Ende zu gehen, dann kann er endgültig abtreten und braucht keine neue Rolle im Leben mehr zu übernehmen, während alle anderen im Welttheater in immer wechselnden Rollen weiter mitspielen müssen, bis auch sie endlich zu der befreienden Erkenntnis gelangt sind.
Auch auf eine Reihe anderer Fragen, die mit dem Heilswege nicht zusammenhängen, hat der Buddha die Antwort verweigert, namentlich folgende Fragen hat er unerörtert gelassen: ob die Welt ewig oder nicht ewig sei, ob sie räumlich unendlich oder endlich sei (Kants «Widerstreit der transzendentalen Ideen»), ob Leben und Leib ein und dasselbe oder zwei verschiedene Dinge seien. Da es aber niemand verwehrt ist, über diese und ähnliche Fragen nachzudenken und sich darüber eine Meinung zu bilden, so ist es nicht verwunderlich, dass unter den Buddha-Mönchen schon in alter Zeit darüber Meinungsverschiedenheiten aufkamen und sich Schulen oder Sekten bildeten, in denen die eine oder die andere Ansicht über solche nicht zur Buddha-Lehre und zum Heilsweg gehörenden Fragen vorherrschte. So hat es anscheinend schon vor dem 3. Jahrhundert vor Christus eine buddhistische Sekte gegeben, die den Standpunkt vertrat, dass alle Daseinselemente (dhamma) in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als potentiell existierend betrachtet werden müssen. Diese Sekte nannte sich Sarvâstivâdins, d.h. «Vertreter der Lehre, dass alles ist». Eine andere Sekte, die Mahâsânghikas, die «grosse Gemeinde», lehrte, dass alles Erkennbare nur relativ real sei, d.h. dass alle Dinge der Erfahrungswelt nur in Abhängigkeit vom erkennenden Bewusstsein und in Abhängigkeit von anderen Dingen existieren, und dass die eigentliche, von nichts abhängige Wirklichkeit, das absolute Sein, transzendent ist, oder, anders ausgedrückt: nur das, was jenseits unserer Erkenntnismöglichkeit liegt, ist im eigentlichen, höchsten Sinne wirklich.
Für das Verständnis der Buddha-Lehre ist es wichtig zu wissen,
dass alle diese und ähnliche Theorien, die im späteren Buddhismus,
besonders im Mahayāna (vgl. unten) eine grosse Rolle spielen, vom
Buddha selbst als unwesentlich beiseite geschoben worden sind, weil sie
mit dem, worauf es ihm allein ankam, mit der Befreiung vom Leiden, nichts
zu tun haben.
Die Wiedergeburt - Das Karma-Gesetz - Die Kette der Abhängigkeitsverhältnisse
Die Zweite edle Wahrheit handelt vom Ursprung des Leidens. Sie lautet:
«Es ist der Durst oder Drang, der Wiedergeburt erzeugt, von Wohlgefallen und Lust begleitet ist und der hier und dort sich ergötzt, nämlich der Drang nach sinnlicher Lust, der Drang nach Leben und der Drang nach Selbstabtötung. »
Der Drang äussert sich in dreifacher Form: als Begierde, als Hass und als Verblendung. Begierde ist Verlangen nach lebendigen oder leblosen Objekten, von denen wir Befriedigung unseres Willens oder Lust erhoffen; Hass ist Abneigung gegen lebendige oder leblose Objekte, von denen wir Durchkreuzung unseres Willens oder Unlust befürchten; Verblendung ist der Irrglaube, dass unser lebendiger Organismus unser wahres Wesen sei, jener Irrglaube, der die Wurzel aller Selbstsucht ist.
Der Drang nach Selbstabtötung, Selbstquälerei oder Selbstmord wird dem Drang nach Leben gleichgestellt. Er ist also wie dieser eine Quelle des Leidens. Der Buddha bezeichnet ihn als die eine der beiden Übertreibungen, die vermieden werden müssen, um zur Erlösung zu gelangen. Er sagt (SN. LVI, 11):
«Diese zwei Übertreibungen sollte, wer nach dem Heil strebt, nicht verfolgen: Die eine ist die auf Glück erpichte Hingabe an die sinnlichen Begierden, die niedrige, gemeine, weltliche, unedle, zwecklose; die andere ist die Hingabe an Selbstquälerei, die leidvolle, unedle, zwecklose.»
Der Buddha verwirft also ebenso wie das Trachten nach weltlicher Lust auch jene Askese, die religiöse Fanatiker auf sich nehmen, indem sie glauben, dadurch zur Vollkommenheit, zur Erleuchtung und zur Erlösung vom Leiden zu gelangen.
«Alle Samanen und Brahmanen, welche lehren, dass es eine Erlösung vom Dasein durch Lebensbejahung gebe, sind unerlöst vom Dasein, sage ich. Aber auch alle Samanen und Brahmanen, welche lehren, dass es ein Entrinnen aus dem Dasein durch Selbstabtötung gebe, sind dem Dasein nicht entronnen, sage ich.» (Udana III, 10.)
Der Buddha selbst hatte sich in der Zeit seines Ringens nach Erleuchtung solcher Askese hingegeben und die Erfahrung gemacht, dass sie nicht zum Ziel führt, sondern verderblich ist. Auch der Selbstmord ist kein Mittel, dem Leiden ein Ende zu machen, vielmehr ist der Drang nach Selbstmord nur eine andere Form des Lebensdranges, ein in sein Gegenteil umgeschlagener, perverser Drang, der ebenso wie der gewöhnliche, man könnte sagen: normale Drang, zur Wiedergeburt führt.
Wiedergeburt darf nicht verwechselt werden mit Seelenwanderung. Von Seelenwanderung reden die Brahmanen, die an das Dasein eines für sich bestehenden, unvergänglichen Seelenwesens glauben. Nach der Lehre des Buddha gibt es keine Seele, die den Tod überdauern und «wandern» könnte; deshalb kann es auch keine Seelenwanderung geben. Wohl aber gibt es nach der Lehre des Buddha Wiedergeburt. Nyânatiloka, ein auf Ceylon lebender deutscher buddhistischer Bhikkhu, vergleicht treffend den Wiedergeburtsprozess mit einer Wasserwelle: «Bei der Welle nämlich bewegt sich nicht die geringste Wassermasse über den Wasserspiegel fort, sondern das über den Wasserspiegel scheinbar dahineilende Wellengebilde ist in Wirklichkeit nichts weiter als die Summe unzähliger, sich nebeneinander reihender Hebungen und Senkungen von Wassermassen. Und durch eine Hebung und Senkung wird die Entstehung immer wieder neuer Hebungen und Senkungen verursacht. Ebenso auch lehrt der Buddha keine Wesenheiten, die das Meer des Samsara durcheilen, sondern blosse Daseinswellen, blosse Prozesse beständig wechselnder körperlicher und geistiger Daseinsphänomene» (FN 1).
Fußnote (1) Nyânatiloka: «Die Quintessenz des Buddhismus» in der Zeitschrift für Buddhismus, München-Neuiberg 1924.
Die treibende Kraft in dem Wiedergeburtsprozess ist der Drang. Um das zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass der leiblich-seelische Prozess, den man Leben nennt, nur begriffen werden kann als die Erscheinung einer Kraft. Diese Kraft, die Schopenhauer den Willen nennt, heisst in der Lehre des Buddha Durst oder Drang. Wo Drang ist, da ist Leben. Wenn nun die leiblich-seelische Grundlage des Lebens im Tode zerfällt, während der Drang fortbesteht, so muss der Drang notwendig zur Ergreifung einer neuen leiblich-seelischen Grundlage führen, auf der sich neues Leben aufbaut (FN 2). Welcher Art diese neue Grundlage ist, bestimmt sich nach der Art und der Richtung, die der Drang hat in dem Augenblick, da seine alte Grundlage zerfällt. Art und Richtung des Dranges aber werden bedingt durch die guten oder bösen Taten, die das mit Drang behaftete Wesen vollbracht hat.
Fußnote (2) Vgl. Otto J. Hartmann, «Der Mensch als Selbstgestalter seines Schicksals«, 4. Aufl., Frankfurt am Main 1941, Seite 215: «Wie ein Mathematiker durch die denkende Beobachtung eines kleines Teils einer Kurve (z.B. einer Parabel oder Hyperbel) mit absoluter Gewissheit deren weiteren Verlauf erkennt, so geht es auch dem Schicksalsforscher, wenn er, nach eingehender, unvoreingenommener Beobachtung des Verlaufs eines Menschenlebens und der darin waltenden Schicksalsgesetze, zu dem Ergebnis gelangt: Das menschliche Erdenleben weist durch die innere Gesetzlichkeit seines Verlaufs in zweifacher Richtung über sich selbst hinaus, in Erdenleben vor der Geburt und Erdenleben nach dem Tode. Nicht aus Gründen des Wünschens oder Glaubens nehmen wir mehrere aufeinanderfolgende Erdenleben an, sondern weil wir wissenschaftlich durch die beobachtbaren Tatsachen eines Erdenlebens dazu gezwungen werden. Ein einzelnes Erdenleben ist nämlich in sich zu eng, es drängt durch seine eigene beobachtbare Gesetzlichkeit über sich hinaus in Vergangenheit und Zukunft. Es ist - wie ein kleines Kurvenstück - in sich selbst nur verständlich als Teil eines grösseren Ganzen, also als Wirkung früherer und als Ursache späterer Erdenleben. Dies ist absolut sicheres, wissenschaftliches Ergebnis für jeden, der sachgemäss zu beobachten, scharf zu urteilen und leidenschaftslos zu schliessen vermag.«
Jede Tat - und dies gilt auch von jedem Wort und von jedem Gedanken - wirkt nicht nur nach aussen, auf die Aussenwelt, sondern auch nach innen, auf den Täter selbst und hinterlässt in ihm eine Spur. Sie erzeugt die Neigung zur Wiederholung und ruft einen dauernden Zustand in dem Täter hervor. Die Macht der Gewohnheit ist es, was den Charakter des Menschen bildet. Wer gut handelt, wird dadurch selbst gut, wer schlecht oder böse handelt, wird dadurch selbst schlecht oder böse. Wie nun der Mensch durch seine Taten im Augenblick des Todes geworden ist, so wird er, wenn der Drang fortbesteht, wiedergeboren. Gute Taten führen zu einer Wiedergeburt in einem guten, schlechte zu einer Wiedergeburt in einem schlechten Zustande. Dies ist, in Kürze, die Lehre vom Karma, wie sie der Buddha lehrte. Karma ist ein Sanskritwort, dem im Pali Kamma entspricht; es bedeutet: das Wirken oder die wirkende Tat (FN 1).
Fußnote (1) Wir gebrauchen die Wörter Karma und Nirvana in ihrer Sanskrit-Form, weil sie so bei uns eingebürgert sind, im übrigen die Pali-Form.
In den Lehrsprüchen des Dhammapada heisst es hierüber:
«Nicht in der Luft, nicht in des Weltmeers Tiefen, noch wenn du der Berge Höhlen suchst: es findet nirgends in der Welt ein Ort sich, wo man der eigenen bösen Tat entrinnen könnte.» (127.)
«Den nach langer Abwesenheit aus fernen Landen glücklich Wiederkehrenden begrüsst, wenn er heimkehrt, die Schar der Freunde und Verwandten. So auch empfangen den, der recht gehandelt hat, wenn er von dieser Welt in die andere gelangt, die eigenen guten Taten wie Freunde einen lieben Freund bei der Heimkehr.» (219, 220.)
Denselben Gedanken drücken folgende Verse aus, die sich im SN. III, 1, 4 finden:
«Wer sein eigenes Ich lieb hält, der verquicke es nicht mit Bösem;
Denn ein Übeltäter kann nicht leicht Glück erlangen.
Der vom Tode Überfallene, der das menschliche Dasein verlässt,
Was ist sein Eigentum, was nimmt er mit sich, wenn er geht?
Was begleitet ihn, wie der nimmer weichende Schatten?
Beides, das Gute und das Böse, das ein Sterblicher hienieden tut,
Das ist sein Eigentum, das nimmt er mit sich, wenn er geht,
Das begleitet ihn wie der nimmer weichende Schatten.
So tue man Gutes; das ist eine Schatzkammer für die Zukunft,
Gute Taten sind für die lebenden Wesen ein sicherer Boden in der anderen Welt» (FN 1).
Fußnote (1) Zitiert nach K. Seidenstücker, Pâli-Buddhismus, 2. Auflage, München-Neuiberg 1923.
Die Vergeltung vollzieht sich aber nicht mechanisch in der Weise, dass sich an eine bestimmte Tat immer und unter allen Umständen bei der Wiedergeburt die gleichen Folgen knüpfen. Es kommt hierbei vielmehr wesentlich auf die ganze moralische Beschaffenheit des Täters, auf seinen Charakter an. Bestraft wird nicht (um ein Wort Franz v. Liszts, des Gründers der modernen Strafrechtsschule, zu gebrauchen) die Tat, sondern der Täter. Nach der Lehre des Buddha handelt es sich jedoch überhaupt nicht um Bestrafung oder Belohnung, sondern um die nach unabänderlichen Gesetzen notwendig eintretenden Folgen. Darüber heisst es im AN. III, 99:
«In einem Falle bringt einen Menschen eine kleine Verfehlung in die Hölle, in einem anderen ist die gleiche kleine Verfehlung schon bei Lebzeiten abzubüssen und sie erscheint dabei nicht einmal klein, sondern sogar gross. Der erste Fall liegt vor, wenn ein Mensch keinen Einblick in seinen Körper gewonnen hat (d.h. sich nicht in der Betrachtung der Unbeständigkeit geübt hat), wenn er sich nicht der Sittlichkeit befleissigt, sein Denken nicht entfaltet, keine Weisheit erlangt hat, beschränkt und kleinmütig ist und sich mit kleinlichen Schmerzen plagt; der Zweite Fall, wenn ein Mensch Einblick in seinen Körper gewonnen hat, sich der Sittlichkeit befleissigt, sein Denken entfaltet, Weisheit erlangt hat, nicht beschränkt, sondern grossmütig ist und die Welt mit unermesslicher gütiger Gesinnung zu durchdringen pflegt.»
«Was meint ihr wohl», fährt der Buddha fort: «Wenn jemand einen Klumpen Salz in eine kleine Tasse voll Wasser würfe, würde da wohl das Wasser in der Tasse salzig und ungeniessbar werden?» «Ja, Herr!» «Und warum?» «Weil sich nur wenig Wasser in der Tasse befindet.»
«Was meint ihr aber: Wenn jemand einen Klumpen Salz in den Gangesstrom würfe, würde wohl da das Wasser des Gangesstromes salzig und ungeniessbar werden?» «Nein, Herr!» «Und warum nicht?» «Weil sich eine gewaltige Menge Wasser im Gangesstrom befindet.»
«Ebenso verhält es sich mit der Wirkung einer kleinen Verfehlung bei dem einen und bei dem anderen Menschen.»
Auch darauf kommt es an, ob der Mensch sich des sittlichen Werts oder Unwerts seiner Handlungen - Gedanken, Worte und Taten - bewusst ist. Wer das Unrecht, das er begangen hat, erkennt, ist ein besserer Mensch als derjenige, der es nicht erkennt; denn (MN.5):
«Wenn ein Mensch sich vergeht und nicht der Wahrheit gemäss erkennt, dass in ihm etwas Unrechtes ist, so ist von ihm zu erwarten, er werde den Willenstrieb nicht besiegen, werde nicht ringen, werde nicht die Kraft erlangen, dieses Unrecht zu überwinden, und dieser Mensch wird mit Begierde, Hass und Verblendung behaftet, mit unreinem Geist sterben.
Das ist so, als wenn ein auf dem Markt oder in der Schmiede gekaufter Bronzekessel voll Schmutz und Flecken wäre und die Besitzer würden ihn weder in Gebrauch nehmen noch reinigen, sondern ihn in die Rumpelkammer werfen. Würde dieser Bronzekessel nicht nach einiger Zeit noch schmutziger und noch fleckiger werden?
Wenn aber ein Mensch sich vergeht und der Wahrheit gemäss erkennt, dass in ihm etwas Unrechtes ist, so ist von ihm zu erwarten, er werde den Willenstrieb besiegen, werde ringen, werde die Kraft erlangen, dieses Unrecht zu überwinden, und dieser Mensch wird frei von Begierde, Hass und Verblendung, mit reinem Geist sterben.
Das ist so, als wenn ein auf dem Markt oder in der Schmiede gekaufter Bronzekessel voll Schmutz und Flecken wäre und die Besitzer würden ihn in Gebrauch nehmen und reinigen, nicht aber in die Rumpelkammer werfen. Würde dieser Bronzekessel nicht nach einiger Zeit blank und rein werden?»
Entsprechendes gilt aber auch für den, der sich nichts Schlechtes zuschulden kommen lässt. Ist er sich dessen bewusst, so ist er besser als jener, der sich seiner Schuldlosigkeit nicht bewusst ist:
«Wenn ein Mensch, der sich nichts zuschulden kommen lässt, nicht der Wahrheit gemäss erkennt, dass er schuldlos ist, so ist von ihm zu erwarten, er werde seine Aufmerksamkeit auf eine schöne, erfreuliche Vorstellung richten und infolgedessen werde Begierde seinen Geist befallen, und dieser Mensch wird mit Begierde, Hass und Verblendung behaftet, mit unreinem Geist sterben.
Das ist so, als wenn ein blanker und reiner Bronzekessel von den Besitzern weder in Gebrauch genommen noch gereinigt, sondern in die Rumpelkammer geworfen würde. Würde dieser Bronzekessel nicht nach einiger Zeit schmutzig und fleckig werden?
Wenn aber ein Mensch, der sich nichts zuschulden kommen lässt, der Wahrheit gemäss erkennt, dass er schuldlos ist, so ist von ihm zu erwarten, er werde seine Aufmerksamkeit nicht auf eine schöne, erfreuliche Vorstellung richten und infolgedessen werde auch keine Begierde seinen Geist befallen, und dieser Mensch wird frei von Begierde, Hass und Verblendung, mit reinem Geist sterben.
Das ist so, als wenn ein blanker, reiner Bronzekessel von den Besitzern in Gebrauch genommen und gereinigt, nicht aber in die Rumpelkammer geworfen würde. Würde dieser Bronzekessel nicht rein und fleckenlos bleiben?»
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Die Karma-Lehre ist älter als der Buddhismus. Sie findet sich schon in der Brihadaranyaka-Upanischad, die zu den ältesten Upanischaden gehört. Der weise Brahmane Yajnavalkya wurde, so wird dort berichtet, von Artabhāga in einer Brahmanenversammlung gefragt, was aus dem Menschen nach dem Tode werde. Da sprach Yajnavalkya: «Reich mir deine Hand, mein lieber Artabhāga, darüber wollen wir beide allein uns verständigen, nicht vor anderen Leuten.» Da gingen die beiden hinaus und sprachen miteinander. Was sie da sprachen, das war das Karma, und was sie priesen, das war das Karma. «Wahrlich, rein wird einer durch reines Wirken, böse durch böses.»
Wann Yajnavalkya gelebt hat, ist nicht bekannt, ebensowenig lässt sich das Alter der Brihadaranyaka-Upanischad genau bestimmen, es ist aber sicher, dass sie mehrere Jahrhunderte vor dem Buddha verfasst worden sein, dass also Yajnavalkya viel älter sein muss als der Buddha. Die Lehre vom Karma wurde jedoch in Brahmanenkreisen als Geheimlehre überliefert; erst der Buddha sprach darüber öffentlich vor dem Volk.
In späterer Zeit haben buddhistische Mönche viel über das Karma-Gesetz nachgedacht und eigene Theorien darüber entwickelt. Sie sind darauf gekommen, drei Arten von Karma anzunehmen: ein allgemeines Karma, das die Fortsetzung der Wiedergeburten in eine unbegrenzte Zukunft zur Folge hat; ein kosmisches Karma, das sich auch auf die unbelebten Dinge erstreckt; und drittens das sittliche Karma der Lebewesen. Nach dieser Theorie bringen die bewussten Taten eines Menschen Wirkungen hervor, die in seiner Umwelt Änderungen erzeugen und dadurch das allgemeine und das kosmische Karma beeinflussen. Andererseits wird der Wille zur Verrichtung der Taten zum Teil durch die Umwelt, also durch das allgemeine Karma, bedingt. Das Karma des Einzelwesens sei also unentwirrbar mit dem Karma aller anderen Wesen vergangener Zeiten, deren Anfang nicht zu erkennen ist, vermischt.
Diese und andere Theorien über das Karma-Gesetz finden in der ursprünglichen Buddha-Lehre keine Stütze; im Gegenteil, sie widersprechen einer ausdrücklichen Warnung des Buddha, die im AN. IV, 77 überliefert ist. Der Buddha sprach:
«Es gibt vier unfassbare Dinge, über die man nicht nachdenken soll; wenn man aber darüber nachdenkt, verfällt man in Wahn und Verwirrung. Diese vier Dinge sind: der Machtbereich eines Buddha, der Machtbereich der Versenkungen (das heisst: die höheren Geisteskräfte, die durch die vierte Versenkung erlangt werden), das Ergebnis des Karma und die Welt. »
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Die Möglichkeit der Wiedergeburt ist nicht auf die Menschenwelt beschränkt. Je nach seinen Taten und der durch sie bestimmten Art und Richtung des Dranges kann der Mensch ausser als Mensch auch in höherer oder tieferer Daseinsform wiedergeboren werden. Der Buddha lehrt, dass es fünf Reiche gibt: die Hölle, das Tierreich, das Gespensterreich, die Menschen und die Götter, und er kennzeichnet den Zustand in diesen fünf Reichen in der 12. Rede des MN. kurz so: in der Hölle wird «nichts als Qual, Pein und Schmerz» erduldet, im Tierreich «Qual, Pein und Schmerz», im Gespensterreich «viele Qual», unter den Menschen «viel Glück», bei den Göttern im Himmelreich «nichts als Glück». Himmelreich, Gespensterreich und Hölle werden im alten Buddhismus nicht räumlich gedacht, sondern als Bewusstseinszustände.
In allen diesen Reichen ist das Dasein zeitlich begrenzt, also auch in der Hölle und im Himmelreich. Es gibt nach der Lehre des Buddha keine ewige Höllenstrafe und kein ewiges Leben im Himmelreich. Die äusserste Grenze der Lebenszeit in jedem Zustande wird durch die Weltordnung, die Natur, bestimmt, die für Wesen jeder Art ein Höchstmass von Lebensdauer festgesetzt hat. Aber dieses Höchstmass wird, wie uns aus dem Menschen- und Tierreich bekannt ist, keineswegs immer erreicht, vielmehr findet das Dasein in einem bestimmten Zustande ein vorzeitiges Ende, wenn der Vorrat an guten oder bösen Taten, deren Frucht dieses Dasein ist, aufgezehrt ist. So wird beispielsweise in der 1. Rede des Digha-Nikāya von einem göttlichen Wesen gesagt: «Ein Wesen scheidet, weil die für Wesen dieser Art geltende Lebensdauer abgelaufen oder der Schatz seiner Verdienste erschöpft ist, aus der Schar der Strahlenden ab.» Wenn beim Abscheiden noch Lebensdrang vorhanden ist, geht die Wanderung durch die fünf Reiche unaufhaltsam weiter, und zwar so, dass auf ein Dasein in einem guten Zustande auch wieder ein Dasein in einem schlechten folgen kann und umgekehrt.
Betrachtet man die Kette der Wiedergeburten rückwärts, so ist ein Anfang nicht zu erkennen: Ein jedes Dasein setzt notwendig ein früheres Dasein voraus, in dem sich der zur Wiedergeburt führende Drang gebildet haben muss.
Daher wird auch in der Menschenwelt ein Kind, das geboren wird, nicht durch die Zeugung geschaffen oder durch einen göttlichen Schöpfungsakt bei der Zeugung in die Welt gesetzt, sondern das Wesen, das als Kind geboren wird, muss schon vor der Zeugung vorhanden gewesen sein. Der Buddha sagt darüber in der 31. Rede des Mājjhima-Nikāya:
«Wenn drei sich vereinen, entsteht eine Leibesfrucht: Sind Vater und Mutter vereint, aber die Mutter hat nicht ihre Zeit und das zur Wiedergeburt drängende Wesen ist nicht bereit, so bildet sich keine Leibesfrucht. Sind Vater und Mutter vereint und die Mutter hat ihre Zeit, aber jenes Wesen ist nicht bereit, so bildet sich gleichfalls keine Leibesfrucht. Sind aber Vater und Mutter vereint und die Mutter hat ihre Zeit und das zur Wiedergeburt drängende Wesen ist bereit, so bildet sich durch die Vereinigung dieser drei eine Leibesfrucht.»
Dass das Wesen gerade das Kind dieser oder jener Eltern wird, ist bestimmt durch die Taten, die es in einem früheren Dasein getan hat.
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Als die treibende Kraft der Wiedergeburt bezeichnet der Buddha in der zweiten edlen Wahrheit den Durst oder Drang. Es bedarf aber noch der Erklärung, woher der Drang stammt. Der Buddha gibt sie in einer längeren Formel, die im Pâli Paticcasamuppāda, auf Deutsch etwa: «Die Kette der Abhängigkeitsverhältnisse» oder «Die Bedingtheit alles Entstehens» genannt wird. Drang, sagt er, kann es nur geben, wo Empfindung ist. Der Drang setzt voraus, dass ein Gegenstand vorhanden ist, auf den sich der Drang richtet, und dass dieser Gegenstand empfunden worden ist. Wenn ich von nichts eine Empfindung habe, so kann es mich auch zu nichts drängen. Die Empfindung aber setzt eine Berührung voraus. Ohne dass zwischen mir und irgendeinem Gegenstand eine Berührung zustande gekommen ist, sei es eine Seh-, Hör-, Riech-, Schmeck-, Tast- oder Denkberührung, kann ich keine Empfindung von dem Gegenstand haben. Die Berührung wiederum ist bedingt durch das Vorhandensein von Sinnen, deren es nach der Lehre des Buddha sechs gibt: das Gesicht, das Gehör, den Geruch, den Geschmack, den Tastsinn und den inneren Sinn, d. h. das Vermögen zur Aufnahme von psychischen Dingen (FN 1). Wo keine Sinne vorhanden sind, kann es keine Berührung mit der Welt geben, sei es mit der körperlichen oder mit der psychischen. Die Bedingung für das Vorhandensein und die Tätigkeit von Sinnen ist ein lebendiger Organismus. Nur im Zusammenhang mit einem lebendigen Organismus sind Sinne möglich. Ein lebendiger Organismus setzt Bewusstsein voraus. Ein Körper, mit dem nicht irgendein, wenn auch nur dumpfes Bewusstsein verbunden ist, ist kein lebendiger Organismus. Bewusstsein bildet sich nur auf der Grundlage von Sankhāras, d.h. von unbewussten Lebensprozessen. Wie aber könnte ich auch nur zu unbewussten Lebensprozessen kommen, wenn ich im voraus gewusst hätte, dass alles in der Welt vergänglich und deshalb leidbringend ist? Ich muss also von anfanglosen Zeiten her in Unkenntnis über den wahren Charakter der Welt gewesen sein, sonst hätte sich niemals in mir ein Lebensprozess regen können.
Fußnote (1) Es gibt ausser der Welt der körperlichen Dinge auch eine Welt der psychischen Dinge, die ihrem Inhalt nach als Vorstellung oder Gedanken, ihrem Eindruckswert nach als Gefühle wahrgenommen werden. Unabhängig vom Buddhismus hat Wilhelm Haas eine Theorie der Psychischen Dingwelt (Bonn 1921) aufgestellt, die mit der Lehre des Buddha im Einklang steht.
So steht am Anfang der Reihe die «Unwissenheit», worunter die Unkenntnis der vier edlen Wahrheiten zu verstehen ist. Mit ihr beginnt die Formel, die der Buddha in der siebenten Nacht, nachdem er die Erleuchtung erlangt hatte, fand. Sie lautet (Udana I, 3):
So entsteht diese ganze Masse des Leidens.»
Auch die Glieder der Kette, die auf den Drang folgen, lassen sich am leichtesten verständlich machen, wenn man sie rückwärts verfolgt:
Altern und Sterben setzen die Geburt voraus. Das Geborenwerden ist ein Sonderfall eines allgemeinen Vorganges, den der Buddha das Werden nennt. In der Welt gibt es nichts ewig Beharrendes, sondern nur Vergängliches und Veränderliches; alles ist ein Werden und Vergehen. Das Werden aber setzt überall ein Zusammenfügen voraus. Das ist besonders erkennbar in der organischen Natur. Wo etwas wird, da muss entweder eine Vereinigung der Geschlechter oder doch wenigstens, bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung, der Zellteilung, eine Vereinigung einer Zelle mit Stoffen der Aussenwelt, ein Wachstum, vorausgegangen sein. Beides wird unter dem allgemeinen Begriff des «Ergreifens» oder «Anhaftens» zusammengefasst. Ein Ergreifen, sei es des anderen Geschlechts oder der Nahrung, und ein Haften daran würde nicht stattfinden, wenn nicht Drang vorhanden gewesen wäre.
Auf diese Weise lässt sich die Kette der Abhängigkeitsverhältnisse ohne Hilfe metaphysischer Spekulationen, die dem Buddha ganz fern lagen, zwanglos begreifen. Auch sie ist, wie alles in der Buddhalehre, unmittelbar von der Anschauung abgeleitet.
Die Kette kann aber auch anders erklärt werden, und das tun die gelehrten Buddha-Mönche in Ceylon, Burma und Siam oder Thailand, die zu der dort vorherrschenden Schule der Theravādin gehören. Auf Grund einer Tradition, die sich auf den Abhidhamma (siehe Anhang) stützt, verteilen sie die zwölf Glieder der Kette auf drei aufeinander folgende Lebensläufe, den zuletzt vergangenen, den gegenwärtigen und den zukünftigen, und zwar folgendermassen:
Vergangenes
1. Unwissenheit
Tatenvorgang, Wirkung
Leben 2. Lebensprozesse
(Sankhara)
Gegenwärtiges 3. Bewusstsein
Geburtsvorgang, Ursache
Leben
4. Lebendiger
5. Sinnesgebiete Ursache
6. Berührung
7. Empfindung
8. Drang
Tatenvorgang, Wirkung
9. Ergreifen
10. Werden
Zukünftiges
11. Geburt
Geburtsvorgang, Ursache
Leben
12. Altern und Sterben
Sie sagen (FN 1), da in der Kette der Abhängigkeitsverhältnisse der Geburtvorgang des zukünftigen Lebens (11, 12) und der Tatenvorgang des vergangenen Lebens (1, 2) genau mit den ausführlich erklärten zwei Vorgängen des gegenwärtigen Lebens (3-7, 8-10) übereinstimmen, so brauchten sie nur noch einmal kurz angedeutet zu werden. Nach ihrer Auffassung handelt es sich also um zwei abwechselnde Vorgänge:
I. Der Taten-Vorgang besteht aus der von der Unwissenheit beeinflussten Tätigkeit, die sich im Drang und im Ergreifen äussert; daraus folgt dann das Werden.
II. Der Geburt-Vorgang ist die Folge des Dranges und Ergreifens und bringt Bewusstsein, einen lebendigen Organismus, die sechs Sinne, Berührung und Empfindung mit sich.
III. Der Taten-Vorgang entsteht von neuem in Abhängigkeit von dem Vorhergegangenen: wieder Drang, Ergreifen, Werden.
IV. Der Geburt-Vorgang ist wieder abhängig von diesem und führt zu neuem Altern und Sterben.
So vollzieht sich, ohne dass ein Anfang zu erkennen ist, das immer neue Fortschreiten von der Geburt zum Tode und vom Tode zur Geburt.
In den überlieferten Reden des Buddha findet sich jedoch keine Andeutung einer solchen Verteilung der Kette der Abhängigkeitsverhältnisse über drei Lebensläufe, und es besteht auch keine innere Notwendigkeit, eine solche Verteilung anzunehmen.
Fussnote (1) Nyânatiloka, «Die Reden des Buddha aus dem Angūttara-Nikāya», Einer- bis Dreier-Buch, 2. Aufl. Seite 291.
Dass der Buddha nicht an die zeitliche Aufeinanderfolge der einzelnen Glieder der Kette gedacht hat, geht klar hervor aus einer Erläuterung, die er selbst nach dem Bericht im DN. XV seinem Jünger Ananda gab. Er sagte:
«Dies ist so zu verstehen: Angenommen, es gäbe überhaupt keinerlei Geburt, zum Beispiel keine Geburt von Göttern oder von guten Geistern oder von Unholden oder von sonstigen höheren Wesen oder von Menschen oder von irgendwelchen Tieren, würde dann wohl irgendwie Altern und Tod wahrzunehmen sein?»
Ananda antwortete: «Herr, gewiss nicht!»
«Also ist die Geburt die Bedingung für das Entstehen von Altern und Tod. Angenommen, es gäbe überhaupt keinerlei Werden, also kein Werden in der Welt der Begierden, kein Werden in der Welt der Gestalten, kein Werden in der Welt des Nichtgestalteten, würde dann wohl irgendwie Geburt wahrzunehmen sein?» - «Gewiss nicht!»
«Also ist Werden die Bedingung für das Entstehen der Geburt. Angenommen, es gäbe überhaupt kein Ergreifen und Anhaften, also kein Haften an sinnlichen Begierden, kein Haften an falschen Ansichten, kein Haften an religiösen Gebräuchen, kein Haften an der Ansicht, dass die Individualität das Ich sei, würde dann wohl irgendwie ein Werden wahrzunehmen sein?» - «Gewiss nicht!»
«Also ist das Ergreifen und Anhaften die Bedingung für das Entstehen des Werdens. Angenommen, es gäbe überhaupt keinen Drang, also keinen Drang nach Gestalten, keinen Drang nach Tönen, keinen Drang nach Düften, keinen Drang nach Geschmäcken, keinen Drang nach Tastbarem, keinen Drang nach Vorstellungen, würde dann wohl irgendwie ein Ergreifen und Anhaften wahrzunehmen sein?» - «Gewiss nicht!»
«Also ist der Drang die Bedingung für das Entstehen des Ergreifens und Anhaftens. Angenommen, es gäbe überhaupt keinerlei Empfindung, also keine aus der Seh-, Hör-, Riech-, Schmeck-, Tast- oder Denkberührung entstehende Empfindung, würde dann wohl irgendwie ein Drang wahrzunehmen sein?» - «Gewiss nicht!»
Also ist die Empfindung die Bedingung für das Entstehen des Dranges. Angenommen, es gäbe überhaupt keinerlei Berührung, also keine Seh-, Hör-, Riech-, Schmeck-, Tast- und Denkberührung, würde dann wohl irgendwie eine Empfindung wahrzunehmen sein?» - «Gewiss nicht!»
«Also ist die Berührung die Bedingung für das Entstehen der Empfindung. Angenommen, es gäbe nicht jenen Komplex psychisch-physischer Vorgänge, durch den der lebendige Organismus mit den psychischen Erlebnissen auf der einen Seite und mit der Aussenwelt auf der andern Seite in Beziehung steht, würde dann wohl irgendwie eine Berührung wahrzunehmen sein?» - «Gewiss nicht!»
«Also ist der lebendige Organismus die Bedingung für das Entstehen der Berührung. Angenommen, dass das Bewusstsein nicht in den Mutterschoss hinabstiege, würde sich dann wohl im Mutterschoss ein lebendiger Organismus herausbilden?» - «Gewiss nicht!»
«Angenommen, dass das Bewusstsein von einem Kinde getrennt würde, würde dann wohl der lebendige Organismus zum Wachstum und zur Entwicklung gelangen?» - «Gewiss nicht!»
«Also ist das Bewusstsein die Bedingung für das Entstehen des lebendigen Organismus. Angenommen, dass das Bewusstsein nicht in dem lebendigen Organismus Wurzel gefasst hätte, würde dann wohl die Entstehung des künftigen Geborenwerdens, Alterns, Sterbens und Leidens wahrzunehmen sein?» - «Gewiss nicht!»
«Also ist der lebendige Organismus die Bedingung für das Entstehen des Bewusstseins. Alles, was geboren wird oder altert oder stirbt oder vergeht oder entsteht, was im Bereich des Begreifbaren, des Erklärbaren, des Benennbaren, des Erkennbaren liegt, was da heranreift, um in seiner irdischen Gestalt in die Erscheinung zu treten, alles dies ist der lebendige Organismus mitsamt dem Bewusstsein.»
An diesem Zwiegespräch des Buddha mit Ananda fällt auf, dass
die beiden Glieder «Unwissenheit» und «Sankhāra»
weggelassen sind und dass auch das Gebiet der sechs Sinne nicht als eigenes
Glied aufgeführt wird, sondern im «lebendigen Organismus»
mitenthalten ist. Man sieht hieraus, dass die Lehre von der Abhängigkeitskette
im ursprünglichen Buddhismus kein starres Dogma ist, wie ja
der Buddhismus Dogmen - im Sinne feststehender Glaubenssätze - überhaupt
nicht kennt, sondern eine Methode, die Welt zu betrachten, und zwar die Methode,
die allein der Wirklichkeit entspricht. Wer nach dieser
Methode denkt, der schützt sich vor Fehlschlüssen und ist imstande,
die tiefsten Probleme zu lösen, wie weiter unten, im Abschnitt über
das Nirvana, gezeigt werden soll.
Das Leiden, das auf der Vergänglichkeit alles Daseins beruht, das den Kreislauf der Wiedergeburten erfüllt und dessen Ursprung im Durst oder Drang zu suchen ist, kann überwunden werden. Es nimmt ein Ende, wenn sein Ursprung, der Drang, völlig aufgegeben und vernichtet worden ist. Dieses ist der Inhalt der dritten edlen Wahrheit, die also lautet:
«Das Ende des Leidens ist dieses Dranges völliges Aufgeben, Vernichten, Verwerfen, Ablegen, Vertreiben.»
Dieser Lehrsatz bedarf keines Beweises, er leuchtet ohne weiteres ein: Die Erscheinung muss wegfallen, wenn die ihr zugrunde liegende Kraft weggefallen ist. Das Entscheidende für die Befreiung vom Leiden ist, dass der Drang von Grund aus vernichtet wird. Nach der Kette der Abhängigkeitsverhältnisse gibt es zwischen dem Drang und dem Leiden zwei Zwischenglieder: das Ergreifen und Anhaften und das Werden. Demgemäss lässt sich die Aufhebung des Leidens auch so ausdrücken, wie es im SN. XII, 44 geschieht:
«Hört der Drang gänzlich und restlos auf, so gibt es kein Ergreifen mehr; hört das Ergreifen auf, so gibt es kein Werden mehr; hört das Werden auf, so gibt es keine Geburt mehr; hört die Geburt auf, so verschwinden Altern und Sterben, Kummer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung.»
Wie aber ist es möglich, den Drang völlig aufzugeben? Diese Frage kann auf zweierlei Weise beantwortet werden, allgemein oder theoretisch, vom Gesichtspunkt der «Kette der Abhängigkeitsverhältnisse» aus, und im besonderen oder praktisch, mit Anweisungen für das Tun und Lassen des Menschen, der nach der Überwindung des Leidens strebt. Die erste Antwort ergibt sich ohne weiteres dadurch, dass man die «Kette der Abhängigkeitsverhältnisse» vom Drang aus rückwärts verfolgt (Udana I, 3)
«Wenn die Unwissenheit gänzlich und spurlos verschwindet, gibt es keine Sankhāras mehr. Verschwinden die Sankhāras, so gibt es kein Bewusstsein mehr. Verschwindet das Bewusstsein, so gibt es keinen lebendigen Organismus mehr. Verschwindet der lebendige Organismus, so gibt es die sechs Sinnesgebiete nicht mehr. Verschwinden die sechs Sinnesgebiete, so kommt es nicht mehr zu einer Berührung. Verschwindet die Berührung, so gibt es keine Empfindung mehr. Verschwindet die Empfindung, so gibt es keinen Drang mehr.»
Es kommt also darauf an, die «Unwissenheit» aufzuheben und an ihre Stelle das «Wissen» zu setzen, nämlich das Wissen vom Leiden, von seinem Ursprung, von seinem Ende und von dem zum Ende des Leidens führenden Pfad.
Praktisch ist die Frage dahin zu beantworten, dass der Drang aufgehoben wird, wenn der edle achtgliedrige Weg zu Ende gegangen wird. Dieser edle achtgliedrige Weg ist eben der zum Ende des Leidens führende Pfad. Beide Antworten laufen also, wie nicht anders zu erwarten war, im Endergebnis auf dasselbe hinaus, und dies ist die Wahrheit von dem zum Ende des Leidens führenden Pfad, in dessen Betrachtung wir nun fortzufahren haben.
Das zweite Stück des achtfachen Buddhaweges ist die rechte Gesinnung. Darunter ist zu verstehen: der Entschluss, zu entsagen, kein Übelwollen zu hegen, keinem Wesen ein Leid anzutun.
Der Entschluss, zu entsagen, ist ein innerer Vorgang. Er bedeutet eine neue innere Einstellung gegenüber der Welt. Wer entsagen will, sieht alle Dinge, mit denen er in Berührung kommt, lebende Wesen und leblose Gegenstände, so an, als seien sie nicht seinetwegen da, als habe er kein Recht auf sie. Die lebenden Wesen, die ihm nahestehen, Verwandte und Freunde, sowie die Tiere, die etwa zu seinem Haushalt gehören, betrachtet er so, als habe nicht er Ansprüche gegen sie, sondern sie Ansprüche gegen ihn. Er verzichtet darauf, sie in ihrer Freiheit irgendwie zu beschränken, sei es auch nur dadurch, dass er von ihnen Rücksichtnahme verlangt; wenn sie von ihm gehen, freiwillig oder irgendeinem Zwang folgend, so lässt er sie ohne Groll und ohne Trauer ziehen; bleiben sie bei ihm, so ist er bereit, ihnen alles zu opfern, ohne auf Gegenleistung zu rechnen. Die leblosen Gegenstände, die er besitzt, betrachtet er als ihm anvertraute Güter, die er gewissenhaft zu verwalten hat, von denen er sich aber ohne Kummer trennt, wenn sie ihm durch höhere Gewalt entrissen werden, und die er freudig hingibt, wenn er dadurch anderen Wesen die Leiden des Lebens erleichtern kann.
Was Entsagen heisst, erläutert der Buddha in einem Gespräch mit einer vornehmen Frau in Sâvatthî, der Visākhâ, die in tiefer Trauer über den Tod ihres Enkels zu ihm kam und ihn um Trost bat. Er sprach (Udana VIII, 8):
«Visākhâ, möchtest du dir so viele Söhne und Enkel wünschen, als es Menschen in Sâvatthî gibt?» «Ja, Herr!» antwortete sie. «Und wie viele Menschen sterben wohl täglich in Sâvatthî?» «Herr, an manchen Tagen sterben in Sâvatthî zehn Menschen, an manchen weniger, an manchen nur einer; an toten Mensehen ist in Sâvatthî kein Mangel.» «Was meinst du wohl, Visākhâ, würdest du da wohl zu irgendeiner Zeit nicht in Trauer sein?» «Das allerdings nicht, Herr, wenn ich so viele Söhne und Enkel hätte.»
«Visākhâ, wer hundert Wesen gern für sich haben möchte, der hat hundertmal Trauer, wer neunzig Wesen gern für sich haben möchte, hat neunzigmal Trauer, wer achtzig, achtzigmal, wer zehn, zehnmal, wer ein Wesen gern für sich haben möchte, hat einmal Trauer, wer kein Wesen gern für sich haben möchte, hat keinmal Trauer, der ist wahrlich frei von Kummer. »
Darauf sprach der Buddha feierlich diesen Spruch:
«Was es an Kummer, Jammer und mannigfachen Leiden in der Welt gibt, das gibt es nur, weil man etwas für sich haben möchte; wo man nichts für sich haben möchte, da gibt es auch jenes nicht.
Darum sind die glücklich und frei von Kummer, die nirgends in der Welt etwas für sich haben möchten.
Wer kummerlos und rein sein will, der hänge darum an nichts in der Welt sein Herz.»
Frei übersetzt kann derselbe Spruch auch so wiedergegeben werden:
«Sobald du etwas haben willst
Für dich, für dich allein,
So stellt sich auch im Augenblick
Das Leid des Lebens ein.Sobald du nichts mehr haben willst
Für dich in weiter Welt,
So schwindet jedes Leid dahin,
Das dich in Banden hält.Darum ist glücklich, ohne Leid,
Wer nichts für sich verlangt.
Es gibt in weiter Welt nichts mehr,
Um das sein Herz noch bangt» (FN 1).
Fußnote (1) Verfasser dieser Verse ist Anton Hartmann, Potsdam. Dieses Lehrgespräch, das in der Ursprache völlig klar ist, wird in der Übersetzung viel missverstanden, weil das Pâliwort «piya» hier gewöhnlich mit «lieb» übersetzt wird. Also z.B.: «Was es an Kummer in der Welt gibt, das gibt es nur, weil man etwas lieb hat ... Darum lasse man sich nirgends in der Welt etwas lieb sein.» Wer noch nicht in die Lehre des Buddha eingedrungen ist, könnte hiernach glauben, der Buddha verwerfe die Liebe und empfehle, lieblos durch das Leben zu gehen. An anderer Stelle wird zu zeigen sein, dass er im Gegenteil die Liebe als etwas Hohes und Verdienstvolles preist. Das Wort «piya» hat nichts mit «Liebe» zu tun, sondern bedeutet: «lieblich, angenehm, teuer, das, was einem gefällt, was man gern hat und behalten möchte.» Wem etwas «piya» ist, der hat diesem gegenüber nicht den Entschluss des Entsagens gefasst, wer aber «entsagt hat», kann trotzdem lieben, ja, wahre Liebe setzt Entsagung voraus.
Wer nicht Entsagung übt, kann das Ziel des Buddhaweges, die Befreiung vom Leiden, nie erreichen, ja er kann nicht einmal begreifen, dass dieses Ziel überhaupt erreichbar ist. Der Buddha lehrt dies durch folgendes Gleichnis (MN. 125):
«Das ist so, als wenn in der Nähe des Dorfes ein hoher Berg wäre, bis zu dem zwei Freunde aus dem Dorfe Hand in Hand miteinander wanderten, und der eine am Fusse des Berges stehen bliebe, der andere aber auf den Gipfel hinaufstiege. Der unten Stehende riefe nun seinem Freunde zu: «Was siehst du dort oben?» und der andere erwiderte: ‚Ich sehe von hier oben aus einen entzückenden Garten, einen lieblichen Hain, eine reizende Landschaft, einen herrlichen Lotosteich.‘ Jener aber spräche: ‚Das ist ja unmöglich, das kann nicht sein, dass du das alles siehst.‘ Darauf stiege der oben Stehende von dem Berg herab, ergriffe den andern am Arm, führte ihn auf den Berg hinauf, liesse ihn sich ein Weilchen erholen und fragte ihn dann: ‚Nun, was siehst du jetzt?‘ Und jener erwiderte: ‚Ich sehe von hier oben aus einen entzückenden Garten, einen lieblichen Hain, eine reizende Landschaft, einen herrlichen Lotosteich.‘ Nun spräche der erste: ‚Soeben erklärtest du doch für unmöglich, dass man das sieht, und jetzt sagst du selbst, dass du das alles siehst!‘ Jener erwiderte: ‚Solange ich durch diesen hohen Berg verdeckt war, sah ich nicht, was man sehen kann.‘»
Ebenso verhält es sich auch mit der Buddha-Lehre: ob sie wirklich
zum Ziel führt, kann nur der beurteilen, der sich die Mühe gibt,
sie genau zu befolgen und sich dadurch zu der sittlichen und geistigen
Höhe zu erheben, die ihm den erforderlichen Überblick gewährt.
Entsagen als innerer Vorgang darf nicht verwechselt
werden mit der äusseren Weltentsagung, die durch den Eintritt in den Mönchsorden vollzogen
wird. Schon vor der Erleuchtung hatte der Buddha erkannt, dass «wer
in der Häuslichkeit lebt, nicht leicht den höchsten, ganz reinen,
vollkommenen Wandel der Heiligkeit führen kann» (MN. 36), und
bald nachdem er seine Lehre zum erstenmal verkündet hatte, gründete
er deshalb einen Orden der Weltentsagenden, der noch heute besteht. In
ihm waren seine Jünger zusammengeschlossen, die seinem Beispiel folgten
und unter Verzicht auf persönliches Eigentum und die Bande der Verwandtschaft
sich ganz der Verwirklichung seiner Lehre hingaben. Diesem Orden verdanken
wir die treue Aufbewahrung seiner Worte. Aber die Zugehörigkeit zum
Orden ist nicht eine unerlässliche Bedingung für die Erreichung
des höchsten Ziels. Das hat der Buddha selbst klar ausgesprochen in
der 99. Rede des MN., wo er sagt:
«Ob einer im Hause bleibt oder in die Hauslosigkeit zieht (d.h. in den Orden eintritt), so lobe ich ihn nicht, wenn er falsch lebt. Denn wer falsch lebt, kann nicht zum Heil gelangen, mag er im Hause bleiben oder in die Hauslosigkeit gezogen sein. Ob einer im Hause bleibt oder in die Hauslosigkeit zieht, so lobe ich ihn, wenn er recht lebt. Denn wer recht lebt, kann zum Heil gelangen, mag er im Hause bleiben oder in die Hauslosigkeit gezogen sein.»
Zur rechten Gesinnung gehört ferner der Entschluss, kein Übelwollen
zu hegen und keinem Wesen ein Leid anzutun. Dieses beides verhält
sich zum Entsagen wie die Rückseite zur Vorderseite. Wer den anderen
lebenden Wesen gegenüber nur darauf verzichtete,
sie nicht für sich haben zu wollen, sie aber mit scheelen Augen ansähe
und sie quälte, der würde keine rechte Gesinnung haben. Kein
Übelwollen hegen und kein Leid verursachen sind Mindestforderungen,
die an einer späteren Stelle des Pfades erweitert werden. Wer am Anfang
des Pfades steht, für den ist es schwer genug, im täglichen Umgang
mit Menschen und Tieren gewissenhaft auf jede Regung des Übelwollens
zu verzichten, besonders wenn er selbst von anderen mit Übelwollen
behandelt wird, und alles zu vermeiden, was einem anderen Wesen ein Leid
zufügen könnte.
Rechtes Reden heisst: nicht lügen, keine üble Nachrede führen, keine rohen Worte gebrauchen, nicht unnütz plappern. Die Rede soll vor allem wahr sein. Wahre Worte vergleicht der Buddha den Blumen. Er sagt AN. III, 28:
«Kommt ein Mensch in eine Gesellschaft oder unter die Menge oder unter Verwandte oder in eine Versammlung oder wird er vor Gericht geführt und als Zeuge befragt, so erklärt er, wenn er nichts weiss: «Ich weiss nichts», oder wenn er etwas weiss: «Ich weiss es.» Wenn er nichts gesehen hat, erklärt er, dass er nichts gesehen habe, wenn er es gesehen hat, erklärt er, dass er es gesehen hat. So spricht er weder um seiner selbst willen, noch um eines andren willen, noch um irgendeines Vorteils willen eine bewusste Lüge. Von diesem Menschen heisst es, dass er Worte spricht, die den Blumen gleichen.»
Höher aber als Worte, die nur wahr sind, schätzt der Buddha solche wahren Worte, die zugleich liebreich sind; sie vergleicht er dem Nektar:
«Ein Mensch hat rohe Worte verworfen, hält sich von rohen Worten fern. Er spricht solche Worte, die untadelhaft sind, dem Ohre wohltuend, liebreich, zum Herzen dringend, höflich, vielen lieb und angenehm. Von diesem Menschen heisst es, dass er Worte spricht, die dem Nektar gleichen» (FN 1).
Fußnote (1) Nach Nyânatioka, Die Reden des Buddha aus der «Angereihten Sammlung».
Üble Nachrede und Verleumdung sind zu meiden. Vom Buddha wird im DN. 1, 1 gesagt: «Wenn er hier etwas gehört hat, hinterbringt er es nicht dort, wenn er dort etwas gehört hat, nicht hier, um Unfrieden zu stiften. Er einigt Entzweite, festigt Verbundene, Eintracht erhebt ihn und macht ihn froh, Eintracht fördernde Worte spricht er.»
Beim Reden soll man immer die Wirkung des Gesprochenen im Auge haben. «Nicht sage ich», heisst es im AN. IV, 183, «dass man über alles sprechen soll, was man gesehen hat, noch auch sage ich, dass man über alles, was man gesehen hat, nicht sprechen soll. Nicht sage ich, dass man über alles, was man gehört, empfunden, erkannt hat, sprechen soll, noch auch sage ich, dass man über alles, was man gehört, empfunden, erkannt hat, nicht sprechen soll. Über solches Gesehene, Gehörte, Empfundene oder Erkannte, wobei dem Sprecher die schlechten Eigenschaften zunehmen, die guten Eigenschaften schwinden, soll man nicht sprechen. Über solches Gesehene, Gehörte, Empfundene oder Erkannte aber, wobei dem Sprecher die schlechten Eigenschaften schwinden, die guten Eigenschaften zunehmen, soll man sprechen.»
Ausführlich lehrt der Buddha, wie ein Gespräch zu führen sei, im AN. III, 67:
«Wenn ein Mensch auf eine Frage, die eine direkte Antwort erfordert, direkt antwortet, auf eine Frage, die eine erläuternde Antwort erfordert, erläuternd antwortet, auf eine Frage, die eine Gegenfrage erfordert, mit einer Gegenfrage antwortet, und eine abzuweisende Frage abweist, so gilt er als geeignet zum Reden.
Wenn ein Mensch, dem eine Frage gestellt wird, nicht von einem auf das andere springt, nicht auf etwas Fremdes die Rede bringt, nicht Zorn, Ärger oder Misstrauen an den Tag legt, so gilt er als geeignet zum Reden ...
Wenn ein Mensch, dem eine Frage gestellt wird, nicht abschweift, nicht aufstampft, nicht laut auflacht, sich nicht an ein blosses Versehen klammert, so gilt er als geeignet zum Reden ...» (FN 1)
Fußnote (1) Nach Nyânatiloka a.a.0.
Rechtes Reden erfordert auch einen rechten Redestoff. Leeres Geschwätz ist zu meiden. An vielen Stellen des Kanons, so z.B. in DN. 1, 1, findet sich ein Verzeichnis von Gesprächsstoffen, an denen ein Jünger des Buddha keinen Gefallen findet: Politik («Könige, Diebe, Minister, Kriegsheere, Gefahren, Krieg»), Äusserlichkeiten des Lebens («Speisen, Getränke, Kleidung, Lagerstätten, Blumen, Wohlgerüche, Verwandte»), Reisebeschreibungen («Beförderungsmittel, Dörfer, Märkte, Städte, Länder, Strassen, Wasserschöpfplätze»), Weiber, Helden, Geistergeschichten, zusammenhanglose Einzelheiten, Grübeleien über den Ursprung der Welt und des Meeres, Spitzfindigkeiten.
Dieses Verzeichnis ungeeigneter Gesprächsstoffe ist jedoch nicht so aufzufassen, als ob der Buddha jede Erörterung der hier genannten Gegenstände unbedingt verboten hätte. Es wird vielmehr vom Buddha selbst berichtet, dass er Gesprächen dieser Art keineswegs immer ausgewichen ist. So liess er sich zum Beispiel nach DN. XVI (Mahāparinibbânasutta) mit dem Minister Vassakāra von Māgadha auf eine Unterredung über die Frage ein, ob der König Ajatasutta von Māgadha einen Krieg gegen seine Nachbarn, die Vajji, unternehmen sollte, und riet davon ab. Hieraus ist zu ersehen, dass es Fälle gibt, in denen auch der Buddhist über Fragen reden darf oder sogar muss, denen er im allgemeinen lieber aus dem Wege geht. Das Entscheidende ist, dass er nicht an Gesprächen solcher Art Gefallen findet, sich nicht unnötigerweise und zum Zeitvertreib auf sie einlässt und sich nicht in oberflächlicher oder leichtfertiger Weise mit solchen Dingen befasst.
Der beste Gesprächsstoff ist die Lehre des Buddha. Wiederholt hat
der Buddha seine Jünger ermahnt: «Trefft ihr euch, so geziemt
euch zweierlei: Gespräch über die Lehre oder edles Schweigen.»
Rechtes Tun besteht, kurz zusammengefasst, nach SN. XLV, 8 in der Beobachtung dreier Verhaltensregeln: Kein Leben zerstören; nichts nehmen, was nicht (freiwillig) gegeben wird; Unkeuschheit meiden. Im MN. 41 findet sich hierfür folgende nähere Anweisung:
«Man Zerstört kein Leben, man hat Stock und Schwert beiseite gelegt und lebt zartfühlend, erbarmungsreich, freundlich und gütig gegenüber allen lebenden Wesen.
Man nimmt nicht, was einem nicht gegeben ward. Was einem anderen in Dorf und Wald gehört, danach trachtet man nicht in diebischer Absicht und nimmt es nicht ungegeben.
Man meidet schlechten Wandel in sinnlichen Lüsten. Mit Mädchen,
die unter dem Schutz ihrer Eltern, ihrer Geschwister oder anderer Verwandten
stehen, mit verheirateten Frauen, mit Dienerinnen und auch mit geschmückten
Dirnen pflegt man keinen Geschlechtsverkehr.»
Rechte Lebensführung begreift rechte Gesinnung, rechtes Reden und rechtes Tun in sich und bezeichnet (im engeren Sinne) einen Lebensberuf, der zum mindesten zu keinem Verstoss gegen die bisher besprochenen Stücke des achtfachen Weges nötigt. Unvereinbar mit rechter Lebensführung sind nach AN. V, 177:
Handel mit Waffen, Handel mit lebenden Wesen, Handel mit Fleisch, Handel mit berauschenden Getränken, Handel mit Gift. Ferner nach MN. 94: der Beruf eines Fleischers, Vogelfängers, Wildstellers, Jägers, Fischers, Räubers, Henkers, Kerkermeisters und sonstigen «grausamen Handwerks». Im MN. 117 wird als falsche Lebensführung, die zu meiden ist, genannt: Unaufrichtigkeit, Verrat, Verdächtigung, Aushorchen und Wucher.
Im weiteren Sinne ist zur rechten Lebensführung die Befolgung aller Sittlichkeitslehren des Buddha zu rechnen, zu denen ausser den bisher genannten zunächst noch gehört, dass man sich nicht durch alkoholische Getränke oder Rauschgifte berauscht (FN 1). Berauschende Getränke soll der Anhänger des Buddha weder selbst trinken noch anderen zu trinken geben.
Fußnote (1) Die Regel lautet im Pâli: Surâmerayamajjapamâdattânâ veramani sikkhâpadam samâdiyâmi. Das heisst, wörtlich übersetzt: «Ich nehme die Verhaltensregel auf mich, den Zustand der Berauschtheit durch Wein, Likör oder andere Rauschmittel zu meiden.»
Somit ergeben sich für den Anhänger des Buddha fünf allgemeine Verhaltensregeln: 1. Kein Leben zerstören, 2. Nichts nehmen, was nicht (freiwillig) gegeben wird, 3. Unkeuschheit meiden, 4. Nicht lügen, 5. Berauschtheit meiden. Diese fünf Regeln werden nach der positiven Seite hin durch viele ins einzelne gehende Sittlichkeitsregeln ergänzt.
Alle diese Anweisungen sind aber keine Gebote oder Verbote des Buddha. Abgesehen von den Vorschriften für die Mönche zur Wahrung der Disziplin im Mönchsorden hat der Buddha überhaupt keine Gebote gegeben oder Verbote erlassen, sondern er hat durch sein Vorbild und durch Belehrung gezeigt, wie man sich zu verhalten hat, um dem Ziel der Befreiung vom Leiden näherzukommen. Die buddhistischen Sittlichkeitsregeln sind hauptsächlich in zwei Formen überliefert. Die eine besteht darin, dass über das Verhalten des Buddha selbst berichtet wird, z.B. im DN. 1, 1, 8 (nach Otto Frankes Übersetzung): «Verletzung lebender Wesen meidet und verabscheut der Sāmana Gótama, er rührt keinen Stock, keine Waffe an, er ist friedfertig und mitleidsvoll, ihn bewegt nur die Sorge um das Wohl aller lebenden Wesen. Etwas zu nehmen, was ihm nicht gegeben worden ist, meidet und verabscheut er, er nimmt und begehrt nur, was ihm gegeben wird, frei von Diebsgelüsten ist er und ehrlichen Herzens. Unkeuschheit meidet er und führt einen keuschen Wandel, er lebt in Entsagung und verabscheut die Geschlechtslust, der der gewöhnliche Haufe ergeben ist. Lüge meidet und verabscheut er, er redet die Wahrheit und ist der Wahrheit treu ergeben, zuverlässig und vertrauenswürdig, truglos gegen die Menschen. Verleumdung, grobe Worte, leeres Geschwätz meidet und verabscheut er, er redet nur zur rechten Zeit, er redet nur, was wahr ist, was zum Heile dient, er spricht über die Lehre, die Regeln der inneren Schulung; wo es angebracht ist, spricht er Worte, die im Gedächtnis aufbewahrt zu werden verdienen, er würzt mit Gleichnissen seine gemessene und inhaltsreiche Rede.» - Die Zweite Form ist ein Gelöbnis, das sich der Anhänger des Buddha selbst gibt, indem er sagt: «Ich nehme die Verhaltensregel auf mich, die Verletzung lebender Wesen zu meiden usw.» Der Anhänger des Buddha befolgt diese Regeln, nicht weil der Buddha es forderte, sondern weil er sich selbst davon überzeugt hat, dass sie gut und richtig sind. Ihre verpflichtende Kraft liegt einzig und allein in der Vernunft des handelnden Menschen.
Eine schöne, umfassende Anweisung für das sittliche Verhalten im Verkehr mit den Nächsten hat der Buddha in einem Gespräch mit einem jungen Bürger namens Singālaka gegeben, das im DN. XXXI mitgeteilt wird. Der Buddha beobachtete, wie Singālaka nach dem Tode seines Vaters alter Sitte gemäss den sechs Himmelsrichtungen (Osten, Süden, Westen, Norden, unten und oben) seine Huldigung darbringt, und gibt ihm, diese alte, wertlose Zeremonie umdeutend, eine Belehrung über seine Pflichten gegenüber seinen Mitmenschen:
Dem Osten, sagt der Buddha, entsprechen die Eltern, dem Süden die Lehrer, dem Westen Weib und Kind, dem Norden Freunde und Gefährten, dem Unten die Untergebenen (Knechte und Diener), dem Oben die Geistlichen (Samanen und Brahmanen), und fährt dann fort:
«Die Eltern soll man erhalten, da man von ihnen erhalten worden ist, man soll für sie arbeiten, der häuslichen Überlieferung treu bleiben, das Erbe antreten und, wenn sie gestorben sind, ihnen Spenden darbringen. Dafür halten die Eltern ihren Sohn vom Schlechten ab und leiten ihn zum Guten hin, sie erziehen ihn zu einem Beruf, führen ihm eine geeignete Gattin zu und lassen ihm beizeiten das Erbe zukommen.
Vor den Lehrern soll man aufstehen, man soll ihnen aufwarten, ihnen gehorchen, ihnen eifrig dienen und fleissig lernen. Dafür unterweisen die Lehrer ihren Schüler wohl, zeigen ihm fasslich, was er zu lernen hat, erklären ihm, was zu erklären ist, führen ihn bei Freunden und Gefährten ein und nehmen ihn überall in Obhut.
Der Frau soll man Achtung entgegenbringen, sie nicht geringschätzig behandeln, ihr kein Unrecht tun, nicht gebieterisch gegen sie auftreten und ihr genug zum Unterhalt geben. Dafür sorgt die Frau gut für das Hauswesen, gebietet der Dienerschaft, übertritt kein Gebot, behütet treu das Besitztum und ist geschickt und behende bei jeder Arbeit.
Die Freunde und Gefährten soll man beschenken, man spreche freundlich mit ihnen, bemühe sich um ihren Vorteil, betrachte sie als seinesgleichen und halte ihnen sein Wort. Dafür halten die Freunde und Gefährten ihren Freund vom Leichtsinn ab, suchen, wenn er doch leichtsinnig ist, sein Hab und Gut zu retten, sie bieten ihm Zuflucht in Gefahren, verlassen ihn nicht im Unglück und ehren ihn noch in seinen Nachkommen.
Den Untergebenen (Knechten und Dienern) soll man die Arbeit je nach der Kraft einteilen, ihnen Kost und Lohn geben, bei Krankheit für ihre Pflege sorgen, soll sie aussergewöhnliche Annehmlichkeiten mitgeniessen lassen und ihnen von Zeit zu Zeit Urlaub gewähren. Dafür stehen sie früher als ihr Herr von ihrem Lager auf, sie legen sich erst nach ihm nieder, sie nehmen nur, was ihnen gegeben wird, sie verrichten tüchtig ihre Arbeit und sind darauf bedacht, sein Ansehen zu wahren.
Die Geistlichen (Samanen und Brahmanen) behandle man liebevoll in Werken, Worten und Gedanken, verschliesse ihnen nicht das Tor und spende ihnen, wessen sie bedürfen. Dafür halten sie den Laien vom Schlechten ab und leiten ihn zum Guten hin, sie erbarmen sich seiner in Güte, unterweisen ihn in dem, was er noch nicht gehört hat, erläutern ihm, was er schon gehört hat, und zeigen ihm den Weg zum Himmelreich.»
An dieser Lehrrede ist zweierlei besonders zu beachten: einmal, dass der Buddha an die Spitze aller sittlichen Pflichten im Verkehr mit den Mitmenschen die Pietät gegen die Eltern stellt, und zweitens, dass er mit grenzenloser Duldsamkeit und Achtung vor den religiösen Überzeugungen Andersgläubiger ehrerbietiges Verhalten und Freigebigkeit gegenüber Samanen und Brahmanen, also auch gegenüber nichtbuddhistischen Geistlichen, seinen Anhängern zur Pflicht macht.
Für Ehrerbietung und Freigebigkeit gegenüber andersgläubigen Geistlichen hat der Buddha selbst ein gutes Beispiel gegeben. Im Mahavagga VI, 31 wird darüber berichtet: Der General Siha in Vesāli, ein Anhänger der Niganthas oder Jainas, hörte die Vorzüge des Buddha, seiner Lehre und seiner Mönchsgemeinde rühmen, beschloss, den Buddha aufzusuchen, und hatte eine Unterredung mit ihm. Das Ergebnis war, dass Siha den Buddha bat, sich ihm als Laienanhänger anschliessen zu dürfen. Darauf erwiderte der Buddha: «Handle ganz nach deiner Einsicht, denn das geziemt sich für angesehene Leute, wie du bist!» Als nun Siha nochmals erklärte, er wolle bis an sein Lebensende Laienanhänger des Buddha sein, ermahnte ihn der Buddha: «Lange Zeit war dein Haus eine Verpflegungsstätte für die Niganthas; deshalb darfst du glauben, dass du ihnen, wenn sie kommen, auch weiterhin Almosenspeise reichen musst!»
Als sittliche Eigenschaften, die zu pflegen sind, weil sie Gutes erzeugen und das Schlechte zum Schwinden bringen, werden genannt (AN. 1, 6 - 8): Gewissenhaftigkeit, Tatkraft, Genügsamkeit, Zufriedenheit, weises Erwägen, klares Bewusstsein, edle Freundschaft, Neigung zum Guten und Abneigung vor dem Bösen.
Im Sutta-Nipāta 1, 8 heisst es:
«Dies ist es, was ein Mensch, der mit Geschick sein Heil sucht, tun muss, um zur Stätte des Friedens zu gelangen: Hilfreich sei er, aufrichtig, gewissenhaft, gefällig, sanft und ohne Stolz, zufrieden und anspruchslos, sorglos und bedürfnislos, die Sinne beherrschend, besonnen, sittsam und nicht gierig in den Familien (beim Bettelgang). Er tue nichts Gemeines, weswegen ihn andere, die klug sind, tadeln könnten, ... Nicht betrüge einer den andern noch überhebe sich einer über den andern, niemand wünsche aus Zorn oder Ärger einem andern etwas Übles. Wie eine Mutter mit ihrem Leben ihr eigenes Kind, ihren einzigen Sohn beschützt, so hege er grenzenlose Güte für alle Wesen. Grenzenlose Güte hege er für alle Welt, ohne Hass, ohne Feindschaft, nach oben, nach unten und nach allen Seiten.»
Viele Sittlichkeitslehren enthalten auch die Sprüche des Dhammapada; einige davon seien hier angeführt:
«,Er schmähte mich, er schlug auf mich, er überwand mich mit Gewalt‘ - wer solcherlei Gedanken hegt, der wird von Feindschaft niemals frei.
‚Er schmähte mich, er schlug auf mich, er überwand mich mit Gewalt‘ - wer dem Gedanken Raum nicht gibt, der wird gar bald von Feindschaft frei.
Denn Feindschaft kommt hier durch Feindschaft nie zur Ruhe; durch Versöhnlichkeit kommt sie zur Ruhe. Dies ist ein ewiges Gesetz.» (3 - 5.).
«Bezwinge den Zorn durch Wohlwollen, durch Gutes besiege das Böse; den Geizigen überwinde durch Freigebigkeit und den Lügner durch Wahrheit.» (223.)
«Durch Festigkeit und ernstes Streben, durch Selbstzucht, Sinneszügelung, bereite sich der weise Mann ein Eiland, das vor der Hochflut ganz gesichert ist.» (25.)
«Die Toren, denen Weisheit fehlt, sind der Leichtfertigkeit ergeben; der Weise wahrt sein ernstes Streben sich als den kostbarsten Besitz.» (26.)
«Nicht die Vergehungen der anderen, was sie getan, was sie versäumt, soll man betrachten; vielmehr das, was man selbst tut und unterlässt.» (50.)
«Nicht wer im Kampfe viele Tausende besiegt hat, sondern nur wer sich selbst bezwang, ist von den Siegern im Kampf der grösste.» (103.)
«Wer nur sein eigenes Glück verfolgt, indem er anderen Wesen Harm bereitet, die doch auch wollen glücklich sein, der findet nach dem Tode nicht das Glück.» (131.)
«Wer auch nur das eine Gebot übertritt, indem er lügt und sich um die andere Welt nicht kümmert, für den gibt es keine Übeltat, zu der er nicht fähig wäre.» (176.) (FN 1)
Aus dem Samyutta-Nikāya VII, 1:
«Wer nicht widerzürnt dem Zorn‘gen, ist im schwersten Kampfe
Sieger.
Der wirkt Heil für beide Streiter, Heil für sich und für
den Gegner,
Wer besonnen Ruhe wahret, wenn er merkt den Zorn des andern.»
«Wer einen friedlichen Menschen beschimpft,
Einen reinen, an dem kein Fehl ist,
Der ist ein Tor, denn der Schimpf fällt zurück
Wie der Staub, den man gegen den Wind wirft.»
Fußnote (1) Teilweise nach der Übersetzung Karl Seidenstückers in «Pâli-Buddhismus», 2. Auflage, München-Neubiberg 1923
Gerade wenn man gereizt wird, soll man seine Friedfertigkeit beweisen. Dies lehrt der Buddha im MN. 21 an einem Gleichnis aus dem Alltagsleben:
«Es war einmal in Savātthi eine Bürgersfrau namens Vedéhika, die in dem guten Ruf stand, sanftmütig, liebenswürdig und friedsam zu sein. Diese hatte eine Magd namens Kali, die geschickt und fleissig war und ihre Arbeiten ordentlich machte. Dieser Magd kam einmal der Gedanke: ‚Meine Herrin steht in dem guten Ruf, sanftmütig, liebenswürdig und friedsam zu sein. Ob sie wohl im Innern doch zornig ist und ihr Zorn nur nicht zum Vorschein kommt oder ob sie wirklich keinen Zorn kennt? Vielleicht mache ich meine Arbeit so ordentlich, dass Sie keinen Anlass hat, mir ihren Zorn, den sie im Innern verbirgt, zu zeigen? Wie wäre es, wenn ich sie einmal auf die Probe stellte?‘ Dann stand sie erst bei hellem Tage auf. Da rief die Frau sie: ‚He, Kali!‘ - ‚Was gibt‘s?‘ - ‚Warum stehst du erst bei hellem Tage auf?‘ - ‚Das macht doch nichts!‘ - ‚Mir aber macht‘s was, du schlechte Magd, dass du erst bei hellem Tage aufstehst‘, sagte Frau Vedéhika zornig und unzufrieden. Da dachte die Magd: ‚Meine Herrin ist also doch im Innern zornig; der Zorn kam nur nicht zum Vorschein, weil ich meine Arbeit so ordentlich machte. Nun will ich sie noch mehr auf die Probe stellen.‘ Und sie stand noch später auf. Wieder rief Frau Vedéhika: ‚He! Kali!‘ - ‚Was gibt‘s?‘ - ‚Warum stehst du erst bei hellem Tage auf?‘ - ‚Das macht doch nichts!‘ - ‚Mir aber macht‘s was, du schlechte Magd, dass du erst bei hellem Tage aufstehst‘, schrie Frau Vedéhika zornig und unzufrieden und schimpfte. Die Magd aber stand immer später auf, die Auftritte wiederholten sich, und schliesslich warf Frau Vedéhika der Magd eine Torriegelspitze an den Kopf und verletzte sie. Nun lief die Magd mit blutigem Kopf zu den Nachbarn und schrie: ‚Sehet, dies hat die Sanftmütige getan! Sehet, dies hat die Liebenswürdige getan! Sehet, dies hat die Friedsame getan! Sehet, wie es bei ihr zugeht, die nur eine einzige Magd hält!‘ So kam damals die Frau Vedéhika in den schlechten Ruf, heftig, unliebenswürdig und streitsüchtig zu sein. Ebenso ist mancher nur so lange sanftmütig, liebenswürdig und friedsam, als man ihm nicht mit unangenehmen Worten begegnet. Aber gerade dann, wenn man einem mit unangenehmen Worten begegnet, soll man sich als sanftmütig, liebenswürdig und friedsam erweisen. »
Aus dem Sutta-Nipāta II, 14:
«Der Laie, der die Lehre befolgt, soll sich nicht berauschenden Getränken ergeben. Er fordere keinen andern zum Trinken auf und spende dem Trinkenden keinen Beifall, denn er weiss, dass Trunksucht zum Wahnsinn führt. Durch Trunksucht verfallen die Toren dem Bösen und verleiten auch andere zur Unmässigkeit. Er fliehe diesen Bereich der Übel, diesen Wahnsinn, diese Verblendung, an der nur Toren ihre Freude haben.»
Aus dem Mājjhima-Nikāya 125:
«Beim Essen halte Mass und sei achtsam, nimm die Nahrung mit Bedacht ein, nicht zum Vergnügen und zum Behagen, nicht um schön und üppig zu werden, sondern nur um den Fortbestand dieses Körpers zu sichern, um Schaden zu verhüten und einen reinen Lebenswandel führen zu können, und bedenke dabei: So werde ich das Ergebnis früheren Wirkens absterben lassen und kein Ergebnis neuen Wirkens aufkommen lassen, ich werde meinen Lebensunterhalt haben, keinen Tadel verdienen und mich wohl befinden.»
Den Mönchen gab der Buddha, wie im Mahavagga VI, 31 berichtet wird, diese Anweisung: «Fleisch soll man nicht essen, wenn man weiss, dass es für diese Mahlzeit eigens geschlachtet worden ist. Wer es doch ässe, würde sich einer Missetat schuldig machen. Ich gestatte, Fisch oder Fleisch zu essen, wenn es in drei Punkten rein ist: wenn man nicht gesehen hat (dass das Tier geschlachtet wurde), wenn man nicht gehört hat (dass es für die betreffende Mahlzeit geschlachtet wurde) und wenn man keinen Verdacht (in dieser Hinsicht) hat.» Die eingeklammerten Worte stehen nicht im Text, sondern sind erläuternder Zusatz.
Auch Gemeinnützigkeit ist ein wichtiger Zug der buddhistischen Sittlichkeit. Im SN. 1, 47 findet sich folgender Ausspruch des Buddha:
«Wer Gärten anlegt, Haine pflanzt, Brücken baut, Zisternen und Brunnen anlegt, Heimstätten errichtet, bei dem wächst Tag und Nacht das Verdienst: wer so handelt, lebt der Lehre gemäss, befleissigt sich der Sittlichkeit und wird in den Himmel kommen.»
Ein Vorbild für echte Freundschaft ist das Verhältnis der drei Jünger des Buddha Anuruddha, Nandiya und Kimbila, das in der 31. Rede des MN. beschrieben wird. Ein jeder der drei Jünger antwortet dort dem Buddha auf seine Frage, wie sie miteinander lebten:
«Herr, ich schätze mich glücklich, dass ich mit solchen Mitstrebenden vereint lebe. Ich diene diesen Ehrwürdigen offen und geheim mit liebevollen Werken, Worten und Gedanken. Meinen eigenen Willen habe ich aufgegeben und lebe ganz nach dem Willen dieser Ehrwürdigen. Verschieden zwar, Herr, sind unsere Körper, aber wir haben sozusagen nur einen Willen. »
Als höchste aller Tugenden aber preist der Buddha die Güte gegenüber allen lebenden Wesen. Diese Güte heisst im Pali «mettâ», ein Wort, das andere mit «Liebe» (Pischel) und mit «Freundschaft» (Oldenberg) übersetzen. Das eine trifft den Sinn so wenig wie das andere. Die Übersetzung «Liebe» ist schon deshalb abzulehnen, weil das deutsche Wort «Liebe» mehrdeutig ist und leicht zu Missverständnissen führt. «Liebe» heisst im Pâli «rāga» und ist geradezu das Gegenteil von «mettā». Rāga ist die sinnliche Liebe, das Hängen an den Dingen dieser Welt, an Weib und Kind, an Hab und Gut, an den Freuden und Genüssen des Lebens. Mettā dagegen entsteht im Herzen des Menschen, der rāga und dosa («Hass») aufgibt. Es ist auch nicht richtig, die buddhistische Mettā mit der christlichen Nächstenliebe gleichzusetzen, denn Mettā beschränkt sich nicht auf die «Nächsten» im Sinne der christlichen Sittenlehre, sondern erstreckt sich auf alle Wesen, auch Tiere, auch auf die dem Menschen ganz fernstehenden. Sie ist das Gegenteil von Übelwollen, also ein allgemeines Wohlwollen, eine warme, gütige Gesinnung, die keine Schranken kennt.
Die Güte ist die höchste aller Tugenden, aber sie ist nicht das Höchste überhaupt, was der Buddha lehrt. Sie steht nicht am Ende, sondern in der Mitte des achtfachen Buddhaweges. Sie gehört noch zu den «verdienstwirkenden Mitteln», zu den Betätigungen, die bei der Wiedergeburt aufwärts, zu höheren, glückseligen Zuständen führen, aber nicht zu denen, deren Folge die endgültige Befreiung vom Leiden ist. Unter den «verdienstwirkenden Mitteln» ist sie jedoch das vorzüglichste deshalb, weil sie am meisten geeignet ist, des Menschen Geist von den Fesseln des Dranges freizumachen. So ist die Lobpreisung der Güte zu verstehen, die sich im Itivuttaka 27 findet:
«Alles, was wir hienieden tun können, um unser künftiges Los zu bessern, verschwindet an Wert neben der Güte, der herzerlösenden. Die Güte, die herzerlösende, nimmt alles andere in sich auf und leuchtet und glänzt und strahlt, gleichwie aller Sternenschein verschwindet neben dem Schein des Mondes, der jenen in sich aufnimmt und leuchtet und glänzt und strahlt.
Gleichwie im letzten Monat der Regenzeit, im Herbste, die Sonne am reinen, wolkenlosen Himmel, wenn sie emporsteigt, alles den Luftraum erfüllende Dunkel verscheucht und leuchtet und glänzt und strahlt, ebenso verschwindet alles, was wir hienieden tun können, um unser künftiges Los zu bessern, an Wert neben der Güte, der herzerlösenden.
Gleichwie des Nachts, zur Zeit der ersten Dämmerung, der heilbringende Stern leuchtet und glänzt und strahlt, so verschwindet alles, was wir hienieden tun können, um unser künftiges Los zu bessern, an Wert neben der Güte, der herzerlösenden. Die Güte, die herzerlösende, nimmt alles andere in sich auf und leuchtet und glänzt und strahlt. »
So sprach der Erhabene, darum sagt man:
«Wer vollbewusst unermessliche Güte pflegt, eingedenk der Hinfälligkeit alles Sterblichen, dem lösen sich die irdischen Fesseln. Wer klaren Sinnes auch nur für ein lebendes Wesen Güte hegt, der ist schon dadurch ein Gerechter. Der Edle aber, der sich aller Wesen in seinem Herzen erbarmt, ist reich an Verdienst. Jene weisen Herrscher, die sich den Erdkreis mit ihren zahllosen Wesen unterworfen hatten und dann, Opfer darbringend, von Land zu Land zogen, waren armselig, verglichen mit einem Gemüt, das von Güte gegen alle Wesen erfüllt ist. Wer nicht tötet noch töten lässt, nicht Gewalt tut noch Gewalt tun lässt, wer gegen alle Wesen gütig gesinnt ist, hat keinerlei Feindschaft zu fürchten.»
Von der Güte gegen Feinde sagt der Buddha im MN. 21:
«Selbst wenn Räuber und Mörder mit einer doppelt gezähnten Säge euch ein Glied nach dem anderen abtrennten und ihr ergrimmtet darob in eurem Gemüte, so würdet ihr nicht meine Weisung erfüllen.
Auch in diesem Falle müsst ihr euch also üben: Nicht soll unser Gemüt voll Unmut werden, kein böses Wort wollen wir ausstossen, freundlich und mitleidig wollen wir bleiben, gütig gesinnt, ohne heimlichen Hass, und diesen Menschen wollen wir mit gütiger Gesinnung durchdringen, und von ihm ausgehend wollen wir die ganze Welt mit gütiger Gesinnung durchdringen, mit umfassender, grosser, unermesslicher, friedlicher und freundlicher Gesinnung. So müsst ihr euch üben!»
***
Die Sittlichkeitslehre des Buddhismus unterscheidet sich ebenso wie die Weltanschauung des Buddhismus von der aller Glaubensbekenntnisse dadurch, dass sie sich nicht auf die Offenbarung irgendeiner göttlichen Autorität stützt, nicht von Gläubigen kritiklos hingenommen werden soll, sondern von selbst denkenden Menschen als richtig erkannt werden will. Der Buddhist handelt gut nicht aus Liebe zu Gott oder aus Furcht vor Gott, auch nicht aus Gehorsam gegenüber dem Buddha, sondern weil er einsieht, dass er durch sittliches Handeln selbst besser wird, sich mehr und mehr daran gewöhnt, Begierde, Hass und Verblendung abzulegen, und dass er sich dadurch selbst von dem Leiden des Daseins befreit. Wenn der Buddha von Lohn und Vergeltung für gute und böse Taten spricht, so denkt er dabei nie an einen Gott, der da richtet die Lebendigen und die Toten, der nach Gutdünken begnadigen oder zu ewiger Höllenpein verurteilen kann, vielmehr spricht er stets von der im Kausalitätsgesetz liegenden immanenten Gerechtigkeit, derzufolge eine gute Tat den Täter selbst hebt, in ihm die Bande der Selbstsucht lockert, während eine böse Tat den Täter selbst niederdrückt, in ihm den egoistischen Drang zum Leben verstärkt und ihn dadurch irgendwann in seinem künftigen Dasein in ungünstige, peinvolle Zustände bringt.
Man hat gegen die Sittlichkeitslehre des Buddhismus eingewendet, dass sie sich auf die Selbstsucht gründe, indem sie dem Guten Vorteile und dem Bösen Nachteile in Aussicht stelle. Dieser Einwand beruht auf einem Missverständnis. Wenn der Buddha gute Folgen für gute und schlechte Folgen für böse Taten lehrt, so lassen sich dafür zwei Gründe anführen: erstens, dass es sich aus seiner Weltanschauung mit Notwendigkeit ergibt, dass es also nach seiner Überzeugung der Wirklichkeit entspricht, und zweitens, dass nach seiner Lehre die sittliche Lebensführung zeitlich der religiösen Hebung und Läuterung des Menschen vorausgehen muss. Sie steht in der Mitte des achtgliedrigen Weges. Es wäre unlogisch und praktisch undurchführbar, die Sittlichkeitslehre auf die Forderung der Selbstlosigkeit, der Vernichtung der Selbstsucht aufzubauen, da ja diese erst als Frucht der sittlichen Lebensführung und der geistlichen Übungen erreicht werden kann. Der Mensch, für den die Sittlichkeitslehren gelten, der sich noch in der Moral üben soll, steckt noch tief in der Selbstsucht, und es ist durchaus angemessen, dass er die Triebfedern zum sittlichen Handeln der Selbstsucht entnimmt. Je mehr er sich aber in dem zunächst egoistisch gedachten Streben, sein eigenes künftiges Los zu bessern, der sittlichen Zucht befleissigt, um so mehr streift er die Selbstsucht Stück für Stück ab und wird dadurch reif zum Fortschreiten auf dem achtfachen Wege. Die hier besprochenen Sittlichkeitslehren sind also gewissermassen die «sittliche Zucht für Anfänger» und die Sittlichkeitslehre für die Menge. Etwas ganz anderes ist das sittliche Ideal des Buddhismus. Das ist die Sittlichkeit des Heiligen, die ihren Platz erst am Ende des achtfachen Weges hat.
Wer sich in der allgemeinen sittlichen Zucht des Buddhismus gefestigt hat, der gelangt nun zur Heilslehre des Buddhismus. Sie umfasst die drei letzten Stücke des Weges. Das sind geistliche Übungen, die darauf abzielen, die Selbstbeherrschung auf das äusserste zu steigern und die bisher nur verstandesmässig aufgenommene Buddhalehre zur anschaulichen Erkenntnis zu bringen, um sie dadurch unverlierbar und in allen Lebenslagen gegenwärtig zu machen.
Der Buddhist soll nicht nur seinen Körper, sondern auch sein Gemüt vollständig beherrschen, nicht nur alles, was sich im Bereich seines Bewusstseins abspielt, sondern auch und das ist das Wichtigste und Entscheidende - die unbewusst vor sich gehenden vegetativen Funktionen seines Körpers und ebenso die unbewusst wirkenden Triebe. Nur wer seinen physisch-psychischen Organismus bis in die letzten Winkel hinein in seiner Gewalt hat, der kann von sich sagen, er habe Begierde, Hass und Verblendung gänzlich überwunden, er habe den Drang vernichtet, habe getan, was zu tun war, und die Gewissheit erlangt, dass er zu dieser Welt nicht mehr zurückkehren werde.
Im Udana IV, 1 heisst es:
«Wer die leisen Gedanken, die zarten Gedanken, die noch nicht offenbaren Wallungen des Geistes nicht erkannt hat, eilt unsteten Geistes von Dasein zu Dasein; aber der Eifrige, der diese Gedanken erkannt hat, beherrscht sie klar bewusst. Der Buddha hat auch die noch nicht offenbaren Wallungen des Geistes restlos überwunden.»
Was für die Offenbarungsreligionen Gebet, Gottesdienst und Sakramente sind, das sind für die auf Erfahrung und Vernunfterkenntnis beruhende Buddhalehre die geistlichen Übungen. In der vom Buddha erkannten und verkündeten Weltordnung, in der das Gesetz von Ursache und Wirkung unumschränkt herrscht, ist kein Platz für den Glauben an einen allmächtigen Gott, der nach seinem Belieben belohnen oder bestrafen könnte. Die Befreiung oder Erlösung ist nicht das Werk eines göttlichen Erlösers, sondern der Mensch, jeder einzelne, hat die Möglichkeit, sich selbst zu erlösen. Auch der Buddha kann dabei nicht helfen. Er zeigt nur den Weg. Gehen muss ihn jeder selbst. Es wäre aber ein Irrtum, anzunehmen, dass der Buddha die Götter leugnete. Nur einen Weltschöpfer und -regierer kann er nicht anerkennen. Ein erster Anfang ist, so lehrt der Buddha, nicht zu erkennen, und das periodische Entstehen und Vergehen dieser Welt vollzieht sich nach ehernen und unabänderlichen Gesetzen ohne das Eingreifen eines Gottes, ebenso wie die sittliche Weltordnung unabänderlich feststeht und für göttliche Gnade oder Ungnade keinen Raum lässt. Den Glauben an den höchsten Gott Brahma, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, wie ihn die Brahmanen zu des Buddha Zeiten verehrten, behandelt der Buddha mit feiner, aber vernichtender Ironie. So erzählte er einmal (DN. XI) folgende Geschichte:
«Einem Buddha-Mönch kam einmal der Gedanke: ‚Wo finden die vier grossen Gebilde: Erde, Wasser, Feuer und Luft restlos ihr Ende?‘ Da versetzte er sich in einen solchen Zustand geistiger Sammlung, dass in seinem Geiste der zu den Devas führende Weg erschien. Er kam zu den Göttern, die von den vier Götterkönigen beherrscht werden, und fragte sie: ‚Liebe Freunde, wo finden die vier grossen Gebilde restlos ihr Ende?‘ Sie antworteten ihm: ‚Mönch, das wissen wir auch nicht. Da sind aber die vier grossen Götterkönige, herrlicher und erhabener als wir, die werden es wohl wissen.‘ Da ging der Mönch zu den vier grossen Götterkönigen und legte ihnen dieselbe Frage vor. Sie antworteten: ‚Mönch, das wissen wir auch nicht. Da sind aber die Dreiunddreissig Götter, herrlicher und erhabener als wir, die werden es wohl wissen.‘ Da ging der Mönch zu den Dreiunddreissig Göttern und richtete an sie dieselbe Frage. Sie antworteten ebenso und verwiesen ihn mit den gleichen Worten an Indra, den König der Götter, dieser an die Yāmagötter, und so wurde der Mönch weiter immer von einer Götterart an die nächst höhere und erhabenere verwiesen, zuletzt an die Götter der Brahmawelt. Diese antworteten ihm: ‚Mönch, das wissen wir auch nicht. Da ist aber noch Brahma, der grosse Brahma, der Allmächtige, keinem Untergebene, dessen Auge nichts verborgen ist, der unumschränkte Herr, der Wirkende, der Schöpfer, der höchste Regierer, der alles nach seinem Willen lenkt, der Vater alles Gewordenen und Zukünftigen, der wird es wohl wissen.‘ - ‚Liebe Freunde, wo hält sich aber wohl augenblicklich der grosse Brahma auf?‘- ‚Das wissen wir nicht, wir wissen auch nicht, auf welchem Wege man zu ihm gelangt. Aber wenn Zeichen geschehen, wenn es hell wird und Glanz hervorbricht, dann wird Brahma erscheinen.‘
Nicht lange danach erschien der grosse Brahma. Der Mönch ging zu ihm und legte ihm seine Frage vor. Da antwortete Brahma: ‚Mönch, ich bin Brahma, der grosse Brahma, der Allmächtige, keinem Untergebene, dessen Auge nichts verborgen ist, der unumschränkte Herr, der Wirkende, der Schöpfer, der höchste Regierer, der alles nach seinem Willen lenkt, der Vater alles Gewordenen und Zukünftigen.‘ Der Mönch aber sprach: ‚Lieber Freund, ich frage dich ja nicht nach allen deinen Eigenschaften und Ehrennamen, sondern ich frage dich, wo die vier grossen Gebilde ihr Ende finden.‘ Brahma aber sagte wiederum alle seine Titel her. Da fragte ihn der Mönch zum drittenmal, und nun fasste Brahma ihn am Arm, nahm ihn beiseite und sagte:
‚Mönch, hier diese Götter der Brahmawelt denken, es gebe nichts, was Brahma nicht erschaut und erkannt hätte, und nichts, was ihm nicht offenbar wäre. Darum antworte ich dir nicht in ihrer Gegenwart. Mönch, auch ich weiss nicht, wo die vier grossen Gebilde restlos ihr Ende finden. Du hast also nicht recht getan, den Erhabenen, den Buddha zu umgehen und wo anders eine Antwort auf diese Frage zu suchen. Gehe zum Erhabenen und lege ihm deine Frage vor und halte dich an das, was er antwortet.‘
Darauf verschwand der Mönch blitzschnell aus der Brahmawelt und erschien bei mir, begrüsste mich höflich und legte mir seine Frage vor. Ich entgegnete ihm: ‚Deine Frage sollte nicht so gestellt werden, wie du sie stelltest, sondern so: Wo haben Wasser und Erde, Feuer und Luft keinen festen Bestand? Wo verschwinden Länge und Kürze, Geringes und Mächtiges, Schönes und Unschönes, wo verschwindet spurlos auch der lebendige Organismus?
Die Antwort lautet: Im Bewusstsein, das selbst unerklärlich, unendlich und alleuchtend ist, haben Wasser und Erde, Feuer und Luft keinen festen Bestand; in ihm verschwinden Länge und Kürze, Geringes und Mächtiges, Schönes und Unschönes, in ihm oder mit ihm verschwindet auch spurlos der lebendige Organismus. Wenn das Bewusstsein verschwindet, verschwindet auch dies alles.‘»
Hier weist der Buddha die Frage nach dem äusseren Bestande und Untergange des Weltganzen als falsch gestellt und deshalb unlösbar ab und erklärt, dass für uns Menschen die Welt und ihre vier grossen Gebilde nur insoweit erkennbar sind, als sie in unserem Bewusstsein erscheinen: in unserem Bewusstsein aber hat die Welt mit ihren polaren Gegensätzen einschliesslich des beseelten Leibes des Menschen keinen festen Bestand, sondern alles hört auf zu bestehen, sobald das Bewusstsein aufgehoben ist. Im Udana I, 10 sagt der Buddha:
«Du hast dich in dieser Weise zu üben: Alles, was du siehst, hörst, denkst und dessen du dir bewusst wirst, hat ausschliesslich nur als Gesehenes, Gehörtes, Gedachtes und Bewusstgewordenes zu gelten. Wenn dann alles, was du siehst, hörst, denkst oder dessen du dir bewusst wirst, für dich ausschliesslich nur als Gesehenes, Gehörtes, Gedachtes und Bewusstgewordenes gilt, so gehörst du weder dieser noch jener Welt an noch auch dem, was innerhalb beider ist. Eben dies ist das Ende des Leidens.»
In der vorher angeführten Rede lehrt der Buddha, dass auch der höchste Gott, der als allwissend gilt, in Wirklichkeit nicht allwissend ist, denn auch er kann über Bestand und Untergang der Aussenwelt keine Auskunft geben. Dagegen hegt der Buddha keinen Zweifel an dem Dasein höherer, übermenschlicher Wesen, die er nach dem Sprachgebrauch seiner Zeit und seines Landes Deva, Götter, oder Devatâ, Gottheiten, nannte.
Der Buddha hatte auch nichts dagegen einzuwenden, dass man den Devas, die etwa den Engeln der theistischen Religionen oder auch Stadt- und Dorfgöttern entsprechen, nach altem Brauch Opfergaben darbringt. Gelegentlich sagte er einmal, nach dem Bericht des Mahaparinibbānasutta I: «Den Devas, die etwa dort (an einem bestimmten Ort) sind, mag man Opfergaben spenden. Wer sie ehrt, den ehren sie auch, wer sie achtet, den achten sie auch und sie erbarmen sich dann seiner, wie eine Mutter ihres Kindes.» Die Devas mögen also wohl in den Angelegenheiten des äusseren Lebens hilfreich sein, zur Befreiung vom Leiden können sie aber dem Menschen nicht verhelfen. Sie sind vergängliche, wenn auch langlebige Wesen und ihre Macht ist begrenzt. Unvergleichlich höher als sie steht der Heilige, der den achtfachen Weg zurückgelegt, der Begierde, Hass und Verblendung überwunden und damit die selige Ruhe erreicht hat.
Da der allmächtige Gott fehlt, fehlt im Buddhismus auch das Gebet. Für den Buddhisten gibt es kein Wesen, zu dem er beten könnte. Der Buddhist ist kein Beter, sondern ein Kämpfer. Seine Meditation ist Kampf, Kampf gegen alle bösen Regungen, Kampf zur Eroberung des Guten, ein Kampf, bei dem jeder ganz auf sich allein angewiesen ist, methodische Arbeit an der eigenen Vervollkommnung, planmässige Übung in der Zügelung des Geistes und der Beherrschung aller Triebe und das Ringen nach anschaulicher Erkenntnis. Der Buddhist wünscht nicht die Vereinigung mit Gott, nicht das ewige Leben, sondern das Aufhören alles Lebens, denn Leben ist nicht denkbar ohne Veränderung, nicht ohne Werden und Vergehen und deshalb nicht ohne Leiden. Der Buddhist will nichts anderes als den ewigen Frieden, die ewige selige Ruhe.
Da der Buddhismus sich an das Denken und nicht an den Glauben wendet,
kann er auf religiöse Gebräuche mit sakramentalem Charakter und
Symbole verzichten. In seiner ursprünglichen Gestalt kennt er religiöse
Gebräuche und Zeremonien nur als äusserliche Mittel zur Förderung
des religiösen Lebens, verwirft aber entschieden den Glauben, dass
solche Gebräuche in sich die Kraft hätten, die Befreiung zu bewirken.
Das «Hängen am Ritualismus» wird sogar als eine derjenigen
Fesseln bezeichnet, die zerbrochen sein müssen, bevor der Pfad zur
Heiligkeit überhaupt betreten werden kann.
Auch bei den geistlichen Übungen ist der Anfang schwer, ist er ein Kampf, der «vierfache rechte Kampf», das sechste Stück des Buddhaweges. Die vier Teile des rechten Kampfes sind: der Kampf zur Vermeidung, der Kampf zur Überwindung, der Kampf zur Erweckung und der Kampf zur Erhaltung.
Wenn der Buddhist mit einem Sinnesorgan ein Objekt wahrnimmt oder mit seinem Denkorgan eine Vorstellung aufnimmt, so achtet er darauf, dass er in keiner Weise an dem Objekt oder an der Vorstellung haftet, d.h. zu dem Objekt oder der Vorstellung innerlich in eine gefühlsmässige Beziehung tritt, sei es Zuneigung oder Abneigung. So wacht er ständig über seine Gedanken. Das ist der Kampf zur Vermeidung.
Beobachtet er, dass trotzdem Gedanken der Begierde, des Übelwollens oder der Grausamkeit oder sonst schlechte, unheilsame Gedanken in ihm aufgestiegen sind, so lässt er sie nicht Fuss fassen, sondern überwindet sie und bringt sie zum Schwinden. Das ist der Kampf zur Überwindung. Es ist hierbei zu beachten, dass die unheilsamen Vorstellungen und Gedanken nicht etwa unterdrückt werden dürfen, sondern überwunden und ausgetilgt werden müssen. Würden sie nur unterdrückt, zurückgedrängt, so würde das entstehen, was die Psychoanalyse «verdrängte Komplexe» nennt, die sehr unheilvolle Wirkungen haben können. Das Überwinden und Austilgen der schlechten Gedanken und Vorstellungen geschieht vielmehr dadurch, dass man sie zergliedert und sich ihre Hässlichkeit und Schädlichkeit vollständig klarmacht. Die dabei zu befolgende Methode ist im Grunde dieselbe wie die der Psychoanalyse, nur mit dem Unterschied, dass sie jeder an sich selbst vornimmt, ohne Hilfe eines Psychiaters.
Der dritte Kampf, der Kampf zur Erweckung, besteht darin, dass sich der Buddhist bemüht, günstige Gemütszustände in sich zu erwecken, die der Buddha die «sieben Vorstufen zur Erleuchtung» nennt: Besonnenheit, Ergründung der Lehre, Tatkraft, Begeisterung, Ruhe, Sammlung und Gleichmut, die alle darauf gerichtet sind, Begierdelosigkeit und damit das Ende des Leidens zu erreichen.
Sind aber günstige, auf Sammlung abzielende Vorstellungen in ihm aufgestiegen, so kämpft er darum, diese Vorstellungen zu erhalten. Das ist der vierte Kampf, der Kampf zur Erhaltung.
In der 152. Rede des MN. betont der Buddha, dass es falsch wäre, die Sinne einfach gegenüber den Dingen der Aussenwelt zu verschliessen. Denn sonst würde ja ein Blinder oder ein Tauber Gewalt über die Sinne haben, was doch offenbar widersinnig ist. Der Buddha selbst hat seine Sinne keineswegs gegen die Schönheiten der Welt verschlossen. So wählte er vor seiner Erleuchtung als Aufenthaltsort, an dem er nach der Erkenntnis ringen wollte, einen Platz in der Nähe des Dorfes Uruvela, von dem er selbst später (in der 26. Rede des MN.) sagte: «Dort erblickte ich einen herrlichen Platz, einen ruhig heiteren Wald, einen klar dahinströmenden Fluss, der gute Badegelegenheit bot und ganz entzückend war, und in der Nähe das von Wiesen umgebene Dorf. Der Ort gefiel mir und schien mir geeignet zum Nachdenken für einen Mann, der die Erlösung sucht.» Noch auf seiner letzten Wanderung, über die im Mahaparinibbānasutta berichtet wird, pries er, als er sich mit seinem Jünger Ananda bei dem Capāla-Heiligtum niedersetzte, die Lieblichkeit der Gegend. Aber auch für die Schönheit des menschlichen Körpers, für schöne Gewänder und schönen Schmuck hatte er ein offenes Auge. Als bei seinem letzten Aufenthalt in der Nähe von Vesāli die Ratsherren dieser Stadt in Prunkwagen prächtig geschmückt herbeiführen, um ihn zu begrüssen, machte er seine Jünger auf die Schönheit dieser Erscheinung aufmerksam und empfahl ihnen, sie sich recht genau anzusehen, indem er sagte, diese Ratsherren glichen den Göttern. Sich an Schönheit zu erfreuen, ist durchaus vereinbar mit dem «rechten Kampf». Worauf es ankommt, das ist, dass man sich durch die Eindrücke der Sinne nicht innerlich fesseln lässt, dass man nicht an ihnen haftet.
Bei der Durchführung des vierfachen Kampfes unterscheidet der Buddha drei Stufen, die er in der 152. Rede des MN. darlegt:
Die erste besteht darin, die Sinne in höchster Gewalt zu halten. Wer mit dem Auge eine Gestalt, mit dem Ohr einen Ton, mit der Nase einen Duft, mit der Zunge einen Saft, mit dem Leib als Tastorgan ein Tastobjekt, mit dem inneren Sinn ein psychisches Ding - eine mehr oder weniger gefühlsbetonte Vorstellung - wahrnimmt, und von dem wahrgenommenen Gegenstand angenehm oder unangenehm oder teils angenehm, teils unangenehm bewegt wird, der macht sich klar, dass er so oder so bewegt worden ist, dass aber diese Gemütsbewegung etwas bedingt Entstandenes, also etwas Unbeständiges ist und dass es besser ist, Ruhe und Gleichmut zu bewahren. So schwindet die Gemütsbewegung und der Gleichmut hält an. Die Gemütsbewegung schwindet so schnell, wie man die Augen öffnen und schliessen oder mit der Zunge schnalzen kann, so schnell, wie ein Wassertropfen von einem leicht geneigten Lotosblatt abläuft, wie man Speichel ausspeit, wie man einen Arm streckt oder beugt, wie Wassertropfen auf einer glühenden Eisenpfanne verschwinden. So hält man die Sinne in höchster Gewalt.
Die zweite Stufe ist die des vorgeschrittenen Kämpfers. Dieser fühlt sich, wenn er von einem wahrgenommenen Gegenstande so oder so bewegt worden ist, belästigt, peinlich berührt und angeekelt. Der vorgeschrittene Kämpfer weist also den Gemütseindruck, den die wahrgenommenen Dinge auf ihn gemacht haben, mit Verachtung von sich.
Die dritte Stufe ist die des sinnesgewaltigen Heiligen. Auch er wird bei der Wahrnehmung eines Gegenstandes angenehm oder unangenehm oder teils angenehm, teils unangenehm bewegt, aber er hat seine Sinne derart in der Gewalt, dass er, je nachdem er es will, bei der Wahrnehmung von etwas Widerwärtigem ohne Widerwillen bleibt, oder bei der Wahrnehmung von etwas Nichtwiderwärtigem Widerwillen empfindet, oder beides, Widerwärtiges und nicht Widerwärtiges, von sich weist und gleichmütig, besonnen und klar bewusst bleibt.
Wer seine Sinne in solchem Masse gezügelt hat, der hat den Kampf siegreich bestanden.
An einer anderen Stelle, im AN. III, 16, sagt der Buddha über das Bewachen der Sinnestore: «Erblickt man mit dem Auge eine Gestalt, so haftet man weder am Ganzen noch an den Einzelheiten.» Hierzu schreibt der Ordensälteste Buddhaghosa, der etwa tausend Jahre nach dem Buddha in Ceylon lebte, in seinem Kommentar Visuddhi-Magga oder «Weg zur Reinheit»:
«Das bedeutet: Man nimmt keinerlei Notiz von den Merkmalen eines Mannes, einer Frau, des Schönen oder von irgend etwas, das die Leidenschaften erregen könnte, sondern man macht eben bei dem Gesehenen Halt. Bei den Personen nimmt man keine Notiz von der Hand, vom Fusse, vom Lächeln oder Lachen, von der Unterhaltung, vom Hin- und Wegblicken oder von anderen als Einzelheiten geltenden persönlichen Merkmalen, insofern sie Leidenschaften wachrufen und entfachen. Man sieht nur das, was in Wirklichkeit da ist, wie der Ordensälteste Mahatissa, der auf dem Cétiyaberge wohnte. Man erzählt sich nämlich, dass einst eine gewisse Frau, die in eine hohe Familie hineingeheiratet hatte, nach einem Streit mit ihrem Gatten und nachdem sie sich geschmückt und aufgeputzt hatte, bis sie wie eine Göttin aussah, früh morgens von Anuradhapura aufbrach, um zu ihrer Familie zurückzukehren. Unterwegs traf sie den Ordensältesten, der sich gerade vom Cétiyaberge nach Anuradhapura um Almosen begab. Als sie ihn erblickte, liess ihre verkommene Natur sie laut auflachen. Der Ordensälteste schaute forschenden Blickes auf und durchschaute, als er ihre Zähne bemerkte, den Ekel des Körpers und erreichte die Heiligkeit. Darum heisst es:
‚Der Mönch erblickte ihre Zähne
Und dachte an die Unreinheit,
Und noch bevor er weiterging,
Erreichte er die Heiligkeit.‘
Alsbald kam ihr Gatte, der ihren Fusspuren folgte, und sprach, als er den Ordensältesten sah: ‚Herr, hast du nicht ein Weib diesen Weg entlang gehen sehen?‘ Der Ordensälteste sprach:
‚Ich weiss nicht, was den Weg entlang lief,
Ob weiblich oder männlich Wesen;
Doch das weiss ich: ein Knochenbündel
Bewegt sich auf der Strasse fort.‘» (FN 1)
Fußnote (1) Nach Nyânatilokas Übersetzung Angûttara-Nikāya, 2. Auflage III, Seite 183.
In dem Ausspruch des Buddha heisst es weiter: «Woraus einem bei
unbewachtem Auge Begehren und Kummer, böse, unheilsame Dinge entstehen
könnten, das bemüht man sich abzuwehren; so bewacht man das Auge,
hält das Auge im Zaum.» Dann folgt die gleiche Anweisung für
die übrigen Sinne.
Hat man im rechten Kampf wenigstens die erste Stufe erstiegen und die Sinne voll in seiner Gewalt, so mag man zum siebenten Stück des Buddhaweges vorschreiten, zum rechten Gedenken. Dieses Wort bezeichnet ein System von Meditationen, das mit dem besonnenen Ein- und Ausatmen beginnt. Man setzt sich an einen stillen Ort («im Wald oder unter einem Baum oder in einer leeren Klause») nieder, hält den Körper gerade aufgerichtet - sitzt also nicht mit gekrümmtem Rücken, wodurch die Atmung behindert würde - und wendet seine ganze Aufmerksamkeit, um sie von allem Äusserlichen abzulenken, seinem Ein- und Ausatmen zu. Besonnen atmet man ein und aus. Man achtet darauf, ob man einen langen oder kurzen Atemzug tut, und sagt sich dabei: «Jetzt atme ich lang ein, jetzt atme ich lang aus, jetzt atme ich kurz ein, jetzt atme ich kurz aus.» Hat man eine Weile nur auf die Dauer der einzelnen Atemzüge geachtet, so verfolgt man die Empfindungen, die jedes Ein- und Ausatmen hervorruft. Dann geht man dazu über, das Atmen leiser und schwächer werden zu lassen, den Atem zu «besänftigen», den Körper beim Ein- und Ausatmen zu entspannen, wobei sich die Aufmerksamkeit allmählich vom Atmen ablöst und der Betrachtung über den Körper zuwendet, mit der die eigentliche Denkübung beginnt. Den Inhalt dieser Körperbetrachtung kennen wir schon aus dem Abschnitt über die Wahrheit vom Leiden. Hier sei sie noch einmal kurz in Stichworten zusammengefasst. Bei jedem Stichwort verweile man so lange, bis man die Antwort ganz klar und anschaulich vor sich sieht:
Mein Körper: Wie entstanden? Wie war er vor der Geburt, bei der Geburt, mit einem Jahr, mit 7 Jahren, mit 14 Jahren, mit 21 Jahren usw. Immer derselbe oder jedesmal ein anderer? Wie verändert er sich in einem Jahr? in einem Monat? in einer Woche? von Morgen bis Abend? von Abend bis Morgen? von Stunde zu Stunde? von Minute zu Minute? von einem Atemzug zum andern? von einem Herzschlag zum andern? Vergleich: Bilder im Kino, die uns nur deshalb als dauernde Gegenstände erscheinen, weil die Augenblicksbilder schneller aufeinander folgen als unsere langsamen und beschränkten Sinne arbeiten. Ist nicht auch der Körper nur eine Kette von Augenblickszuständen, von denen nicht einer dem andern gleicht?
Mein Körper aussen und innen: Haut und Haar, innere Teile, Blut und Serum, innere und äussere Absonderungen und Ausscheidungen.
Aufbau und Erhaltung des Körpers: Atmung und Ernährung. Speise und Trank, Verdauung. Enthält er irgendwelche Stoffe, die nicht auch ausserhalb vorkommen?
Ist der Körper beständig? Wann war er wirklich ganz gesund? Wie oft war er krank? Muß er nicht früher oder später zerfallen? Übers Jahr? morgen? heute? im nächsten Augenblick? Können wir bestimmen, wie lange er bestehen soll? Wie wird er nach dem Tode aussehen? Was wird aus der Leiche? Ist es daher vernünftig, zu wünschen, dass der Körper erhalten bleibe? Ist es vernünftig, an ihm zu hangen? Ist er mein Ich?
Meine Gefühle: Was fühlte ich als Kind? in meiner Jugend? vor einem Jahr? gestern? heute früh? Wo sind die beglückenden Gefühle, die ich einmal hatte, geblieben? Wo die Schmerzen? Woher kamen sie? Wohin gingen sie? Sind die Gefühle mein Ich?
Meine Gedanken: Was dachte ich als Kind? in meiner Jugend? vor einem
Jahr? gestern? soeben noch? Welcher Art waren meine Gedanken? Woher kamen
sie? Wohin gingen sie? Sind die Gedanken mein Ich?
Ist es also vernünftig, an meinen Gefühlen
und Gedanken zu hangen?
Während dieser Betrachtung über den Körper, über die Gefühle und über die Gedanken, an die sich als vierte eine Betrachtung über die in der Buddhalehre vorkommenden Gegenstände anschliesst, hütet man sich sorgsam, seine Gedanken nicht abschweifen zu lassen und irgend etwas in der Welt zu begehren.
Auch bei der Betrachtung über die in der Buddhalehre vorkommenden Gegenstände ist eine bestimmte Reihenfolge innezuhalten. Zuerst gedenkt man der «fünf Hemmnisse»: sinnliche Lust oder weltliches Begehren, Übelwollen und Schadenfreude, Trägheit und Schlaffheit, ruheloses Grübeln, Zweifelsucht. Man prüft sich selbst, ob sich in seinem Innern noch das eine oder andere dieser fünf Hemmnisse findet, und wenn man ein Hindernis antrifft, sucht man es zu überwinden, indem man sich klarmacht, wie die Hemmnisse entstehen, wie man sie vertreibt und wie man sich dagegen sichert, dass sie wieder erscheinen. Sind die Hemmnisse abgetan, so schreitet man fort zur Betrachtung über die fünf Gruppen des Ergreifens, über die sechs Sinnesgebiete, über die sieben Vorstufen zur Erleuchtung, die man sich vorher, im rechten Kampf, zu eigen gemacht hatte. Endlich vergegenwärtigt man sich in aller Ausführlichkeit die vier edlen Wahrheiten: die Wahrheit vom Leiden, vom Ursprung des Leidens, vom Ende des Leidens und von dem zum Ende des Leidens führenden Pfad.
Ausser dieser «Hauptdenkübung», die im Sitzen vorzunehmen ist, soll sich der Buddhist auch in jeder anderen Körperlage und bei jeder Bewegung des Körpers der Besonnenheit und der Vollbewusstheit befleissigen. Dabei rückt er alle Körperlagen und alle Körperbewegungen, die gewöhnlich unbewußt vor sich gehen und ganz zur Gewohnheit geworden sind, das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Hin- und Herblicken, das Krümmen und Ausstrecken der Glieder, das Essen und Trinken und alle körperlichen Funktionen, auch die Verdauung, das Einschlafen und Aufwachen, in das Licht des vollen Bewusstseins, wie er vorher sich der Atemtätigkeit bewusst geworden war. Auf die Lebensprozesse selbst freilich kann sich das Bewusstsein nicht erstrecken; sie verlaufen notwendig unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Wohl aber kann man das Ergebnis dieser Prozesse beobachten, das sich in den Bewegungen der körperlichen Organe kund tut. Indem man seine Aufmerksamkeit darauf richtet, erobert man ein Gebiet, das uns durch die Gewohnheit allmählich verlorengegangen ist, gewissermassen für das Bewusstsein zurück, bis man schliesslich körperliche und psychische Funktionen beherrschen lernt, über die der gewöhnliche Mensch keine Gewalt hat.
Diese äusserste Selbstbeherrschung ist aber nur ein Mittel zu einem höheren Zweck, nämlich zur Veranschaulichung der Erkenntnis vom Nicht-Ich. Was man sich vorher nur verstandesmässig oder theoretisch klargemacht hat, soll durch diese Übung zu greifbarer Anschaulichkeit, zu praktischer Wirklichkeit werden. Beim Körper wird dies dadurch erreicht, dass der eigene Körper in allen seinen Funktionen durchschaut wird. Damit wird er den anderen Körpern der physischen Welt gleichgestellt, und so wird die Gebundenheit an den Körper nach und nach gelockert und schliesslich ganz gelöst. Der Meditierende lernt den eigenen Körper kennen, behandeln, beherrschen wie einen beliebigen Gegenstand der physischen Welt; dadurch wird ihm der eigene Körper innerlich entfremdet, er hört auf, an ihm zu haften. Darum heisst es: «Er sinnt darüber nach, wie Körper gesetzmäßig entstehen und wieder vergehen, und verweilt dabei, indem er sich klarmacht, wie es der Erkenntnis und der Besonnenheit entspricht, dass es ein Körper ist (zu ergänzen: wie jeder andere); er hält sich frei von Anhänglichkeit und haftet an nichts in der Welt.» Genau so verfährt man in der Betrachtung und Beherrschung der psychischen Vorgänge in seinem Innern, die man dadurch von sich abrückt und als nicht zu seinem Ich gehörig durchschaut. Je mehr man in dieser Übung vordringt, um so mehr tritt einem seine ganze Individualität als Objekt, also als etwas nicht zu seinem wahren Wesen Gehöriges gegenüber.
Wie wichtig und wirksam die Meditation über den Körper ist, um die Befreiung des Geistes zu erlangen, zeigt unter anderem der Bericht über das erste Konzil, das kurz nach dem Tode des Buddha in Rajagaha stattfand (Cullavagga XI): Ananda, der lange Zeit dienender Begleiter des Buddha gewesen war und wegen seiner Fähigkeit, alles, was er gehört hatte, wortgetreu wiederzugeben, allgemein geschätzt wurde, war von dem Vorsitzer des Konzils Mahakāssapa berufen worden, um die Lehrreden des Buddha auf dem Konzil vorzutragen. Obwohl er alles, was der Buddha gelehrt hatte, auswendig wusste, fehlte ihm doch noch das tiefste Verständnis, und er war noch nicht zur Befreiung gelangt. Er sagte sich nun, es passe sich für ihn nicht, als ein noch Ringender (sekho) vor die Versammlung der Ordensältesten zu treten. Deshalb übte er eine ganze Nacht hindurch bis zum Morgen die Meditation über den Körper. Dadurch erreichte er die Befreiung seines Geistes von den «Einflüssen» und konnte nun als ein Heiliger (arahâ) zum Konzil gehen. In der Meditation und durch die Meditation über den Körper erlebte er, was er vorher nur gelernt hatte. Dies ist es, worauf es ankommt: die Buddha-Lehre will nicht nur gelernt und verstandesmässig begriffen sein, sondern sie will von jedem einzelnen auf seine Art innerlich erlebt werden. Nur wenn sie wirklich erlebt wird, führt sie zum Ziel, zur Befreiung, zum Nirvana, und das wirksamste, ja wahrscheinlich das einzige Mittel, um sie zu erleben, ist die Meditation, und unter den Gegenständen der Meditation ist der Körper der vorzüglichste.
***
Eine andere wichtige Meditation ist die der unermesslichen Güte, des Mitleids, der Mitfreude und
des Gleichmuts. Vollbewusst und besonnen, so heisst es oft in den
Texten, durchdringt ein edler Jünger mit gütiger Gesinnung die
ganze Welt, und zwar zuerst nach einer Himmelsrichtung, dann nach der zweiten,
der dritten und der vierten, dann nach oben und unten und ringsum, er durchdringt
sie nach allen Seiten vollständig mit gütiger, umfassender, grosser,
unermesslicher, friedlicher und freundlicher Gesinnung. Ebenso durchdringt
er die ganze Welt mit Mitleid, mit Mitfreude und mit Gleichmut. Der Sinn
dieser Meditation ist, dass die Schranken des Einzeldaseins durchbrochen werden, dass die Scheidewand zwischen Ich und Du fällt und der Geist
sich weitet durch innige Einfühlung in alles, was Leben hat. Man nennt
dies auch das vierfache Verweilen im Göttlichen.
Rechte Sammlung ist im allgemeinen ein Zustand geistiger Sammlung, der die Meditation ermöglicht und begleitet. Er setzt voraus, dass die fünf Hemmnisse, die man während des rechten Gedenkens zu überwinden sich bemühte, wirklich getilgt sind. Wer noch mit einem dieser Hemmnisse behaftet ist, wer noch über irgendeinen Punkt der Buddhalehre im Ungewissen ist, der würde vergeblich versuchen, zu rechter Sammlung zu kommen. Er mag sich vielleicht sammeln können, aber seine Sammlung ist dann keine rechte im Sinne des Buddha. Sind jedoch alle Bedingungen für die rechte Sammlung erfüllt, so kann der Buddhist zu geistigen Zuständen von immer wachsender Reinheit und Glückseligkeit gelangen, bis schliesslich im letzten und höchsten Grade der Sammlung alle Denktätigkeit und damit auch das Bewusstsein aufhört.
Unter diesen Zuständen lassen sich zwei Arten unterscheiden: solche, die nur zu zeitweiliger Beruhigung des Geistes führen, und solche, deren Ergebnis tiefe Einsicht, völlige innerliche Durchschauung der Buddhalehre und damit endgültige Befreiung ist. Die erstere wird im AN. III, 81-88, «Übung in höherem Denken», die zweite «Übung in höherer Weisheit» genannt. Die Übung in höherem Denken wird nach AN. III, 88 in vier Stufen eingeteilt, die auch an vielen anderen Stellen des Pali-Kanons immer mit den gleichen Worten beschrieben werden. Es sind die vier Versenkungen.
Die erste Versenkung ist «mit Denken und Sinnen verbunden». Gegenstand des Denkens und Sinnens kann, wie sich aus der 125. Rede des MN. ergibt, die oben behandelte Hauptdenkübung sein. Das Denken und Sinnen kann sich aber auch auf den Buddha oder auf die Buddhalehre im ganzen oder auf den Mönchsorden, auf die sittliche Zucht oder auf einzelne Teile der Buddhalehre richten. Die erste Versenkung wird gewonnen durch «Loslösung», das heisst durch Abwendung des Geistes von der Aussenwelt und völliges Aufgehen in dem Meditationsgegenstand. Dabei stellt sich «Entzücken und Wohlbehagen» ein.
Die zweite Versenkung kann erst gewonnen werden, wenn man die erste vollständig verwirklicht hat und in ihr ganz sicher ist. Der Buddha warnt eindringlich vor dem Versuch, die erste Versenkung zu überspringen und mit der zweiten zu beginnen. Einen Jünger, der das versuchen wollte, vergleicht er im AN. IX, 35 mit einer unerfahrenen Gebirgskuh, die den Hinterfuss hebt, bevor sie den Vorderfuss fest aufgesetzt hat, und infolgedessen nie dorthin gelangt, wohin sie kommen möchte, aber auch nicht wohlbehalten an ihren Ausgangspunkt zurückkehren kann.
In der Zweiten Versenkung hat das Denken und Sinnen aufgehört;
von hier ab verweilt der Meditierende im reinen Anschauen und Durchschauen
des Gegenstandes, den er sich für seine Meditation gewählt hat.
Auch in diesem Zustande empfindet er Entzücken
und Wohlbehagen. Es stellt sich «innere
Sammlung und Zusammenschluss des Geistes» ein. Von der zweiten Versenkung
heisst es, das sie durch «Sammlung» gewonnen wird. Das ist
so zu verstehen, dass sich im Bewusstsein des Meditierenden nur noch eine
Vorstellung befindet, also keine Denktätigkeit mehr vorhanden ist.
In der dritten Versenkung hält dieser Zustand an, es schwindet aber das Entzücken und an seine Stelle tritt «Gleichmut». Es hat also auch die Gemütsbewegung aufgehört und es ist Ruhe des Gemütes eingetreten. Es besteht aber noch volles Bewusstsein, man ist sich auch seines körperlichen Daseins bewusst und geniesst dabei ein Gefühl des Wohlbehagens. Wer sich auf dieser Stufe befindet, von dem heisst es, er sei «gleichmütig, gesammelt und beglückt».
In der vierten Versenkung verschwindet auch das Wohlbehagen, aber es tritt auch kein anderes Gefühl auf. Der Meditierende ist hier «frei von Wohl und Wehe» und hat keine Empfindung mehr für Lust und Leid, ist aber bei Bewusstsein. Von dieser Stufe wird gesagt, sie bestehe in der «Läuterung durch Gleichmut und Besonnenheit».
Die vier Versenkungen erlebte der Buddha zum erstenmal in der Nacht, in der er unter dem Bodhibaum sass und zur höchsten Erleuchtung erwachte. Was er in der vierten Versenkung erschaute, beschreibt er selbst, nach dem 36. Bericht des MN. kurz zusammengefasst so:
«Als mein Gemüt also beruhigt war, gereinigt, geläutert, frei von Begierde, sanft, fügsam, fest und unveränderlich, wandte ich mein Denken zu der Erinnerung und Erkenntnis meiner früheren Daseinsformen, und ich erinnerte mich nacheinander an hunderttausende meiner früheren Daseinsformen bis in frühere Weltperioden zurück. Dieses erste Wissen erlangte ich in der ersten Nachtwache.
Dann richtete ich mein Denken auf das Vergehen und Wiederentstehen der Wesen. Ich sah mit himmlischer, klarer, übermenschlicher Einsicht, wie die Wesen vergehen und wieder entstehen, ich erkannte die niedrigen Wesen und die hohen, die schönen und die hässlichen, die frommen und die unfrommen, wie sie je nach ihren Taten ihren Weg gingen: Die Wesen, die in Werken, Worten und Gedanken schlecht gelebt, die über die Frommen Böses geredet haben und falsche Ansichten hatten, diese sind nach dem Tode in Leid und Qual, an Stätten der Pein, in die Hölle gekommen. Jene Wesen aber, die Gutes getan haben in Werken, Worten und Gedanken, sind nach dem Tode den guten Weg gegangen und in das Himmelreich gelangt. Dieses Zweite Wissen erlangte ich in der Zweiten Nachtwache.
Darauf wandte ich mein Denken auf die Erkenntnis von der Vernichtung der weltlichen Einflüsse, und ich erkannte der Wahrheit gemäss, worin das Leiden und die Einflüsse bestehen, was ihr Ursprung ist, wie sie beendet werden können und welches der Weg zu ihrem Ende ist. Dieses dritte Wissen erlangte ich in der dritten Nachtwache. »
Hiernach scheint es möglich zu sein, dass der menschliche Geist in der vierten Versenkung einen Zustand erlangt, in dem er über Raum und Zeit erhaben ist. Er hat dann die Schranken der Erkenntnis gesprengt, die uns nötigen, die Dinge als körperliche, räumlich nebeneinander bestehende und zeitlich nacheinander entstehende und vergehende Gestalten wahrzunehmen. Sein Blick ist nicht mehr auf die dreidimensionale, zeitliche Erscheinungswelt beschränkt, sondern er überschaut die «hinter» der Erscheinungswelt für uns verborgene Wirklichkeit, die - in Übereinstimmung mit dem für den normalen Verstand unvorstellbaren Weltbild der neuen Physik (FN 1) - ein vierdimensionales inhomogenes Kontinuum sein muss. Sie ist zu denken als ein Zusammenhang von vier Koordinaten, von denen drei unserer Raumvorstellung und eine unserer Zeitvorstellung entsprechen, ein Zusammenhang, in dem es keinen Raum und keine Zeit gibt und in dem alle Dinge und alle Vorgänge, die in unserer Erscheinungswelt in der Vergangenheit entstanden und vergangen sind und in der Zukunft entstehen und vergehen werden, ihren Platz haben. Es ist unmöglich, sich das anschaulich vorzustellen, aber wenn die Ansätze und Rechnungen Albert Einsteins richtig sind - und das ist bisher noch von keinem Gelehrten ernstlich bestritten worden - ‚ dann muss man annehmen, dass die wirkliche Welt ein solcher Zusammenhang von vier Koordinaten ist. Dann aber muss es auch für einen Geist, der nicht mehr an die Anschauungsformen Raum und Zeit gebunden ist, möglich sein, unzählige Weltperioden rückwärts und vorwärts mit einem Blick zu überschauen und zu wissen, was früher geschehen ist und was künftig geschehen wird. Für den, der sich in die allgemeine Relativitätstheorie hineingedacht hat, wird es verständlich, dass jene Wirklichkeit, die für den normalen Verstand unvorstellbar ist, in der vierten Versenkung anschaulich erlebt werden kann.
Fußnote (1) Vgl. Aloys Wenzl, «Das naturwissenschaftliche Weltbild der Gegenwart», Leipzig bei Quelle & Meyer 1929.
Bei den bisher betrachteten vier Versenkungen ist der Gegenstand der Vorstellung, auf die der Geist - von der zweiten bis zur vierten - gesammelt ist, etwas Greifbares, «Gestalthaftes». Die Sammlung kann sich aber auch auf etwas Nichtgreifbares, Abstraktes, «Nichtgestalthaftes», richten. So entstehen vier weitere Versenkungen.
Die fünfte Versenkung entsteht, wenn man die Vorstellung von gestalteten und materiellen Dingen und auch die Vorstellung von der Vielheit der Gegenstände gänzlich überwindet und sich ganz der Anschauung des grenzenlosen Raumes hingibt. So erreicht man das Gebiet der Raumunendlichkeit und verweilt darin.
Überwindet man das Gebiet der Raumunendlichkeit, indem man sich klarmacht, dass die Unendlichkeit des Raums ein - noch dazu in sich widerspruchsvolles - Gebilde unseres Denkens ist und weiter nichts, so sieht man ein, dass der Begriff des unendlichen Raums nichts anderes ist als der Widerschein der Grenzenlosigkeit unserer eigenen Wahrnehmungsunendlichkeit. Damit gelangt man zum Gebiet der Wahrnehmungsunendlichkeit. Das ist die sechste Versenkung.
Nachdem man im Gebiet der Wahrnehmungsunendlichkeit verweilt hat, richtet
man seine Aufmerksamkeit darauf, dass nun die Wahrnehmung ja keinen Inhalt
mehr hat, dass also für sie nichts mehr da ist. Damit hat man das
Gebiet erreicht, «wo nichts mehr
ist», das Gebiet der völligen Leerheit.
Das ist die siebente Versenkung.
Auch dieses kann noch überboten werden, indem man hart an die Grenze der Wahrnehmungslosigkeit gelangt. Man nimmt gerade noch wahr, dass die Wahrnehmung aufhört, oder man nimmt wahr, dass man nichts mehr wahrnimmt. Das ist ein Zustand, der als das Grenzgebiet von Wahrnehmung und Nichtwahrnehmung bezeichnet wird und die achte Versenkung bildet. In ihr hat man zunächst nur noch das Bewusstsein seiner selbst und denkt dann: «Es ist besser, überhaupt nicht mehr zu denken und keine Vorstellung mehr zu haben. Denn wenn ich denke und mir etwas vorstelle, so wird dieser mein jetziger Bewusstseinszustand verdrängt und ein anderer, auf einen greifbaren Gegenstand gerichteter tritt an seine Stelle. Ich will also lieber nicht mehr denken und mir nichts mehr vorstellen.» Dann schwindet der bisherige Bewusstseinszustand dahin und es folgt kein neuer mehr. So gelangt man zum Ende des Bewusstseins.
Die Erlebnisse, die der Meditierende in den Versenkungen hat, können einem Menschen, der sie noch nicht gehabt hat, auf keine Weise begreiflich gemacht werden, ebensowenig wie einem Mann die Gefühle begreiflich gemacht werden können, die eine Frau beim Gebären des Kindes erlebt. Vom Ablauf der ersten vier, der gestalthaften Versenkungen kann nicht anders als in Gleichnissen gesprochen werden, aber diese Gleichnisse sind von Bedeutung für den, der sich in den Versenkungen übt, denn sie geben ihm Anhaltspunkte, an denen er erkennen kann, ob er sich auf dem rechten Wege befindet und welchen Grad der Versenkung er erreicht hat. Der Buddha hat dafür folgende vier Gleichnisse gegeben, die im DN. II, 76, im MN. 39 und an vielen anderen Stellen des Kanons in gleichem Wortlaut überliefert sind:
Von der ersten Versenkung heisst es: «Wie wenn ein tüchtiger Bader in ein Bronzegefäss Waschpulver schüttet, es nach und nach mit Wasser anfeuchtet und knetet und dann der zum Bade fertige Teig mit Feuchtigkeit ganz durchdrungen, gesättigt, innen und aussen vollgesogen ist, ohne zu tropfen, geradeso tränkt ein Mönch diesen seinen Körper, füllt ihn an und durchdringt ihn gänzlich mit dem Entzücken und Wohlbehagen, das aus der Loslösung (von allen weltlichen Dingen) entsteht, und nichts von seinem ganzen Körper bleibt von dem aus der Loslösung entstandenen Entzücken und Wohlbehagen undurchdrungen.»
Von der Zweiten: «Wie ein Teich, der in sich eine Quelle hat, von den Seiten her aber keinen Zufluss erhält und in den es auch nicht zeitweilig regnet, von seiner eigenen Quelle mit kühlem Wasser gespeist wird, das ihn ganz durchströmt, anfüllt und durchdringt und nichts von dem ganzen Teich ohne kühles Wasser bleibt, geradeso tränkt ein Mönch diesen seinen Körper, füllt ihn an und durchdringt ihn gänzlich mit dem Entzücken und Wohlbehagen, das aus der Sammlung entsteht, und nichts von seinem ganzen Körper bleibt von dem aus der Sammlung entstandenen Entzücken und Wohlbehagen undurchdrungen.»
Von der dritten: «Wie in einem Lotusteich mit blauen, weissen und roten Lotussen manche ganz mit ‘Wurzel, Stil und Blüte unterhalb der Oberfläche des Wassers bleiben, ganz im Wasser leben und von der Wurzel bis zur Spitze vom kühlen Wasser getränkt, umflutet und angefeuchtet werden und nichts vom ganzen Lotus vom kühlen Wasser undurchdrungen bleibt, geradeso tränkt ein Mönch diesen seinen Körper, füllt ihn an und durchdringt ihn gänzlich mit dem Wohlbehagen, das ohne Entzücken ist, und nichts von seinem ganzen Körper bleibt von dem Wohlbehagen, das ohne Entzücken ist, undurchdrungen.»
Von der vierten: «Wie ein Mensch vom Kopf bis zum Fuss weiss gekleidet dasitzt und nichts von seinem ganzen Körper nicht weiss umhüllt ist, geradeso sitzt ein Mönch da und durchdringt diesen seinen Körper mit gereinigtem, geläutertem Geist und nichts von seinem ganzen Körper bleibt undurchdrungen von gereinigtem, geläutertem Geist.»
Über die nichtgestalthaften Versenkungen kann dagegen ohne Gleichnisse etwas Erklärendes gesagt werden, obwohl das volle Verständnis auch dieser Versenkungen nur dem aufgeht, der sie selbst erlebt. Nachdem man alle Vorstellungen gestalthafter, raumfüllender Dinge aus seinem Denken beseitigt hat, bleibt zunächst nur die Vorstellung des leeren Raums übrig, für den man keine Grenzen finden kann, der also als unbegrenzt erscheint. Hat man sich in diese Vorstellung eine Zeitlang vertieft, so kann man zu der Erkenntnis gelangen, dass die Vorstellung vom unbegrenzten Raum darauf zurückzuführen ist, dass unser Wahrnehmungs- oder Anschauungsvermögen keine (räumlichen) Grenzen hat. Verweilt man hierbei, so befindet man sich im Gebiet der Wahrnehmungsunendlichkeit. Ist somit die Raumvorstellung gänzlich überwunden und ist auch die Wahrnehmungsunendlichkeit als inhaltlos erkannt, so ist für den Meditierenden überhaupt nichts mehr da. Wenn aber nichts mehr da ist, was wahrgenommen werden kann, so ist man an der Grenze der Wahrnehmungsmöglichkeit angelangt. Das ist dann keine eigentliche Wahrnehmung mehr, aber auch keine Wahrnehmungslosigkeit, denn das Wahrnehmungsvermögen ist ja noch vorhanden.
Bis zu dem Gebiet, wo nichts mehr da ist, war schon Alāra Kalāma, der eine der Yoga-Lehrer Gótamas (vgl. oben), gelangt (FN 1), und der andere, Uddaka Ramaputta, erreichte das Grenzgebiet von Wahrnehmung und Nichtwahrnehmung. Gótama aber erkannte, dass beides unzulänglich ist, weil es nicht zum Nirvana führt, und forschte weiter, bis sich ihm in der höchsten Erleuchtung der Weg zum Nirvana offenbarte, womit er erst zum Buddha wurde. Hierin ist schon ausgedrückt, dass Yoga-Übung und Sammlung allein nicht zum höchsten Ziel, zur vollen Befreiung führen.
Fußnote (1) Diesen Versenkungsgrad erreichte auch Kant, wie aus seiner «Kritik der reinen Vernunft» zu ersehen ist.
***
Um zu den letzten vier, den nichtgestalthaften oder abstrakten Versenkungen zu gelangen, braucht man nicht die vier ersten, die gestalthaften, durchlaufen zu haben, sondern man kann auch auf einem andern Wege das Gebiet der Raumunendlichkeit erreichen. Diesen andern Weg bezeichnet der Buddha in der 121. Rede des MN. als das Verweilen in der Leerheit und beschreibt ihn so:
Der Meditierende entfernt aus seinem Geist die Vorstellung Dorf und die Vorstellung Mensch und behält in seinem Geist allein die Vorstellung Wald. Bei dieser Vorstellung erhebt sich sein Denken, beruhigt sich, festigt sich und wird losgelöst, und er macht sich klar, dass die Vorstellungen Dorf und Mensch geschwunden sind, die Vorstellung Wald aber noch da ist. Dann entfernt er aus seinem Geist die Vorstellung Wald und behält allein die Vorstellung Erde. Er entfernt aus seinem Geist alles, was es auf der Erde an Unebenheiten, an Flussläufen, an Baumstümpfen und Gestrüpp, an Bergen und Tälern gibt, und behält allein die Vorstellung Erde. Wieder erhebt, beruhigt und festigt sich dabei sein Denken und wird losgelöst. Von der Vorstellung Erde aus gelangt er zu der Vorstellung des Gebiets der Raumunendlichkeit und schreitet dann, wie es vorher beschrieben worden ist, weiter bis zum Grenzgebiet von Wahrnehmung und Nichtwahrnehmung. Dann fährt der Buddha fort:
«Nachdem der Meditierende die Vorstellung des Grenzgebiets von
Wahrnehmung und Nichtwahrnehmung aus seinem Geiste entfernt hat, behält
er allein die vorstellungslose Sammlung des Geistprozesses. Dabei vergegenwärtigt
er sich, dass schliesslich auch diese vorstellungslose Sammlung des Geistprozesses
etwas Zusammengefügtes, geistig Hervorgebrachtes ist; alles aber,
was zusammengefügt, geistig hervorgebracht ist, das ist unbeständig,
muss zugrunde gehen. Wenn er dies erkennt und schaut, wird das Denken losgelöst
von dem Einfluss des sinnlichen Begehrens, losgelöst von dem Einfluss
der Gier nach Dasein, losgelöst von dem Einfluss der Unwissenheit,
und in dem Erlösten geht die Erkenntnis auf: ‚Erlöst bin ich!‘
Er erkennt:
‚Abgetan ist die Wiedergeburt, durchgeführt
der reine Lebenswandel, erfüllt die Pflicht, nichts nötigt mich
mehr, hier (in der Wandelwelt) zu bleiben.‘»
Ausser diesen beiden Gruppen von Versenkungen gibt es noch andere Sammlungsübungen, die als «Loslösungen» und «Gebiete des Überwindens» bezeichnet werden. Wie sie zustande kommen und welcher Art ihr Inhalt ist, lässt sich aus den Texten nicht mit Sicherheit entnehmen.
Wichtig ist, dass alle bisher behandelten Sammlungsübungen nur die zeitweilige Beruhigung des Geistes und die Aufhebung der inneren Hemmungen zur Folge haben und nicht zum höchsten Ziel, zur endgültigen Befreiung führen; sie werden vom Buddha als heilsam empfohlen, er nennt sie in der 31. Rede des MN. «vollkommenes edles Wohlbefinden» und sein Jünger Anuruddha fügt hinzu: «Ein Wohlbefinden, das höher und herrlicher als dieses wäre, gibt es nicht.» Aber unerlässlich sind diese Übungen nach des Buddha eigenen Worten nicht. Man kann das Ziel des Buddhaweges erreichen, ohne auch nur eine dieser Übungen durchgeführt zu haben.
Unerlässlich ist dagegen die andere Art von Sammlung, die Übung
in höherer Weisheit. Sie besteht in der Gewinnung tiefer Einsicht
in die vier edlen Wahrheiten und wird gewonnen durch eine vertiefte Betrachtung
oder Schauung, in der der Gegenstand der Vorstellung sich visionsartig
zu einer sinnlichen Wahrnehmung verstärkt. Das vorzüglichste
Mittel hierzu ist wiederum die Hauptdenkübung, deren Intensität
aufs äusserste gesteigert wird. Dadurch verwandelt sich das vorher
mit dem Verstande als richtig Erkannte zu einem unmittelbar Geschauten,
zu einem inneren Erlebnis.
Dieses Erlebnis kann so stark sein, dass eine völlige innere Umwandlung des Menschen stattfindet. Dann ist der Durst oder Drang gänzlich vernichtet, Begierde, Hass und der Wahn, dass die Individualität das Ich sei, sind spurlos verschwunden, die Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburten, der ewige Friede ist erreicht und kann nicht wieder verloren werden. Der Mensch, der zu diesem Zustande gelangt ist, ist ein Heiliger geworden.
Diese volle Wirkung tritt jedoch nur äusserst selten sofort ein. Für die allermeisten Menschen sind die Fesseln, die sie an das Leben binden, viel zu fest, als dass sie auf einmal gesprengt werden könnten. Aber sie sind immerhin, wenn der Mensch einmal so weit auf dem Buddhawege vorgedrungen ist, gelockert und wenigstens zum Teil schon zerbrochen. Im Mahaparibbânasutta spricht der Buddha davon, dass eine Laienanhängerin, eine Frau, die sich zur Buddhalehre bekennt, ohne dem Orden beigetreten zu sein, namens Sujātâ, «die drei Fesseln» gesprengt hat, nämlich den Glauben, dass die Individualität das Ich sei, den Zweifel an der Buddhalehre, und den Glauben, dass die äusserliche Befolgung religiöser oder sittlicher Vorschriften zum Heile führe. Von ihr sagt der Buddha, dass sie «in den Strom eingetreten ist, nie mehr in tieferen Regionen als in der Menschenwelt wiedergeboren werden kann, gesichert ist und einst die volle Erleuchtung erlangen wird.»
Wem es gelungen ist, jene «drei Fesseln» zu sprengen, der wandelt fortan auf dem höheren Pfad, dem Pfad des «Edlen». Für ihn haben die ersten fünf Stücke des Weges, rechte Anschauung, rechte Gesinnung, rechtes Reden, rechtes Tun und rechte Lebensführung, eine höhere Bedeutung gewonnen. Während für den gewöhnlichen Menschen, den «Weltling», rechte Anschauung und die Befolgung der moralischen Vorschriften «verdienstwirkend» sind, also zu einer Wiedergeburt in einem günstigen Zustande - in der Menschen- oder in der Götterwelt - führen, weil sie eben noch mit Durst oder Drang oder weltlichen «Einflüssen» verbunden sind, deren notwendige Folge die Fortsetzung des Kreislaufs der Wiedergeburten ist, wandelt der «Edle» den rechten Pfad nicht mehr deshalb, weil er sich «Verdienst» erwerben, d.h. in einem späteren Dasein den Lohn für gute Taten ernten will, sondern aus innerer Notwendigkeit. Da er von der Erkenntnis durchdrungen ist, dass seine Individualität nicht sein Ich ist, wird er bei allem, was er denkt, redet oder tut, nicht mehr von persönlichem Interesse geleitet. Er ist selbstlos geworden, kann also nur noch selbstlos, d.h. wahrhaft gut handeln, sein Denken, Reden und Tun ist frei von «Einflüssen» und zieht deshalb keine Folgen im Kreislauf der Wiedergeburten mehr nach sich. Solange aber sein Drang noch nicht ganz vernichtet ist, muss er weiter ringen, muss sich vor allem im rechten Kampf, im rechten Gedenken und in der rechten Sammlung üben. Dadurch kann er erreichen, dass bei ihm Begierde, Hass und Wahn ganz schwach werden. Dann wird er, wie der Buddha in derselben Rede mit Bezug auf einen Laienanhänger namens Sudatta erklärt, «nur noch einmal in dieser Welt erscheinen und dann dem Leiden ein Ende machen.»
Die nächste, dritte Stufe, wird erreicht, wenn es gelingt, zwei weitere Fesseln zu sprengen: das Verlangen nach sinnlicher Lust und inneren Widerstreit oder Gewissensunruhe, während die fünf letzten Fesseln noch bestehen bleiben: das Verlangen, in dem beseligenden Zustand der «gestalthaften» Versenkungen zu verweilen, das Verlangen, in dem noch höheren Zustand der «nichtgestalthaften» Versenkungen zu verweilen, ferner Stolz oder Dünkel, Zerstreutheit oder Aufregung, und ein letzter Rest von «Unwissenheit». Wer im Augenblick seines Todes zu dieser Stufe emporgestiegen ist, der ist ein «Nichtwiederkehrender», das bedeutet, dass er - entsprechend seinem Verlangen nach den Zuständen der Versenkungen - als ein diese Zustände dauernd geniessendes höheres, überirdisches Wesen wiedererscheint und von dort aus zum ewigen Frieden eingeht.
Zum höchsten Grad, zur vollen Heiligkeit, gelangt derjenige, der alle zehn Fesseln ablegt und sich damit von allen «Einflüssen» freimacht. Ein solcher erlangt schon in diesem Leben die Erlösung seines Gemütes, die Erlösung durch Weisheit zu dauerndem Besitz.
Das Fortschreiten auf dem Pfade des Edlen und das Ablegen der Fesseln
vollzieht sich jedoch nicht immer in der hier angegebenen Reihenfolge,
wie die im AN. III, 128 mitgeteilte Unterredung zwischen zwei Jüngern
des Buddha, Anuruddha und Sâriputta, beweist. Anuruddha,
so wird dort berichtet, begab sich zu Sâriputta und fragte ihn um
Rat. Er sei, sagte er, im Besitz übernormaler Fähigkeiten, seine
Kraft sei unbeugsam, sein Geist gesammelt und doch finde er die Erlösung
nicht. Da antwortete ihm Sâriputta: «Indem du daran denkst,
dass du übernormale Fähigkeiten besitzest, besteht bei dir Dünkel,
indem du daran denkst, dass deine Kraft unbeugsam, dein Geist gesammelt
ist, besteht bei dir Zerstreutheit, indem du daran denkst, dass du die
Erlösung nicht finden kannst, besteht bei dir Gewissensunruhe.»
Sâriputta stellt also bei Anuruddha fest, dass er neben zwei Fesseln
des «Nichtwiederkehrenden» auch noch eine Fessel trägt,
die schon auf der zweiten Stufe überwunden zu werden pflegt. Anuruddha
gab nach dieser Belehrung diese drei Fesseln auf und wurde ein Heiliger.
Nirvana bedeutet den Zustand des Heiligen, des Befreiten. Schon in den alten Texten wird dabei ein Unterschied gemacht, je nachdem, ob der Heilige noch lebt oder gestorben ist. Das Nirvana bei Lebzeiten wird erklärt (SN. XXXVIII, 1) als der Zustand, in dem man sich befindet, wenn Begierde, Hass und Verblendung verschwunden sind. Dieser Zustand kann nach der Lehre des Buddha in diesem Leben erreicht werden. Der Buddha sprach (Udana II, 1):
«Selig die Abgeschiedenheit des Gestillten, der die Lehre kennt und sehend ist. Selig das Freisein von Übelwollen in der Welt, die Zurückhaltung gegenüber den lebenden Wesen. Selig der Zustand der Leidenschaftslosigkeit in der Welt, die Überwindung der sinnlichen Lüste, die Bemeisterung des Dünkels ‚Ich bin‘. - Dies, wahrlich, ist höchste Seligkeit!»
Wer sie erreicht, ist ein Heiliger und von ihm heisst es (Itivūttaka 44): «Seine fünf Sinne bleiben in Kraft, und solange sie unversehrt sind, nimmt er mit ihnen wahr, was angenehm und was nicht angenehm ist, und empfindet Wohl und Wehe. Dass bei ihm Begierde, Hass und Verblendung aufgehört haben, das nennt man den Nirvanazustand mit einem Erdenrest.» Ist aber der Heilige gestorben, so befindet er sich in dem «erdenrestfreien Nirvanazustand», bei dem er keine Empfindung mehr hat und aus dem er nicht wieder zur Welt zurückkehrt.
Nun kann aber der Heilige - und das macht die Terminologie etwas verwickelt,
- unter Umständen auch schon bei Lebzeiten vorübergehend in einen
empfindungsfreien Zustand gelangen, nämlich durch die Sammlung, und
dieser Zustand wird dann zuweilen gleichfalls (AN. IX, 34) als Nirvana
bezeichnet. Es ist aber als wesentlich festzuhalten, dass Nirvana die Freiheit
vom Drange ist, der sich äussert in Begierde, Hass und in dem Wahn,
dass unsere Individualität unser Ich sei. Dieser Zustand der Drangfreiheit
ist gleichbedeutend mit unbedingter Selbstlosigkeit. Wer aber völlig
selbstlos geworden ist, der ist vom Leiden oder - was dasselbe ist - vom
Kreislauf der Wiedergeburten befreit. Wenn sein Leib zerfallen ist, baut
er keinen neuen wieder auf, denn der Drang, der zu neuem Leben führt,
ist in ihm erloschen.
Das Nirvana ist das höchste Ziel, das der Mensch
erreichen kann. Es übersteigt alle menschlichen Vorstellungen, ist
unerkennbar und unerklärbar. Wenn der Buddha vom Nirvana sprach, so
geschah es nur, um die Unfassbarkeit dieses Zustandes zu betonen. Es werden
von ihm folgende Sprüche über das Nirvana überliefert (Udana
VIII, 1 - 4 und I, 10):
«Es gibt ein Reich, wo weder Erde noch Wasser, weder Feuer noch Luft ist, weder das Gebiet der Raumunendlichkeit noch das der Wahrnehmungsunendlichkeit noch das des Nichtseins noch das Grenzgebiet von Wahrnehmung und Nichtwahrnehmung, weder diese Welt noch eine andere Welt, weder Sonne noch Mond. Dies nenne ich weder Kommen noch Gehen noch Bleiben noch Untergehen noch Wiedergeborenwerden, es ist ohne Stütze, ohne Entwicklung, ohne Sinnesobjekte: Dies ist das Ende des Leidens.»
«Schwer einzusehen ist wahrlich die Lehre vom Nicht-Ich, denn nicht leicht einzusehen ist die Wahrheit. Wer sie aber erkennt, der hat den Drang überwunden, wer sie einsieht, für den gibt es nichts mehr.»
«Es gibt ein Nichtgeborenes, ein Nichtgewordenes, Nichtgeschaffenes, Nichtaufgebautes. Gäbe es dies nicht, so könnte auch nicht ein Ausweg aus dem Geborenen, Gewordenen, Geschaffenen, Aufgebauten erkannt werden. Da es nun aber ein Nichtgeborenes, Nichtgewordenes, Nichtgeschaffenes, Nichtaufgebautes gibt, deshalb ist ein Ausweg aus dem Geborenen, Gewordenen, Geschaffenen, Aufgebauten zu erkennen.»
«Wer an etwas hängt, hat Unruhe; wer an nichts hängt, hat keine Unruhe; wo keine Unruhe ist, da ist Ruhe; wo Ruhe ist, da ist keine sinnliche Lust; wo keine sinnliche Lust ist, da gibt es kein Kommen und Gehen; wo kein Kommen und Gehen ist, da gibt es kein Entstehen und Vergehen; wo es kein Entstehen und Vergehen gibt, da ist weder diese noch jene Welt, noch was zwischen beiden liegt. Dies ist das Ende des Leidens.»
«Wo Wasser und Erde, Feuer und Luft keine Stätte finden, dort scheinen nicht die Sterne, strahlt nicht die Sonne, leuchtet nicht der Mond, dort ist aber auch keine Finsternis. Sobald der Weise sich selbst erkannt hat und, indem er (hierüber) schweigt, ein Heiliger geworden ist, ist er von Gestalt und Nichtgestalt, von Wohl und Wehe erlöst.»
Von dem Erlösten heisst es im Sutta-Nipāta V, 7:
«Wie die Flamme, von des Windes Gewalt verweht, verschwindet und mit keinem Wort mehr bezeichnet werden kann, so verschwindet der von seinem lebenden Leib befreite Weise und kann mit keinem Wort mehr bezeichnet werden.
Für den Verschwundenen gibt es kein Mass. Das, wodurch man ihn kennzeichnete, ist nicht mehr vorhanden. Wo alle Dinge aufgehört haben, da haben auch alle Möglichkeiten des Benennens aufgehört.»
Ist das Nirvana ewig oder gibt es für den, der das Nirvana erreicht hat, eine Rückkehr zur Welt? Diese Frage wurde schon zur Zeit des Buddha aufgeworfen und beantwortet. Im Samy.-N. XXII, 90 wird berichtet:
Einst weilten viele ältere Mönche im Gazellenhain Isipatana bei Benares. Da trat der ehrwürdige Channa zu ihnen und bat sie, ihm die Lehre zu erläutern, damit er sie recht verstehe. Hierauf hielten ihm jene einen Lehrvortrag darüber, dass die Gestalt, die Empfindung, die Wahrnehmung, die Sankhāra und das Bewusstsein unbeständig und nicht unser Ich sind und dass alle Gebilde, alle Dinge unbeständig sind. Da dachte Channa:
«Das leuchtet mir wohl ein; wenn aber für mich alle Sankhāra zur Ruhe gekommen sind, wenn alles Irdische abgetan ist, wenn aller Drang vernichtet ist, wenn ich das Begehren gestillt, das Ende erreicht und das Nirvana erlangt habe, dann springt der Geist nicht auf, gelangt nicht zur Klarheit und Festigkeit und wird nicht frei von Unruhe. Das Ergreifen beginnt von neuem und das Denken kehrt zurück. Welches ist dann mein Ich? Wenn man es so ansieht, gibt es das doch nicht! Wer könnte wohl die Lehre so erklären, dass ich sie begreife?»
Er dachte weiter, Ananda, der vom Meister gelobt und von seinen kundigen Mitbrüdern hoch geehrt werde, sei gewiss imstande, ihm die Lehre gut zu erklären. Darauf ging er zu Ananda, berichtete ihm ausführlich, was ihm die älteren Mönche gesagt hatten und welcher Zweifel ihm dabei gekommen war, und bat ihn um eine Belehrung. Ananda erwiderte ihm:
«Vom Erhabenen selbst habe ich es gehört, wie er in meiner Gegenwart den Mönch Kaccanagotta belehrte. Der Erhabene sprach zu Kaccana so:
«Zwei Dingen ist diese Welt im allgemeinen ergeben: dem ‚Es ist‘ und dem ‚Es ist nicht‘. Für den aber, der in der Welt das Entstehen, der Wahrheit gemäss, in rechter Weisheit betrachtet, gibt es kein Nichtsein in der Welt, und für den, der in der Welt das Vergehen, der Wahrheit gemäss, in rechter Weisheit betrachtet, gibt es kein Sein in der Welt. Diese Welt ist alles in allem nur eine Kette von Begehren, Ergreifen, Haften. Darum ergibt sich, wer dies erkennt, nicht dem Begehren und Haften, der Neigung des Geistes zum Zugreifen und Festhalten, er haftet nicht an der Welt, versteift sich nicht auf die Ansicht, dass sein Ich hier zu finden sei, und zweifelt nicht im geringsten daran, dass, wo etwas entsteht, nur Leiden entsteht, und wo etwas vergeht, nur Leiden vergeht. Und solche Erkenntnis kommt ihm von keinem andern als von ihm selbst. Insofern hat jemand rechte Anschauung.
Die Ansicht, dass alles sei, ist die eine Übertreibung; die Ansicht, dass alles nicht sei, ist die andere Übertreibung. Diese beiden Übertreibungen hat der Vollendete vermieden, und er verkündet die in der Mitte liegende Lehre, dass die Sankhāra durch die Unwissenheit bedingt sind, das Bewusstsein durch die Sankhāra und so weiter; ferner, dass auf der restlosen, spurlosen Aufhebung der Unwissenheit die Aufhebung der Sankhāra beruht und so weiter und dass so die ganze Masse des Leidens vergeht.»
Channa dankte Ananda herzlich und versicherte, dass ihm nun die Lehre vollkommen klar geworden sei.
Channas Zweifel beruhte auf folgender Erwägung:
Wenn im Nirvana alle Sankhāra zur Ruhe gekommen sind, dann ist
auch das vorher erworbene Wissen nicht mehr vorhanden. Wo aber kein Wissen
ist, da ist Unwissenheit, und wo Unwissenheit ist, da muss nach der Lehre
von der Kette der Abhängigkeitsverhältnisse der Kreislauf des
Lebens und des Leidens weitergehen. Dies ist, wie ihm
Ananda mit den Worten des Buddha auseinandersetzt, ein Fehlschluss, und
der Fehler liegt darin, dass Channa die Ansicht der Welt teilt, die Begriffe
Sein und Nichtsein oder ‚Es ist‘ und ‚Es ist nicht‘ seien die Grundbegriffe,
mit denen sich die Wirklichkeit begreifen lasse. In Wirklichkeit gibt es
aber kein Sein und kein Nichtsein, sondern nur ein Werden und Vergehen,
eine Kette von Abhängigkeitsverhältnissen. Wenn das Wissen erlangt
und damit die Unwissenheit vernichtet ist, dann ist die Bedingung für
alles Werden und für das Entstehen der ganzen Masse des Leidens weggefallen,
also kann neues Werden und neues Leiden nicht entstehen. Channa sah dies
ein, und nun wurde ihm klar, dass das Nirvana ewig ist.
Der edle achtfache Buddhaweg, der zur Befreiung, zum Nirvana führt, ist schwer zu gehen. Nur wenige Menschen haben die Kraft, ihn ohne Abirrungen bis ans Ende zu wandeln, auch wenn sie eingesehen haben, dass er das Richtige ist, und guten Willens sind, den Weisungen des Buddha zu folgen. Sollen sie, wenn sie sich ihrer Schwäche bewusst werden, das Streben aufgeben? Oder sollen sie sich weiter bemühen, auf ihm fortzuschreiten? Und was wird die Folge sein, wenn sie trotz guter Einsicht und redlichen Strebens auf halbem Wege stehen bleiben? Solche Fragen wurden schon zu Lebzeiten des Buddha aufgeworfen und der Buddha hat darauf nach der Überlieferung kurze Zeit vor seinem Tode eine Antwort gegeben, die er den «Spiegel der Lehre» nannte. Sie findet sich im Mahaparibbânasutta 2 und im AN. IV, 52.
Wer den höheren Pfad betreten hat («ariyasāvaka»), kann hiernach durch Selbstprüfung feststellen, ob er gegen ein Hinabgleiten in niedrigere und qualvolle Daseinszustände gesichert ist und mit Bestimmtheit darauf zu rechnen hat, einst, wenn auch erst in einem späteren Dasein, zum Nirvana zu gelangen. Diese Gewissheit hat er, wenn er vier Bedingungen erfüllt, nämlich:
Erstens muss er unerschütterliches Vertrauen zum Buddha haben, indem er überzeugt ist:
«Er, der Erhabene, ist der Heilige, der vollkommen Erwachte, der in Weisheit und Wandel Bewährte, er hat das Heil erlangt, er kennt die Welten, er ist der unübertreffliche Lenker der Menschheit, der Lehrer der Götter und Menschen, der Buddha, der Erhabene.»
Zweitens muss er unerschütterliches Vertrauen zur Buddhalehre haben, indem er überzeugt ist:
«Wohl verkündet ist vom Erhabenen die Lehre, sie wirkt schon in diesem irdischen Dasein, nicht erst nach dem Tode (FN 1), sie ist einladend, sie führt zum Ziel und kann von Weisen aus eigener Kraft erkannt werden.»
Drittens muss er unerschütterliches Vertrauen zur Jüngergemeinde haben, indem er überzeugt ist:
«Gut wandelt des Erhabenen Jüngergemeinde, sie wandelt ehrlich auf dem rechten Pfad und richtig, eingeteilt in vier Doppelklassen oder in acht Klassen; diese Jüngergemeinde des Erhabenen verdient Verehrung und Bewirtung, Spenden und ehrfürchtigen Gruss, sie ist ein unübertreffliches Feld für verdienstliche Tat in der Welt.»
Viertens muss er
«die Sittlichkeitslehren, die den Edlen lieb sind und von Weisen gebilligt werden, die frei machen und zur Sammlung führen, einhalten, ohne sie abzuschwächen oder zu verletzen, ohne sie zu verändern oder zu verunstalten, ohne sie anzutasten».
Fußnote 1 Die Richtigkeit dieser Übersetzung von akâliko folgt aus SN. I, ZO, 5. Vgl. Geigers Übersetzung!
Die ersten drei dieser Bedingungen sind eine im Pali-Kanon oft wiederkehrende feierliche Bekenntnisformel. Was darin über die Jüngergemeinde gesagt wird, gilt von den auf dem höheren Pfade wandelnden Ordensmitgliedern, welche die Hüter und Übermittler der Buddhalehre sind. Die Einteilung in vier Doppel-klassen oder acht Klassen ist keine äusserliche, sondern bezieht sich auf den Grad der inneren Vervollkommnung, den die einzelnen erreicht haben. Dabei wird jeder der vier Grade - Stromeintritt, Einmalwiederkehr, Nichtwiederkehr, Heiligkeit - noch in zwei Unterabteilungen geteilt; zur einen gehören diejenigen, die den betreffenden Grad anstreben, zur anderen diejenigen, die ihn erreicht haben.
Die vierte Bedingung ist ein feierliches Bekenntnis zu der Sittlichkeitslehre des Buddha.
Der «Spiegel der Lehre» lässt
sich dahin zusammenfassen: Wer den Kern der Buddhalehre, die Lehre vom
Nicht-Ich, innerlich erfasst und dadurch den höheren Pfad betreten
hat, darf mit Sicherheit darauf rechnen, früher oder später das
höchste Ziel zu erreichen, wenn er vertrauensvoll der Führung
des Buddha, seiner Lehre und dem Vorbild der nach der Heiligkeit strebenden
Jünger folgt und sich mit Ernst und Eifer der vom Buddha gelehrten
Sittlichkeit befleissigt.
Wenn der Buddha vor Laien redete, befolgte er dabei gewöhnlich den pädagogischen Grundsatz, vom leichter Verständlichen zum Schwereren fortzuschreiten. «Er sprach», so wird oft berichtet, «über die Wohltätigkeit, die Sittlichkeit, den Himmel, das Elend, die Niedrigkeit und Unreinheit der sinnlichen Begierden und über den Segen, den der Verzicht darauf mit sich bringt. Wenn er dann erkannte, dass das Gemüt seiner Zuhörer wohl vorbereitet war, erläuterte er die einem Buddha eigentümliche Lehre vom Leiden, von dessen Ursprung und Ende und vom Wege.» Wandte er sich aber an seine Jünger, bei denen er die Grundzüge seiner Lehre als bekannt voraussetzen konnte, so pflegte er eine andere Disposition zu wählen, die man eine systematische nennen darf: «Er hielt ihnen eine ausführliche Rede über die Sittlichkeit, über die Sammlung und über die Weisheit; er legte dar, wie segensreich durch sittliche Zucht vorbereitete Sammlung und durch Sammlung vorbereitete Weisheit ist, und zeigte, wie ein von Weisheit durchdrungener Geist von allen Einflüssen des sinnlichen Begehrens, der Gier nach Dasein, der falschen Ansichten und der Unwissenheit frei wird.»
Merkwürdigerweise zeigt die grosse Masse von Berichten über das Leben und die Lehre des Buddha, die wir unter dem Namen Pali-Kanon kennen, weder im ganzen noch in irgendeinem Teile eine Ordnung, die auch nur annähernd einem der beiden vom Buddha selbst angewandten Lehrpläne entspricht. Vielmehr sind im Pali-Kanon die Texte ganz systemlos, teils nach ihrer Länge, teils nach anderen rein äusserlichen Merkmalen aneinander gereiht. Hierin, in diesem Mangel einer methodischen oder systematischen Ordnung der Urtexte, scheint eine der Ursachen dafür zu liegen, dass die Lehre des Buddha im Abendlande so vielem Missverständnis begegnet und selbst in buddhistischen Ländern von vielen nicht mehr recht verstanden wird. Denn in der Tat hat, wer das Studium des Buddhismus mit der Lektüre des Kanons beginnt, ungeheuer viel zu lesen, bevor er auf den Kern der Lehre stösst und bevor sich ihm der Sinn erschliesst.
Der Pali-Kanon führt den Namen Tipitaka, d. i. «Dreikorb», weil er aus drei Hauptteilen, «Körben» genannt, besteht: Vinaya-Pitaka, Sutta-Pitaka und Abhidhamma-Pitaka.
Das Vinaya-Pitaka ist in der Hauptsache die Ordensregel der buddhistischen Mönche und enthält ausserdem geschichtliche Berichte: in der Einleitung des Mahavagga eine Schilderung der Zeit vom «Erwachen» (der Bodhi) des Buddha bis zur Gründung der ersten Gemeinde in Benares, im Cullavagga Einzelheiten aus dem Leben des Buddha und der Gemeinde. Im Mahavagga finden sich unter anderem die Geschichten von der Bekehrung der beiden vornehmsten Jünger, Sariputta und Moggallâna, und von der des Feldherrn Siha, der vorher ein Anhänger des Nâtaputta, also ein Jaina war; im Cullavagga die Geschichten von Anâthapindika, einem reichen Bürger, der der Gemeinde einen Hain, das Jetavana, schenkte, und von Devadatta, der die Gemeinde spalten wollte und dem Buddha nach dem Leben trachtete. Diese Stücke sind ins Deutsche übersetzt von J. Dutoit in seinem Buche «Das Leben des Buddha», Leipzig 1906.
Das Sutta-Pitaka, der «Korb der Lehrreden», setzt sich aus fünf grossen Sammlungen, Nikāya genannt, zusammen: der Digha-Nikāya, die «Lange Sammlung», enthält die längsten Berichte, Sutten, im ganzen vierunddreissig; der Mājjhima-Nikāya, die «Mittlere Sammlung», die Sutten von mittlerem Umfang, 152; der Samyutta-Nikāya, eine grosse Zahl, 2889, meist kürzere Sutten, die zu Gruppen, Samyutta, zusammengefasst sind; der Angūttara-Nikāya, die «Sammlung mit aufsteigender Gliederzahl», umfasst 2308 gleichfalls meist kürzere Sutten, die nach der Zahl der in ihnen behandelten Gegenstände zu elf Abschnitten mit den Namen «Einer-Abschnitt», «Zweier-Abschnitt», «Dreier-Abschnitt» usw. zusammengestellt sind; der Khuddaka-Nikāya, die «Sammlung der kurzen Stücke», enthält fünfzehn Werke verschiedenartigen Charakters.
Im Digha-Nikāya - der als Sammlung schon früh festgestanden haben muss, früher jedenfalls als der Samyutta-Nikāya, da in diesem (IV, 286, 12) das Brahmajālasutta (Digha 1) zitiert wird - finden wir an 16. Stelle das Mahaparinibbānasutta, den Bericht über die letzten Monate des Lebens und das Parinirvana des Buddha. Seinem Hauptinhalt nach bildet dieses eine Ergänzung zu den Berichten im Mahavagga und im Cullavagga. An Aussprüchen des Buddha enthält es nicht viel zur Erklärung der Lehre; von längeren Reden des Buddha bringt es nur kurze Inhaltsangaben, daneben aber eine Reihe kurzer, charakteristischer Gelegenheitsgespräche, die offenbar sehr getreu überliefert worden sind und das Bild des greisen Meisters recht lebendig zeichnen.
Für das Studium des Dhamma kommen aus dem Digha-Nikāya hauptsächlich folgende Sutten in Betracht: das 15. (Mahanidānasutta), das eine ausführliche Begründung der Lehre von der Kette der Abhängigkeitsverhältnisse enthält, das 22. (Mahasatipatthānasutta), über die Hauptdenkübung, das 2. und das 9. über die Sammlung, das 31. über die Pflichten gegenüber den Nächsten (die Ermahnung des Singālaka), das 1. über die strengen Verhaltensvonschniften für die Mönche, das 11., 13. und das 24. über die Stellung des Buddha zur brahmanischen Theologie. Die übrigen sind zum Teil von grossem kulturgeschichtlichen Interesse.
An deutschen Übersetzungen des Digha-Nikāya besitzen wir zwei: eine vollständige, aber leider durchaus nicht vollkommene, sondern ziemlich fehlerhafte, von K. E. Neumann, «Die Reden Gotamo Buddhos aus der Längeren Sammlung» (München und Leipzig), und eine bessere, aber unvollständige von R. 0. Franke (Digha-Nikāya, Göttingen), mit wertvollen Anmerkungen und Anhängen, aber mit einer anfechtbaren Einleitung.
Der Mājjhima-Nikāya ist reich an eigentlichen Lehrreden. Die wichtigsten Sutten sind diese: das 12. über die fünf Reiche, das 21. mit der Mahnung, auch gegen Feinde gütige Gesinnung zu hegen, das 22. mit einer Stelle über die Nichterkennbarkeit eines Vollendeten, das 38. über den Vorgang der Wiedergeburt, das 41. über die zehn Sittlichkeitsregeln, das 63. über das Gespräch mit Malunkyaputta, die Abweisung müssiger Fragen, das 72. über ein Gespräch mit Vacchagotta, das 109., das sich auch im Samyutta-Nikāya XXII, 82 findet, über die Lehre vom Nicht-Ich, und das 141., eine Erläuterung zur edlen Wahrheit vom Leiden. Geschichtlichen Inhalts sind das 26. und das 36. über die Zeit vor der Erleuchtung des Buddha, und das 31., der Besuch des Buddha im Gosingawalde bei Anuruddha, Nandiya und Kimbila; endlich legendarisch das 123., ein Bericht des Jüngers Ananda über das, was er vom Buddha über die wunderbaren Ereignisse bei dessen Geburt gehört haben will. Übersetzt ist der Mājjhima-Nikāya von K. E. Neumann («Die Reden Gotamo Buddhos aus der Mittleren Sammlung», München).
Weit umfangreicher als die beiden ersten Nikāya, die in der Textausgabe der Pali Text Society je drei Bände füllen, sind der dritte und vierte, der Samyutta- und der Angūttara-Nikāya, je fünf Bände. Während die beiden ersten sehr alte Sammlungen zu sein scheinen - aber jedenfalls Sammlungen, nicht, wie Franke behauptet, «einheitlich konzipierte schriftstellerische Werke» - machen die beiden folgenden den Eindruck jüngerer und nachträglicher Sammlungen; sie sind gewissermassen Nachlesen, in denen diejenigen Teile der Überlieferung zusammengetragen wurden, die in den beiden ersten Sammlungen fehlen. Dies zeigt schon die Art ihrer Gruppierung nach Samyutta (Gruppen) und Nipāta (Abschnitten). Aber wenn sie auch als Sammlungen jünger zu sein scheinen, so ist doch ihr Inhalt zum grössten Teil ebenso alt und ursprünglich als der des Digha- und des Mājjhima-Nikāya. So finden wir z. B. erst im Samyutta-Nikāya, und zwar ziemlich am Ende, LVI, 11, die Rede von Benares über die vier edlen Wahrheiten. Auch sonst enthält der Samyutta-Nikāya vieles, was zum Verständnis der Lehre unbedingt nötig ist. Um nur die wichtigsten Stücke zu nennen: XII, 44 und XXXV, 107 gleichlautend, ein Ausspruch des Buddha über Entstehen und Vergehen der Welt, XII, 46 über das Subjekt der Vergeltung, XII, 62, XXII, 33 und 82 über die Lehre vom Nicht-Ich, XVI, 12 und XXII, 85 über die Unerkennbarkeit eines Vollendeten nach dem Tode, XII, 15 und teilweise gleichlautend, XXII, 90 über Sein und Nichtsein, XXXVIII, 1 über das Nirvana, XLIV, 10, das Gespräch mit Vacchagotta über die Unerklärbarkeit des Ich, XLV, 8 eine ausführliche Erklärung des achtgliedrigen Pfades. Von einer deutschen Übersetzung des Samyutta-Nikāya von Wilhelm Geiger sind bisher die ersten beiden Bände erschienen (München-Neubiberg 1925 und 1930).
Die «Drei Merkmale» finden sich im Angūttara-Nikāja III, 134. Auch wichtige Aussprüche über das Nirvana sind in der vierten Sammlung aufbewahrt, so III, 55 und IX, 34. Aus dem Einer-Abschnitt sind vor allem zu nennen: 6 bis 8 über Tugenden und Laster und 20 über die Stufen des Überwindens und der Loslösung; aus dem Dreier-Abschnitt: 33 über die Motive der Taten, 35 über die drei Götterboten, 65 die Ermahnung an die Kalāma, nicht blind zu glauben, sondern selbst zu urteilen, 99 über die Vergeltung, nicht nach Massgabe der Tat, sondern nach dem Charakter des Täters; aus dem Vierer-Abschnitt: 14 der vierfache rechte Kampf, 33 die Vergänglichkeit der Götter, 177 das Gespräch mit Râhula über das Nicht-Ich. Den Angūttara-Nikāya hat Nyânatiloka ins Deutsche übersetzt («Der Angūttara-Nikāya», 5 Bände, 2. Auflage, München-Neubiberg 1923).
Die fünfte Sammlung endlich, der Khuddaka-Nikāya, ist lockerer gefügt: sie setzt sich aus 15 verschiedenartigen Einzelwerken zusammen. Das erste davon, der Khūddaka-Patha, ist von Seidenstücker übersetzt (Breslau 1910). Er enthält u.a. die zehn Observanzen des Mönchs und das Metta-Sutta (über die Güte), das sich auch im Suttanipāta I, 8 findet. Dann folgt das Dhammapada, die berühmte Spruchsammlung (ins Deutsche übersetzt von L. v. Schröder: «Worte der Wahrheit», Leipzig 1892, von K. E. Neumann: «Der Wahrheitspfad», und von Hans Much, Hamburg). Das dritte Werk ist das Udāna, eine Sammlung feierlicher Aussprüche des Buddha, meist in Versform, von denen jeder mit einer Prosa-Einleitung versehen ist. Eine Übersetzung von K. Seidenstücker ist in Augsburg erschienen. Die wichtigsten Stücke des Udāna sind I, 1 - 3 die Kette der Abhängigkeitsverhältnisse (gleichlautend Mahavagga I, 1) I, 10 und VIII 1 - 4 über das Nirvana, III, 10 über die Vergänglichkeit, VI, 4 das Gleichnis von den Blindgeborenen und VIII, 8 das Gespräch mit Visākha über den Tod ihres Enkels. Eine Sammlung ähnlicher Art wie das Udāna ist das Itivūttaka (übersetzt von K. Seidenstücker, Leipzig 1921). Hier sind die einzelnen Stücke (112) aus Prosa und Versen gemischt. Zu den schönsten Stücken dieses Werkes gehören das Sutta 27 über die Güte und 44 über die beiden Nirvana-Zustände. Von den übrigen Werken des Khūddaka-Nikāya kommen für das Studium der Lehre nur noch in Betracht der sehr altertümliche Sutta-Nipāta, der 17 Lehrgedichte von wunderbarer Tiefe enthält, dann die Theragâtha und Therigâtha, Sammlungen von Gedichten, die älteren Mönchen und Nonnen zugeschrieben werden. Alle drei sind übersetzt von K. E. Neumann («Die Reden Gotamo-Buddhos aus der Sammlung der Bruchstücke», München, «Die Lieder der Mönche und Nonnen», München).
Ausgewählte Stücke aus dem Vinaya-Pitaka und aus dem Sutta-Pitaka sind übersetzt von Karl Seidenstücker («Pali-Buddhismus in Übersetzungen», 2. Auflage, München-Neubiberg 1923) von Hermann Oldenberg («Reden des Buddha», München, 1923) von Kurt Schmidt («Buddha, Die Erlösung vom Leiden», 2. Auflage, München 1921) und anderen.
Das Abhidhamma-Pitaka ist eine jüngere Sammlung scholastischer
Erläuterungen zu den verschiedenen Begriffen erkenntnistheoretischen,
psychologischen und ethischen Inhalts, die in den Lehrreden vorkommen.
Einen ausführlichen Auszug aus dem ganzen Abhidhamma-Pitaka mit Erläuterungen
bietet Nyânatiloka in seinem «Guide through the Abhidhamma-Pitaka»,
Colombo 1938. Die wichtigsten Werke des Abhidhamma sind: die Pūggala-Pannātti, d.
i. «Beschreibung der Individuen», ins Deutsche übersetzt
von Nyânatiloka, und das Kathavatthu, das eine Widerlegung
von 252 Irrlehren enthält. Es ist nach der Überlieferung von
dem Thera (Ordensältesten) Tissa Moggaliputta auf dem dritten
Konzil unter König Asoka (264 bis 227 vor Christus) vorgetragen
worden. Das Kathavatthu ist bisher noch
nicht ins Deutsche übersetzt worden. Die wesentlichsten Punkte des
ganzen Abhidhamma-Pitaka sind zusammengefasst im Abhidhammatthasangaha, einem
Werk, das zwischen dem 8. und dem 12. Jahrhundert auf Ceylon verfasst worden
ist. Ins Deutsche übersetzt ist es von Brahmacari Govinda, München-Neubiberg
1931.
Wie jede echte Wahrheit, so lebt auch die Buddha-Lehre nur dort, wo sie von denkenden Menschen innerlich erlebt wird. Wo dagegen ihr Wortlaut nur auswendig gelernt wird und äusserliche Kulthandlungen die innere Hingebung an die Wahrheit verdrängen, da ist sie tot und wertlos. Der Buddha hat Mönche sowohl als auch Laien ermahnt, nur das als wahr anzunehmen, was sie selbst als wahr erkannt haben, denn er wusste, dass alles, was man auf göttliche oder menschliche Autorität hin glaubt, ohne sich durch eigenes Urteilen von dessen Wahrheit überzeugt zu haben, eine unsichere, schwankende, hinfällige Unterlage für die Lebensführung ist, eine Unterlage, die zusammenbricht, sobald sie mit dem Licht des Denkens bestrahlt wird.
Wenn aber die Buddha-Lehre nur lebt, sofern sie von denkenden Menschen erlebt wird, so ist es nicht zu verwundern, sondern vielmehr ganz natürlich, dass sie in jedem Buddhisten eine eigene Färbung, eine eigene Ausdeutung annimmt, die sich von der jedes andern Buddhisten mehr oder weniger unterscheidet. Wenn wir die ganz alten Berichte im Pali-Kanon kritisch lesen, können wir uns dem Eindruck nicht verschliessen, dass schon unter den unmittelbaren Jüngern des Buddha jeder seine eigene Art hatte, die Lehre des Meisters in sich zu erleben. So ist es immer gewesen, und so ist es heute noch. Daher mussten im Laufe der Jahrtausende notwendig immer neue Betrachtungsweisen innerhalb des Buddhismus auftauchen, die sich als Sekten jahrhundertelang vom Lehrer auf den Schüler forterbten, und ebenso musste der Buddhismus in den verschiedenen Ländern, je nach den Denkgewohnheiten und Denkfähigkeiten der verschiedenen Völker, verschiedene Gestalten annehmen.
Dem Anschein nach wird die ursprüngliche Buddha-Lehre noch heute in Ceylon, Burma und Siam von den Buddha-Mönchen gepflegt und befolgt. Sie halten sich an den Pali-Kanon, den wir unserer Darstellung der Buddha-Lehre zugrunde gelegt haben, und beobachten mehr oder weniger streng die darin enthaltenen Vorschriften für den Mönchs-Orden. In Wirklichkeit aber vertritt der grösste Teil der dortigen Mönche eine Auffassung, die in einem sehr wichtigen Punkt von der ursprünglichen Lehre abweicht. Der Buddha hatte gelehrt: «Was unbeständig ist, das ist unbefriedigend; was unbefriedigend ist, das hat man der Wirklichkeit gemäss so anzusehen: Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Ich.» Damit ist gesagt, dass die ganze Individualität, die in den fünf Gruppen besteht, ein Komplex von uns wesensfremden Beilegungen ist, von dem wir uns gänzlich loslösen können und sollen, weil wir in unserm tiefsten Wesen jenseits der Welt, transzendent, sind. Unser Ich ist in der Welt nicht zu finden, es ist unerkennbar, unergründlich wie das grosse Weltmeer. Demgegenüber legen viele Mönche in Südasien heute die Lehre so aus: «In den fünf Gruppen, in denen die Persönlichkeit des Menschen besteht, ist keine unzerstörbare Wesenheit, kein Ich zu finden. Was wir fälschlich für unser Ich halten, ist nichts als das Karma, das Wirken, das von Augenblick zu Augenblick wechselt. Ein Ich gibt es in Wirklichkeit nicht, es ist nur eine Täuschung, die bei Erreichung des Nirvana verschwindet.» Der Unterschied zwischen der ursprüngliehen Buddha-Lehre und der im südlichen Buddhismus heute vorherrschenden Auffassung mag, äusserlich betrachtet, gering erscheinen, er ist aber doch wesentlich, ja, er betrifft das Wesentliche der Buddha-Lehre. Wahrscheinlich kommt er den meisten München nicht zu Bewusstsein, und das Volk weiss überhaupt nichts davon. Es bekennt sich zum Buddha, zur Lehre und zur Mönchsgemeinde und verehrt gleichzeitig allerlei Gottheiten seiner alten Volksreligion. Gegen die Beibehaltung des alten Götter- und Dämonenglaubens ist vom buddhistischen Standpunkt aus grundsätzlich nichts einzuwenden, denn der Buddha hat selbst schon, wie oben gezeigt wurde, die Verehrung örtlicher Gottheiten zugelassen und sogar empfohlen, sofern nur nicht geglaubt wird, dass solche Gottheiten oder überhaupt ein Gott dem Menschen irgendwie zur Erlösung vom Leiden verhelfen könne. Man kann also wohl sagen, dass der alte, ursprüngliche Buddhismus, abgesehen von der abweichenden Auffassung der allerdings äusserst wichtigen Lehre vom Nicht-Ich, in den genannten Ländern Südasiens heute noch lebendig ist. Wo er in Verfall geraten war, ist seit etwa fünfzig Jahren ein neues Aufleben des Buddhismus bei den Mönchen und im Volke zu beobachten, und es scheint, dass auch die ursprüngliche Nicht-Ich-Lehre, vor allem dank der Aufklärungsarbeit von Georg Grimm und Karl Seidenstücker, im südlichen Buddhismus wieder Boden gewinnt.
In den andern Ländern Mittel- und Ostasiens, in Indien, China, Tibet und Japan, hat sich der Buddhismus im Laufe der Jahrhunderte tiefgreifend gewandelt. Ungefähr zu der Zeit, da im römischen Reich der christliche Glaube aufkam, entstand auch in Indien der Glaube an einen persönlichen Gott, der durch seine Gnade den Menschen die Erlösung aus der leidvollen Wandelwelt zuteil werden lassen kann. Obwohl die Buddhisten niemals und nirgends an einen göttlichen Weitschöpfer und Weitregenten geglaubt haben, gingen viele von ihnen doch zu dem Glauben an einen göttlichen Helfer und Erlöser über und verquickten diesen Glauben mit einer Vorstellung, deren Ursprung im ältesten Buddhismus zu suchen ist. Schon im Pali-Kanon wird der Prinz Siddhattha, bevor er die Bodhi, die Erwachung oder Erleuchtung, erlangte und dadurch zum Buddha wurde, gelegentlich Bodhisatta genannt. Bodhisatta, in Sanskrit Bodhisattva, ist also ein künftiger Buddha. Der Buddha Gótama soll auch bereits gesagt haben, in späterer Zeit werde einmal ein Buddha namens Metteyya (Digha-Nikāya XXVI, 25), in Sanskrit Maitreya, auftreten, der jetzt als Bodhisattva im Himmel weile. Hieran anknüpfend glaubte man nun, dieser Bodhisattva Maitreya könne den Menschen, die sich ihm anvertrauen, zur Erreichung des höchsten Ziels, des Nirvana, verhelfen. Nach und nach schuf die religiöse Phantasie noch viele, ja unzählige andere Bodhisattvas. Der bekannteste und wichtigste ist Avalokiteshvara, der Herr des Erbarmens, der die Erleuchtung erreicht, aber auf das Nirvana verzichtet habe, um allen Wesen zu helfen. In China und Japan wird er als weiblicher Bodhisattva unter dem Namen Kuan-yin oder (japanisch) Kwannon verehrt. Höher als die Bodhisattvas steht im Glauben dieser späteren Buddhisten der im Himmel lebende Buddha Amitāyus = unermessliches Leben oder Amitabha = unermesslicher Glanz - chinesisch Omito-Fo, japanisch Amida - ‚ der ein «reines Land» oder Paradies für die Gläubigen geschaffen hat. Um in diesem Paradies, das frei von Leiden ist und in dem die Wesen zum Nirvana heranreifen, wiedergeboren zu werden, braucht man nicht die schweren Bedingungen zu erfüllen, durch die man nach der alten Buddha-Lehre ein «Nichtwiederkehrender» wird (siehe oben), sondern es genügt der Glaube und das feste Vertrauen auf die Barmherzigkeit des Buddha Amitābha. Mit diesem Glauben erhielten auch die Kulthandlungen andere Formen und eine andere Bedeutung. Im alten Buddhismus waren religiöse Gebräuche und Zeremonien nur äusserliche Hilfsmittel zur Förderung des religiösen Lebens, im späteren sollen sie die Hilfe der im Himmel lebend gedachten Buddhas oder Bodhisattvas herbeirufen. Daher kam nun auch das Gebet auf, das es im alten Buddhismus nicht gibt. Und schliesslich wurde das Ziel des Strebens ein anderes. Für die Jünger des Buddha gab es ursprünglich nichts Höheres, als ein Heiliger, ein Arahā, in Sanskrit: Arhat, zu werden, der das Nirvana verwirklicht. Den Späteren genügte das nicht. Sie wollten nicht nur für sich das Nirvana erreichen, sondern selbst ein Bodhisattva und danach ein Buddha werden, um allen Wesen zum Nirvana zu verhelfen.
Die Anhänger dieser späteren Lehren bezeichneten ihre Richtung als Mahayāna, grosses Fahrzeug, das nicht nur wenige Auserlesene, sondern alle Wesen zur Erlösung befördert, und nannten im Gegensatz dazu die alte Buddha-Lehre Hinayāna, kleines Fahrzeug.
Auch der philosophische Gehalt der Buddha-Lehre wurde geändert. Wandelwelt und Nirvana wurden nicht mehr als Gegensätze aufgefasst, sondern als zwei Aspekte oder Erscheinungsformen einer und derselben Wirklichkeit. Besonders wurde die im Pali-Kanon nur angedeutete Lehre von der Leerheit aller Dinge (FN 1) weiter ausgebildet. Sie gipfelt schliesslich darin, dass die Erscheinungswelt nichts als trügerischer Schein sei. Von diesem Standpunkt aus gibt es in Wirklichkeit keine die Welten durchwandernden Wesen, keinen Heilsweg, auch keinen Buddha. Für den, der dieses «erlösende Wissen» besitzt, ist die Buddha-Lehre überflüssig geworden, für die anderen aber liegt ihr Wert nach der Auffassung der Mahayanisten darin, dass sie sie zu diesem höchsten Wissen hinführt.
Fußnote (1) Sutta-Nipāta 1119: «Als leer betrachte die Welt, Mogharāja, sei immer besonnen, rotte die Ich-Anschauung aus; so magst du den Tod überwinden. Wer die Welt so betrachtet, den sieht der Todesfürst nicht.» Dieser Leerheitsbegriff, der sich mit dem Nicht-Ich-Begriff berührt (anatta = nicht-ich, ohne Ich, wesenlos, nur Erscheinung) ist übrigens ein anderer als der in der Mediation zur Erreichung der nichtgestalthaften, abstrakten Bereiche (siehe oben).
Aus dem Mahayâna entwickelte sieh etwa 500 Jahre später, also um die Mitte des ersten Jahrtausends nach Christus, eine weitere Form des Buddhismus, das Vajrayāna, das Diamant- oder Donnerkeil-Fahrzeug. Es besteht in einem verwickelten System von Zaubersprüchen und Zauberriten, durch die man Wunderkräfte in sich zu entfalten glaubte. Von den Anhängern dieser Richtung wurde als höchstes Wesen der Buddha Vairocana verehrt. Der Kultus artete schliesslich aus zu einem rituellen Geschlechtsverkehr. Der Theorie nach soll bei diesem Akt keine sinnliche Lust erstrebt, sondern jenseitige Erkenntnis erweckt werden. Der Handelnde «soll sich seiner Identität mit der ewigen Weltkraft bewusst werden, in welcher alle Zweiheit aufgehoben und die Wonne des All-Einen, Absoluten verwirklicht ist. Indem er die Frau ‚erkennt‘, gewinnt er die übersinnliche Erkenntnis, dass alles individuelle Denken im Schoss der ‚Leere‘ vergeht und dass jedes scheinbare Selbst in einer höheren Einheit aufgehoben wird». (FN 1) Im Vajrayāna hat sich der Buddhismus in sein Gegenteil verkehrt.
Fußnote (1) Helmut von Glasenapp, Der Buddhismus in Indien und im Fernen Osten, Berlin 1939, Seite 91.
Als der Buddhismus solche Formen angenommen hatte, ging er in seinem Heimatlande Indien zugrunde, verdrängt durch den Hinduismus, in dem einiges von der Lehre des ursprünglichen Buddhismus in anderer Gestalt fortlebt. In Ostasien und in Tibet breitete sich aber der Buddhismus immer mehr aus, und zwar vorzugsweise in der Form des Mahayāna, das man deshalb, wenn auch nicht ganz zutreffend, als nördlichen Buddhismus bezeichnet.
In China, wo der Buddhismus zur Han-Zeit, rund 200 vor Chr. bis rund 200 nach Chr., bekannt wurde, teilten sich die Buddha-Mönche nach und nach in zehn Sekten oder Schulen, die ihre Lehren auf bestimmte Texte gründeten und besondere Formen des Ritus ausbildeten. Manche dieser Sekten sind im Laufe der Zeit wieder verschwunden. Von den heute bestehenden sind die wichtigsten die Sekte «des reinen Landes» oder Lotus-Sekte, die das Heil von der Gnade Amitābhas im westlichen Paradies, dem reinen Lande, erwartet, und die Meditations- oder Tschan-Sekte, die das Studium der Texte für nebensächlich hält und den Hauptwert auf die von ihr besonders ausgebildete Meditation legt. Die erste ist unter den Laien am weitesten verbreitet (FN 1), die andere wird hauptsächlich von Mönchen gepflegt. Als dritte ist die Tientai-Sekte zu nennen, eine rein chinesische Gründung aus dem 6. Jahrhundert, in der die Lehren aller anderen Sekten zu einem System zusammengefasst werden.
Fußnote (1) H. Hackmann, Laien-Buddhismus in China, Gotha 1924.
In Japan sind die meisten chinesischen Sekten seit dem 6. Jahrhundert übernommen und zum Teil weiter verändert worden. An die chinesische Sekte des «reinen Landes» schliesst sich die japaneische Jôdo-Sekte an; sie teilt sich in vier Zweige. Einer von diesen, die Shin-Sekte, lehrt, dass alles Heil ausschliesslich durch die Gnade Amitābhas erreichbar sei (also gerade das Gegenteil von dem, was der Buddha lehrte!). Während ihre Lehre mit der des Protestantismus vergleichbar ist, ähnelt ihr Kultus mehr dem katholischen. Der chinesischen Tschan-Sekte entsprechen die japanischen Zen-Sekten, die ein eindrucksvolles Ritual in ihren Klöstern entwickelt haben. Das Zen ist eine eigenartige Denkweise, die dem Europäer nur schwer verständlich gemacht werden kann und mit dem alten Buddhismus nur wenige Berührungspunkte hat (FN 1). Geistliche Übungen betreiben in den Zen-Klöstern nicht nur Mönche, sondern auch Laien, besonders aus den Reihen der Samurai, des niederen Adels. Dadurch hat das Zen einen bedeutenden Einfluss auf die ethische und ästhetische Kultur der Japaner ausüben können. In Japan gibt es ausserdem noch zwei andere Richtungen innerhalb des Buddhismus: die Shingon- und die Tendai-Sekte. Die erstere besitzt eine Geheimlehre, die sie durch Vermittlung der chinesischen Mi-Sekte, der Schule der Geheimnisse, aus dem Vajrayāna erhalten hat. Sie betrachtet die Welt als die Entfaltung des ewigen Absoluten, des Buddha Vairocana. Ihr Kultus ist vielseitig und fein ausgebildet. Die Tendai-Sekte entspricht der chinesischen Tientai-Sekte; sie erkennt die Shinto-Götter, die Götter der altjapanischen Volksreligion, an und hat auch eine Geheimlehre.
Fußnote (1) D. T. Suzuki, Die grosse Befreiung, Einführung in den ZenBuddhismus. Leipzig 1939, Curt Weiler & Co. Verlag.
Eine ganz andere Gestalt hat der Buddhismus in Tibet und in der Mongolei angenommen. Hier erscheint er als Lamaismus. Die Anfänge in Tibet liegen im 7. Jahrhundert, aber im Anfang des 15. Jahrhunderts wurde der Lamaismus durch Tsongkhapa reformiert, der die jetzt herrschende, gelbe Mützen tragende «Tugend-Sekte» gründete. Daneben bestehen noch die alten, nicht reformierten Sekten, die rote Mützen tragen. Die Lamas bilden eine Hierarchie, an deren Spitze der Dalai-Lama, der geistliche und zugleich weltliche Herrscher Tibets, steht. Unter den tibetischen Lamas gab es und gibt es auch heute noch Gelehrte von reichem Wissen, die die in Sanskrit geschriebenen buddhistischen Werke sehr genau und sorgfältig ins Tibetische übersetzt haben. Da die ursprünglichen Fassungen dieser Werke zum Teil verloren oder noch nicht aufgefunden worden sind, so bilden die tibetischen Übersetzungen eine wichtige Quelle für die Kenntnis der buddhistischen Literatur. Der Kultus der Lamas erinnert an den der katholischen Kirche.
Näheres über die Geschichte und die heutigen Lebensformen
des Buddhismus findet man in dem oben genannten Werk H. von Glasenapps.
Abhängigkeitsverhältnisse, Kette der 70 ff., 79
Abhidhamma 73, 158
Abhidhammatthasangaha 159
Agni 14
Akâliko 148
Alara Kalama 22, 135
Amida, Amitabha, Amitayus 163, 166
Ananda 24, 52, 75, 77, 116, 124, 145, 155
Anâthapindika 152
Anattâ 47, 55, 56, 123;
siehe Nicht-Ich!
Angūttara-Nikāya 153, 156
Anuradhapura 118
Anuruddha 23, 100, 137, 140, 141, 155
Arahâ, Arhat 125, 164;
siehe Heiliger!
Ariyasavaka 148
Asoka 158
Astabhaga 66, 67
Atemübung 119 ff.
Atman 15, 16, 17
Avalokiteshvara 162
Avanti 25
Bedingtheit alles Entstehens 70 ff., 79
Benares 27, 32, 50, 144
Bewusstsein 37, 111
Bodhi 152, 162
Bodhibaum 22
Bodhisatta, Bodhisattva 162
Brahma 19, 108, 109, 110
Brahma Sahampati 23
Brahmajalasutta 153
Brahman 14 ff., 19
Brahmanen 12 ff., 18, 23, 30
Brihadaranyaka-Upanishad 66
Buddhaghosa 118
Bühler 20
Capala 116
Cetiyaberg 118
Channa 144, 145
Charakter, empirischer 50
Charakter, intelligibler 51
Chemie 45
Chulalongkorn 11
Cullavagga 152
Dalai-Lama 168
Delphi 50
Denken, Übung im höheren 127
Denkübung 43 ff., 122
Deussen 14
Deva 112
Devadatta 152, l53
Devatâ 112
Dhamma 57
Dhammadinna 23
Dhammapada 157
Digha-Nikāya 153
Dogmen 77
Dosa 101
Driesch 51
Dukkha 33
Durst 58, 60, 70, 78
Dutoit 153
Edle 139
Ehefrau 93
Einflüsse 129, 136, 139
Einmalwiederkehrer 140, 149
Einstein 130
Elemente 35, 44, 45, 48
Eltern 93
Empfindung 36
Entsagen 81 ff.
Ergreifen 37, 41
Erleuchtung, Vorstufen z. 114 ff.
Fesseln 138 ff.
Fleischspeisen 100
Franke 154, 155
Gebet 108, 112
Gebilde, die vier grossen 35, 44, 48
Gebirgskuh 127
Gebote 91
Gedanken-Betrachtung 46 ff.
Gefühle 46
Geiger 24, 148, 156
Gemeinnützigkeit 100
Gespenster 15, 68
Glasenapp 165, 168
Gleichmut 125, 128
Gosingawald 155
Gotama 20, 22, 52, 135
Götter 68, 108, 112, 116, 161
Gottesdienst 108
Govinda 159
Grimm 162
Grünwedel 20, 22
Gruppen des Ergreifens 35
Gujarat 24
Güte 101 ff., 125
Haas 71
Hackmann 166
Han 166
Hartmann, Anton 83
Hartmann, Otto 61
Hauptdenkübung 122
Heiliger 112, 117, 125, 140, 149, 164;
siehe Arahâ!
Heimstätten 100
Hemmnisse 119, 122
Himmelreich 68, 69
Hinayana 164
Hölle 15, 68, 69
Indra 14
Isipatana 144
Itivuttaka 157
Jacobi 20
Jaina 20, 95, 152
Jetavana 152
Jodosekte 166
Kaccana 23, 36, 37, 38, 40
Kaccanagotta 145
Kalama 156
Kali 98, 99
Kampf 113, 114 ff.
Kämpfer 117
Kant 40, 50, 51, 52, 53, 56, 135
Kapilavatthu 20
Karma 15, 55, 56, 62 ff., 66 ff.
Kassapa 23
Kathavatthu 158, 159
Kesaputta 30
Khandha 35
Khuddaka-Nikaya 153, 157
Khuddaka-Patha 157
Kimbila 100, 155
Kindererziehung 51
Komplexe 114
Konzil 124
Körper-Betrachtung 120
Körperliche Gestalt 35
Kosala 20, 24, 30
Kuan-yin 163
Kusinara 24
Kwannon 163
Lamaismus 167, 168
Leichenbetrachtung 45 ff.
Leerheit 132, 135 ff., 164
Licht 38, 39
Liszt 63
Lotussekte 166
Magadha, Magadhi 24, 25
Mahakaccana siehe Kaccana!
Mahakassapa 124
Mahanidanasutta 154
Mahaparinibbanasutta 153
Mahasanghika 57
Mahasatipatthanasutta 154
Mahatissa 118
Mahavagga 152
Mahayana 57, 164, 165
Maitreya 162
Majjhima-Nikaya 153, 154
Malunkyaputta 155
Marcus, Ernst 40
Merkmale- die drei 49
Metta 101 ff., 157
Metteyya 162
Mi-Sekte 167
Mitfreude 125
Mitleid 125
Moggalana 23, 152
Mogharaja 164
Mönchsorden 85
Much 157
Nandiya 100, 155
Nataputta 152
Nepal 24
Neumann 154, 155, 157, 158
Nicht-Ich 123; s. Anattâ
Nichtwiederkehrer 140, 149, 163
Nigantha 95
Nipata 155
Nirvana 62, 78, 141 ff.
Nyanatiloka 60, 74, 88, 119, 157, 158
Oldenberg 20, 158
Omito-Fo 163
Pali 24, 25
Pali-Kanon 11, 12, 19, 24, 151 ff.
Papanceti 38
Paticcasamuppada 70 ff., 79
Photonen 39
Pietät 95
Piprava 20
Pschel 11, 20, 24
Piya 83
Politik 88, 89
Prajapati 14, 15
Psychanalyse 114
Prakriti 16 ff.
Puggala-Pannatti 158
Purusha 16 ff.
Quantentheorie 39
Raga 101
Rahula 157
Rajagaha 124
Raumunendlichkeit 131
Reiche, die fünf 68
Relativitätstheorie 130, 131
Rhys Davids 11
Ritualismus 113
Sakramente 108
Sakya 20, 82,
Samanen 18, 30
Samurai 167
Samyutta-Nikaya 153, 155
Sankhara 35, 36, 49, 71, 72, 73, 79, 145, 146
Sankhya 16 ff.
Sanskrit 25
Sanskrit-Kanon 11
Sariputta 23, 140, 141, 152
Sarvastivadin 57
Savatthi 82, 98
Schakya 20
Schopenhauer 36, 51, 60
Schröder 157
Schweigen 89
Seelenwanderung 15, 59
Seidenstücker 63, 97, 157, 158, 162
Sekho 125
Selbsterziehung 51
Selbstmord 58, 59
Shinsekte 166
Shingonsekte 167
Siddhattha 20, 162
Siha 95, 152
Singalaka 93, 154
Sinne, sechs 71
Sokrates 19
Stromeintritt 138, 149
Subhadda 27
Subhuti 9, 23
Sudatta 140
Suddhodana 20
Sujata 138
Suttanipata 158
Sutta-Pitaka 153
Suzuki 167
Tarai 20
Taufe 18
Tendaisekte 167
Theragatha, Therigatha 158
Theravadin 73
Tientaisekte 166
Tissa Moggaliputta 158
Tschansekte 166
Tsonkhapa 167
Udana 157
Uddaka Ramaputta 22, 135
Unbeständigkeit 42
Upanischaden 14, 66
Uruvela 50
Vacchagotta 52, 155, 156
Vaihinger 39
Vairocana 165, 167
Vajrayana 165, 167
Varuna 14
Veda 14, 16, 17, 18
Vedehika 98, 99
Verbote 91
Vergeltung 63
Versenkungen 126 ff.
Vesali 95, 116
Vinaya-Pitaka 152
Visakha 82, 157
Vitakketi 38
Walleser 24
Wahrnehmung 36
Weisheit, Übung in höherer 126, 137
Wenzl 130
Wiedergeburt 59, 60‚ 68 ff.
Windisch 24
Yajnavalkya 66, 67
Yoga 17, 18, 135
Yogin 17
Zen-Sekten 167
Mahavagga
I, 6 42
I, 14 50
VI, 31 95, 100
Cullavagga
XI 124
Digha-Nikaya
I 69, 87, 88, 92
II 133
XI 108
XIV 27
XV 75
XVI 89, 112, 138, 148
XXII 43 ff.
XXXI 93
Majjhima-Nikaya
5 64, 65
12 68
18 37
21 98, 103
22 32, 54, 55
26 22, 115, 116
28 35
31 70, 100, 137
36 85, 128
38 29, 37
39 133
41 90
72 53, 54
95 31
99 85
109 41
117 28
121 135
125 84, 99
152 115
Samyutta-Nikaya
I, 20, 5 148
I, 47 100
III, 1, 4 62
VII, 1 97
XII, 44 78
XII, 62 48
XXII, 33 49
XXII, 82, 6 41, 42
XXII, 90 144
XXXVIII, 1 141
XLIV, 10 53
XLV, 8 89
LVI, 11 58
Anguttara-Nikaya
I, 6 - 8 95
III, 16 118
III, 28 86
111, 38 21
III, 65 30
III, 67 88
III, 81 - 88 126
III, 99 63
III, 128 140
III, 134 49
IV, 45 41
IV, 52 148
IV, 77 68
IV, 177 48
IV, 183 87
V, 177 90
IX, 34 142
IX, 35 127
Dhammapada
3 - 5 96
25, 26, 50, 103 97
127 62
131, 176 97
219, 220 62
223 97
277 - 279 41
Udana
I, 3 72, 79
I, 10 111, 143
II, 1 141
III, 10 59
IV, 1 107
VIII, 1- 4 143
VIII, 8 82
Suttanipata
I, 8 96
II, 14 99
V, 7 144
1119 164
Visuddhi-Magga 118
Manoratha-Purani 9