Majjhima Nikaya, Mittlere Sammlung

ERSTES HALBHUNDERT (Mūlapaṇṇāsam)

Zweiter Teil (Vaggo Dutiyo) - Buch des Löwenrufs (Sīhanādavaggo)

11. (II,1) Cūḷasīhanāda Sutta (Der Löwenruf)

 

DAS HAB'ICH GEHÖRT. Zu einer Zeit weilte der Erhabene bei Sāvatthī, im Sie­ger­walde, im Garten Anāthapindikos. Dort nun wandte sich der Erhabene an die Mön­che: "Ihr Mönche!" ‑ "Erlauchter!" antworteten da jene Mönche dem Erhabenen aufmerksam. Der Erhabene sprach also:

 

            "'Hier endlich, Mönche, findet man den Asketen, findet man den zweiten Asketen, den dritten Asketen und den vierten Asketen, ohne Verlangen nach Zank und Streit mit anderen Asketen': diesen echtesten Löwenruf, Mönche, lasset er­schallen.

 

            "Aber es könnte wohl sein, ihr Mönche, daß da andersfähr­tige Pilger also sprächen: 'Mit welchem Fug und Recht, ihr Ehrwürdigen, sprechet ihr also: `Hier endlich findet man den Asketen, findet man den zwei­ten Asketen, den dritten Asketen und den vierten Asketen, ohne Verlangen nach Zank und Streit mit anderen Asketen'?' Auf solche Rede andersfähr­tiger Pilger, ihr Mönche, wäre dies die Antwort:

            'Es hat uns, Brüder, der Erhabene, der Kenner, der Seher, der Heilige, vollkommen Erwachte vier Dinge erklärt, die wir nun innig verstehn, und darum sprechen wir also. Welche vier Dinge? Wir lieben, o Brü­der, den Meister, wir lieben die Lehre, wir er­füllen die Regel des Ordens, und Rechtschaffene sind uns wert und genehm, sowohl weltliche als geistliche. Das, ihr Brüder, sind die vier Dinge, die uns der Erhabene, der Kenner, der Seher, der Heilige, voll­kommen Erwachte er­klärt hat und die wir nun innig verstehn, und darum spre­chen wir also: `Hier endlich findet man den Asketen, findet man den zwei­ten Asketen, den dritten Asketen und den vierten Asketen, ohne Verlan­gen nach Zank und Streit mit anderen Asketen'.

 

            "Aber es könnte wohl sein, ihr Mönche, daß da anders­fährtige Pilger also sprächen: 'Auch wir, o Brüder, lie­ben den Meister, und der ist unser Meister, auch wir lieben die Lehre, und das ist unsere Lehre, auch wir erfüllen die Regel des Ordens, und das ist unsere Regel, auch uns sind Rechtschaffene wert und genehm, sowohl weltliche als geis­tliche; was für eine Beschränkung, ihr Brüder, was für Eigenart und Ver­schiedenheit be­steht da wohl zwischen euch und uns?' Auf solche Rede anders­fährtiger Pil­ger, ihr Mönche, wäre dies zu erwi­dern: 'Was meint ihr, Brüder: ist die Voll­kommenheit einzeln oder ist sie all­gemein?' Und die rechte Antwort anders­fährtiger Pilger, ihr Mönche, wäre: 'Einzeln, ihr Brüder, ist die Vollkommen­heit, nicht ist die Vollkommenheit allgemein.' 'Und diese Vollkommenheit Brüder: hat die der Gierige oder der Gierlose?' 'Und die rechte Antwort andersfährtiger Pilger, ihr Mönche, wäre: 'Der Gierlose, Brüder, nicht der Gierige.' 'Und diese Vollkommenheit, Brüder: hat die der Hassende oder der Haßlose?' Und die rechte Antwort andersfährtiger Pilger, ihr Mönche, wäre: 'Der Haßlose, Brüder, nicht der Hassende.' 'Und diese Voll­kommenheit, Brüder: hat die der Irrende oder der Irrlose?' Und die rechte Antwort anders­fährtiger Pilger, ihr Mönche, wäre: 'Der Irrlose, Brüder, nicht der Irrende.' 'Und diese Vollkommenheit, Brüder: hat die der noch Durs­tige oder der nicht mehr Durstige?' Und die rechte Antwort andersfährtiger Pilger, ihr Mönche, wäre: 'Der nicht mehr Durstige, Brüder, nicht der noch Durstige.' 'Und diese Vollkommenheit, Brüder: hat die der noch Anhangende oder der nicht mehr Anhangende?' Und die rechte Antwort andersfährtiger Pilger, ihr Mönche, wäre: 'Der nicht mehr Anhangende, Brüder, nicht der noch An­hangende.' 'Und diese Vollkommenheit, Brüder: hat die der Wissende oder der Unwissende?' Und die rechte Antwort andersfährtiger Pilger, ihr Mön­che, wäre: 'Der Wissen­de, Brüder, nicht der Unwissende.' 'Und diese Voll­kommenheit, Brüder: hat die ein bald Verzückter bald Verstimmter oder ein weder Verzückter noch Verstim­mter?' Und die rechte Antwort andersfähr­tiger Pilger, ihr Mönche, wäre: 'Der weder Verzückte noch Verstimmte, Brüder, dem Sonderheit behagt und Sonderheit gefällt, oder ist es der, dem keine Sonderheit behagt, keine Sonderheit ge­fällt?' Und die rechte Antwort andersfährtiger Pilger, ihr Mönche, wäre: 'Dem keine Sonderheit behagt, ihr Brüder, keine Sonderheit gefällt, der ist Voll­kommen, und nicht ist es der, dem Sonderheit behagt und Sonderheit gefällt.'

 

            "Zweierlei Ansichten sind das, ihr Mönche: die Ansicht vom Dasein und die Ansicht vom Nichtsein. Alle die Asketen oder Priester, ihr Mönche, die der Ansicht vom Dasein zugetan sind, der Ansicht vom Dasein huldigen, der Ansicht vom Dasein anhängen, die werden durch die Ansicht des Nichtseins verstimmt. Alle die Asketen oder Priester, ihr Mönche, die der Ansicht vom Nichtsein zu­getan sind, der Ansicht vom Nichtsein huldigen, der Ansicht vom Nichtsein an­hangen, die werden durch die Ansicht des Daseins ver­stimmt. Alle die Asketen oder Priester, ihr Mönche, die dieser zwei Ansichten Anfang und Ende, Lust und Leid und Überwindung nicht der Wirklichkeit gemäß verstehn, die gierigen, hassen­den, irrenden, noch durstigen, noch anhangenden, unwissenden, bald verzückten bald verstimmten, denen Sonderheit behagt und Sonderheit gefällt: die werden nicht erlöst von Geburt, Altern und Sterben, von Sorge, Kummer und Schmerz, Gram und Verzweiflung, werden nicht erlöst, sag' ich, vom Leiden. Aber alle die Asketen oder Priester, ihr Mönche, die dieser zwei Ansichten Anfang und Ende, Lust und Leid und Überwindung der Wirklichkeit gemäß ver­stehn, die gierlosen, haßlosen, irrlosen, die nicht mehr durstigen, nicht mehr anhan­genden, wissenden, weder verzückten noch verstimmten, denen keine Son­der­heit behagt, keine Sonderheit gefällt: die werden erlöst von Geburt, Altern und Sterben, von Sorge, Kummer und Schmerz, Gram und Verzweif­lung, werden er­löst, sag' ich, vom Leiden.

 

            "Vier Arten des Anhangens sind das, ihr Mönche: der Hang zur Lust, der Hang zur Ansicht, der Hang zu Tugendwerk, der Hang zur Selbstbehaup­tung. Es gibt manche Asketen und Priester, ihr Mönche, die sich fähig er­klären, alles Anhangen von Grund aus darzulegen; doch eine solche Darle­gung liefern sie nicht: sie untersuchen den Hang zur Lust, aber nicht den Hang zur Ansicht, aber nicht den Hang zu Tugendwerk, aber nicht den Hang zur Selbstbehauptung, und warum nicht? Jene lieben Asketen und Prie­ster haben eben diese drei Fälle nicht gebührend bedacht und können daher, wenn sie auch meinen, alles Anhangen von Grund aus zu verstehn, eine solche Untersuchung nicht führen. Es gibt manche Asketen und Priester, ihr Mön­che, die sich fähig erklären, alles An­hangen von Grund aus darzulegen; doch eine solche Darlegung liefern sie nicht: sie untersuchen den Hang zur Lust, untersuchen den Hang zur Ansicht, aber nicht den Hang zu Tugendwerk, aber nicht den Hang zur Selbstbehauptung, und warum nicht? Jene lieben Asketen und Priester haben eben diese zwei Fälle nicht gebührend bedacht und können daher, wenn sie auch meinen, alles Anhangen von Grund aus zu verstehn, eine solche Untersuchung nicht führen. Es gibt manche Asketen und Priester, ihr Mönche, die sich fähig erklären, alles An­hangen von Grund aus darzulegen; doch eine solche Darlegung liefern sie nicht: sie untersuchen den Hang zur Lust, untersuchen den Hang zur Ansicht, unter­suchen den Hang zu Tugendwerk, aber nicht den Hang zur Selbstbehauptung, und war­um nicht? Jene lieben Asketen und Priester haben eben diesen einen Fall nicht gebührend bedacht und können daher, wenn sie auch meinen, alles Anhangen von Grund aus zu verstehn, eine solche Untersuchung nicht führen.

 

            "In einer solchen Heilsordnung, ihr Mönche, kann die Liebe zum Meister nicht vollkommen sein, kann die Liebe zur Lehre nicht vollkommen sein, kann die Erfüllung der Regel nicht vollkommen sein, kann die Wert‑ und Genehm­haltung Rechtschaffener nicht vollkommen sein, und warum nicht? Die Sache, ihr Mönche, verhält sich eben so, wie's zu erwarten ist bei einer schlechtver­kün­deten Heilsordnung, bei einer schlechtdargelegten, abstoßen­den, Unruhe schaf­fenden, die kein vollkommen Erwachter kundgetan hat.

 

            "Doch der Vollendete, Mönche, der Heilige, vollkommen Erwachte erklärt sich fähig, alles Anhangen von Grund aus darzulegen, und er gibt eine solche Darlegung: er untersucht den Hang zur Lust, er untersucht den Hang zur An­sicht, er untersucht den Hang zu Tugendwerk, er untersucht den Hang zur Selbst­behauptung.

 

            "In einer solchen Heilsordnung, ihr Mönche, kann die Liebe zum Meister vollkommen sein, kann die Liebe zur Lehre vollkommen sein, kann die Er­füllung der Regel vollkommen sein, kann die Wert‑ und Genehmhaltung Rechtschaffener vollkommen sein, und warum das? Die Sache, ihr Mönche, verhält sich eben so, wie's zu erwarten ist bei einer wohlverkündeten Heils­ordnung, bei einer wohl­dargelegten, anziehenden, Ruhe schaffenden, die ein vollkommen Erwachter kund getan hat.

 

            "Aber dieses vierfache Anhangen, ihr Mönche, wo wurzelt das, woraus entspringt es, woraus entsteht es, woraus erwächst es? Dieses vierfache An­hangen wurzelt im Durst, entspringt aus dem Durst, entsteht aus dem Durst erwächst aus dem Durst. Und dieser Durst, ihr Mönche, wo wurzelt der, wor­aus entspringt er, woraus entsteht er, woraus erwächst er? Der Durst wur­zelt im Gefühl, entspringt aus dem Gefühl, entsteht aus dem Gefühl, erwächst aus dem Gefühl. Und dieses Gefühl, ihr Mönche, wo wurzelt das, woraus ent­springt es, woraus entsteht es, woraus erwächst es? Das Gefühl wurzelt in der Berührung, entspringt aus der Berührung, entsteht aus der Berührung, erwächst aus der Berührung. Und diese Berührung, ihr Mönche, wo wurzelt die, woraus entspringt sie, woraus entsteht sie, woraus erwächst sie? Die Be­rührung wurzelt im sechs­fachen Reich, entspringt aus dem sechsfachen Reich, entsteht aus dem sechsfa­ch­en Reich, erwächst aus dem sechsfachen Reich. Und dieses sechsfache Reich, ihr Mönche, wo wurzelt das, woraus entspringt es, woraus entsteht es, woraus erwächst es? Das sechsfache Reich wurzelt in Bild und Begriff, entspringt aus Bild und Begriff, entsteht aus Bild und Begriff, erwächst aus Bild und Be­griff. Und dieses Bild und Begriff, ihr Mönche, wo wurzelt das, woraus ent­springt es, woraus entsteht es, woraus erwächst es? Bild und Begriff wurzelt im Bewußtsein, entspringt aus dem Bewußtsein, ent­steht aus dem Bewußtsein, erwächst aus dem Bewußtsein. Und dieses Be­wußtsein, ihr Mönche, wo wurzelt das, woraus entspringt es, woraus ent­steht es, woraus erwächst es ? Das Be­wußt­sein wurzelt in den Unterschei­dungen, entspringt aus den Unterscheidungen, entsteht aus den Unterschei­dungen, erwächst aus den Unterscheidungen. Und diese Unterscheidungen, ihr Mönche, wo wurzeln die, woraus entspringen sie, woraus entstehn sie, woraus erwachsen sie? Die Unterscheidungen wurzeln im Nichtwissen, ent­springen aus dem Nichtwissen, entstehn aus dem Nichtwissen, erwachsen aus dem Nichtwissen.

 

            "Hat nun, ihr Mönche, ein Mönch das Nichtwissen verleugnet und das Wissen erworben: nichtwissensentfremdet und wissensvertraut haftet er nicht mehr am Hang zur Lust, nicht am Hang zur Ansicht, nicht am Hang zu Tugendwerk, nicht am Hang zur Selbstbehauptung. Ohne anzuhangen wird er nicht erschüttert. Unerschütterlich gelangt er eben bei sich selbst zur Erlöschung. 'Versiegt ist die Geburt, vollendet das Asketentum, gewirkt das Werk, nicht mehr ist diese Welt' versteht er da."

 

            Also sprach der Erhabene. Zufrieden freuten sich jene Mönche über das Wort des Erhabenen.


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