1. So habe ich gehört. Einmal hielt sich der Erhabene bei Sāvatthī im Jeta Hain, dem Park des Anāthapiṇḍika auf.
2. Als der ehrwürdige Māluṅkyāputta zu dieser Zeit allein in der Meditation weilte, erschien der folgende Gedanke in seinem Herzen:
"Diese spekulativen Ansichten sind vom Erhabenen nicht verkündet worden, sind von ihm verworfen und abgelehnt worden, nämlich:
Der Erhabene verkündet mir diese nicht, und ich billige und akzeptiere die Tatsache nicht, daß er sie mir nicht verkündet, also werde ich zum Erhabenen gehen und ihn nach der Bedeutung von diesem fragen. Wenn er mir verkündet, entweder
dann will ich das heilige Leben unter ihm führen; wenn er mir diese nicht verkündet, dann will ich die Übung aufgeben und zum niedrigen Leben zurückkehren."
3. Als es Abend war, erhob sich der ehrwürdige Māluṅkyāputta von der Meditation und ging zum Erhabenen. Nachdem er ihm gehuldigt hatte, setzte er sich seitlich nieder und sagte dieses zu ihm:
"Ehrwürdiger Herr, da erschien, als ich allein in der Meditation weilte, der folgende Gedanke in meinem Herzen: 'Diese spekulativen Ansichten sind vom Erhabenen nicht verkündet worden, sind von ihm verworfen und abgelehnt worden, nämlich:
Der Erhabene verkündet mir diese nicht, und ich billige und akzeptiere die Tatsache nicht, daß er sie mir nicht verkündet, also werde ich zum Erhabenen gehen und ihn nach der Bedeutung von diesem fragen. Wenn er mir verkündet, entweder
dann will ich das heilige Leben unter ihm führen; wenn er mir diese nicht verkündet, dann will ich die Übung verlassen und zum niedrigen Leben zurückkehren.'
4. "Wie ist das, Māluṅkyāputta, habe ich jemals zu dir gesagt: 'Komm, Māluṅkyāputta, führe das heilige Leben unter mir und ich werde dir verkünden
"Nein, ehrwürdiger Herr." - "Hast du jemals zu mir gesagt: 'Ich werde das heilige Leben unter dem Erhabenen führen, und der Erhabene wird mir verkünden
"Nein, ehrwürdiger Herr." - "Nachdem das so ist, fehlgeleiteter Mann, wer bist du, und was verkündest du so vorlaut?"
5. "Wenn irgendjemand sagen sollte: 'Ich werde das heilige Leben unter dem Erhabenen nicht eher führen, als der Erhabene mir verkündet
so würde das dennoch vom Tathāgata unverkündet bleiben, und mittlerweile würde jene Person sterben. Angenommen, Māluṅkyāputta, ein Mann wäre von einem Pfeil, der dick mit Gift bestrichen war, verwundet worden, und seine Freunde und Gefährten, seine Angehörigen und Verwandten brächten einen Wundarzt herbei, um ihn zu behandeln. Der Mann würde sagen: 'Ich werde nicht zulassen, daß der Wundarzt diesen Pfeil herauszieht, bis ich weiß, ob der Mann, der mich verwundet hat, ein Adeliger oder ein Brahmane oder ein Händler oder ein Arbeiter war.' Und er würde sagen: 'Ich werde nicht zulassen, daß der Wundarzt diesen Pfeil herauszieht, bis ich den Namen und die Familie des Mannes, der mich verwundet hat, weiß.' Und er würde sagen: 'Ich werde nicht zulassen, daß der Wundarzt diesen Pfeil herauszieht, bis ich weiß, ob der Mann, der mich verwundet hat, groß, klein oder von mittlerer Größe war.' Und er würde sagen: 'Ich werde nicht zulassen, daß der Wundarzt diesen Pfeil herauszieht, bis ich weiß, ob der Mann, der mich verwundet hat, von schwarzer, brauner oder gelber Hautfarbe war.' Und er würde sagen: 'Ich werde nicht zulassen, daß der Wundarzt diesen Pfeil herauszieht, bis ich weiß, ob der Mann, der mich verwundet hat, in diesem oder jenem Dorf, dieser oder jener Kleinstadt oder Großstadt lebt.' Und er würde sagen: 'Ich werde nicht zulassen, daß der Wundarzt diesen Pfeil herauszieht, bis ich weiß, ob der Bogen, der mich verwundet hat, ein Langbogen oder ein Querbogen war.' Und er würde sagen: 'Ich werde nicht zulassen, daß der Wundarzt diesen Pfeil herauszieht, bis ich weiß, ob die Bogensehne, die mich verwundet hat, aus Fasern oder Schilf oder Sehne oder Hanf oder Rinde war.' Und er würde sagen: 'Ich werde nicht zulassen, daß der Wundarzt diesen Pfeil herauszieht, bis ich weiß, ob der Pfeilschaft, der mich verwundet hat, wild gewachsen oder angebaut war.' Und er würde sagen: 'Ich werde nicht zulassen, daß der Wundarzt diesen Pfeil herauszieht, bis ich weiß, mit welcher Sorte Federn der Pfeilschaft, der mich verwundet hat, ausgestattet war - ob mit den Federn eines Geiers oder einer Krähe oder eines Habichts oder eines Pfaus oder eines Storchs.' Und er würde sagen: 'Ich werde nicht zulassen, daß der Wundarzt diesen Pfeil herauszieht, bis ich weiß, mit was für einer Sehne der Schaft, der mich verwundet hat, zusammengebunden war - ob mit der Sehne eines Ochsen oder eines Büffels oder eines Löwen oder eines Affen.' Und er würde sagen: 'Ich werde nicht zulassen, daß der Wundarzt diesen Pfeil herauszieht, bis ich weiß, welche Sorte Pfeilspitze es war, die mich verwundet hat - ob sie hufförmig oder gebogen oder mit Widerhaken oder kalbszahnartig oder oleanderartig war.' All dies würde dem Mann dennoch nicht bekannt sein und mittlerweile würde er sterben. Ebenso, Māluṅkyāputta, wenn irgendjemand sagen sollte: 'Ich werde das heilige Leben unter dem Erhabenen nicht eher führen, als der Erhabene mir verkündet
so würde das dennoch vom Tathāgata unverkündet bleiben, und mittlerweile würde jene Person sterben."
6. " Māluṅkyāputta, wenn die Ansicht besteht 'die Welt ist ewig', kann das heilige Leben nicht gelebt werden; und wenn die Ansicht besteht 'die Welt ist nicht ewig', kann das heilige Leben nicht gelebt werden. Ob nun die Ansicht besteht 'die Welt ist ewig' oder die Ansicht 'die Welt ist nicht ewig', es gibt Geburt, es gibt Altern, es gibt Tod, es gibt Kummer, Klagen, Schmerz, Trauer und Verzweiflung, deren Vernichtung ich hier und jetzt erkläre [1]."
"Wenn die Ansicht besteht 'die Welt ist endlich', kann das heilige Leben nicht gelebt werden; und wenn die Ansicht besteht 'die Welt ist unendlich', kann das heilige Leben nicht gelebt werden. Ob nun die Ansicht besteht 'die Welt ist endlich' oder die Ansicht 'die Welt ist unendlich', es gibt Geburt, es gibt Altern, es gibt Tod, es gibt Kummer, Klagen, Schmerz, Trauer und Verzweiflung, deren Vernichtung ich hier und jetzt erkläre."
"Wenn die Ansicht besteht 'die Seele ist das gleiche wie der Körper', kann das heilige Leben nicht gelebt werden; und wenn die Ansicht besteht 'die Seele ist eine Sache und der Körper eine andere', kann das heilige Leben nicht gelebt werden. Ob nun die Ansicht besteht 'die Seele ist das gleiche wie der Körper' oder die Ansicht 'die Seele ist eine Sache und der Körper eine andere', es gibt Geburt, es gibt Altern, es gibt Tod, es gibt Kummer, Klagen, Schmerz, Trauer und Verzweiflung, deren Vernichtung ich hier und jetzt erkläre."
"Wenn die Ansicht besteht 'ein Tathāgata existiert nach dem Tode', kann das heilige Leben nicht gelebt werden; und wenn die Ansicht besteht 'ein Tathāgata existiert nach dem Tode nicht', kann das heilige Leben nicht gelebt werden. Ob nun die Ansicht besteht 'ein Tathāgata existiert nach dem Tode' oder die Ansicht 'ein Tathāgata existiert nach dem Tode nicht', es gibt Geburt, es gibt Altern, es gibt Tod, es gibt Kummer, Klagen, Schmerz, Trauer und Verzweiflung, deren Vernichtung ich hier und jetzt erkläre."
"Wenn die Ansicht besteht 'sowohl existiert ein Tathāgata nach dem Tode, als auch existiert er nicht', kann das heilige Leben nicht gelebt werden; und wenn die Ansicht besteht 'weder existiert ein Tathāgata nach dem Tode, noch existiert er nicht', kann das heilige Leben nicht gelebt werden. Ob nun die Ansicht besteht 'sowohl existiert ein Tathāgata nach dem Tode, als auch existiert er nicht' oder die Ansicht 'weder existiert ein Tathāgata nach dem Tode, noch existiert er nicht', es gibt Geburt, es gibt Altern, es gibt Tod, es gibt Kummer, Klagen, Schmerz, Trauer und Verzweiflung, deren Vernichtung ich hier und jetzt erkläre."
"Daher, Māluṅkyāputta, betrachte das, was von mir nicht verkündet worden ist, als nicht verkündet, und betrachte das, was von mir verkündet wurde, als verkündet. Und was ist von mir nicht verkündet worden? 'Die Welt ist ewig' ist von mir nicht verkündet worden. 'Die Welt ist nicht ewig' ist von mir nicht verkündet worden. 'Die Welt ist endlich' ist von mir nicht verkündet worden. 'Die Welt ist unendlich' ist von mir nicht verkündet worden. 'Die Seele ist das gleiche wie der Körper' ist von mir nicht verkündet worden. 'Die Seele ist eine Sache und der Körper eine andere' ist von mir nicht verkündet worden. 'Ein Tathāgata existiert nach dem Tode' ist von mir nicht verkündet worden. 'Ein Tathāgata existiert nach dem Tode nicht' ist von mir nicht verkündet worden. 'Sowohl existiert ein Tathāgata nach dem Tode, als auch existiert er nicht' ist von mir nicht verkündet worden. 'Weder existiert ein Tathāgata nach dem Tode, noch existiert er nicht' ist von mir nicht verkündet worden."
8. "Warum habe ich jenes unverkündet gelassen? Weil es nicht förderlich ist, weil es nicht zu den Grundlagen des heiligen Lebens gehört, weil es nicht zur Ernüchterung, zur Lossagung, zum Aufhören, zum Frieden, zur höheren Geisteskraft, zur Erleuchtung, zu Nibbāna führt. Deswegen ist es von mir nicht verkündet worden."
9. "Und was ist von mir verkündet worden? 'Dies ist Dukkha' ist von mir verkündet worden. 'Dies ist der Ursprung von Dukkha' ist von mir verkündet worden. 'Dies ist das Aufhören Dukkha' ist von mir verkündet worden. 'Dies ist der Weg, der zum Aufhören von Dukkha führt' ist von mir verkündet worden."
10. Warum ist jenes von mir verkündet worden? Weil es förderlich ist, weil es zu den Grundlagen des heiligen Lebens gehört, weil es zur Ernüchterung, zur Lossagung, zum Aufhören, zum Frieden, zur höheren Geisteskraft, zur Erleuchtung, zu Nibbāna führt. Deswegen ist es von mir verkündet worden."
"Daher, Māluṅkyāputta, nimm das, was ich unverkündet gelassen habe, als unverkündet hin, und nimm das, was ich verkündet habe, als verkündet hin."
Das ist es, was der Erhabene sagte. Der ehrwürdige Māluṅkyāputta war zufrieden und entzückt über die Worte des Erhabenen [2].
Anmerkungen:
[1] Ganz abgesehen davon, daß die Beantwortung dieser Fragen nichts zur Vernichtung von Dukkha beitragen würde, kann man getrost davon ausgehen, daß die Denkkategorien, aus denen diese Fragen entstehen, die Wirklichkeit nicht erfassen können. Wenn man ein zyklisches Universum annimmt, von dem der Buddha ja auch ständig spricht, wenn er die Erinnerung an frühere Leben beschreibt, dann machen Begriffe wie "ewig" und "nicht ewig" keinen Sinn. Wenn das Universum expandiert und kontrahiert, verlieren Begriffe wie "endlich" und "unendlich" ihre Bedeutung. Die Frage nach der Existenz des Tathāgata (oder Arahants) nach dem Tode hat der Buddha in mehreren anderen Lehrreden zurückgewiesen und durch die Darlegung der bedingten Entstehung ersetzt. Interessanterweise machte der Buddha in der Brahmajāla Sutta (D1) klar, daß auch meditatives Erleben nicht vor spekulativer falscher Ansicht schützt. Das einzige Gegenmittel gegen das Verirren im Dschungel der Ansichten ist Richtige Ansicht.
[2] Eine nette Anmerkung von BB: Jene, die sich fragen, was wohl aus dem Mönch wurde, der beinahe den Buddha verließ, um seine metaphysische Neugier zu stillen, werden froh sein, wenn sie erfahren, daß Māluṅkyāputta im Alter vom Buddha eine kurze Lehrrede über die sechs Sinnesgrundlagen erhielt, sich zur Meditation zurückzog und Arahantschaft erlangte. Vgl. S35:97/IV.72-76. Seine Verse stehen in Thag 399-404 und 794-817.