So habe ich es gehört:
Als der Erhabene einst in Anāthapindikas Bhikkhuheim im Jetahain bei Sāvatthi weilte, sprach der ehrwürdige Sāriputta zu den Bhikkhus:
«Rechte Einsicht sagt man. Wie hat ein Edeljünger[1] rechte Einsicht, wie ist seine Einsicht auf dem rechten Wege, wie hat er volles Vertrauen zur Buddhalehre, wie hat er die gute Lehre ganz begriffen?»
«Von weit her würden wir kommen, um vom ehrwürdigen Sāriputta eine Darlegung darüber zu vernehmen. Bitte, gebt uns eine solche Darlegung! Wenn wir sie gehört haben, wollen wir sie im Gedächtnis behalten.»
«So höret gut zu und denkt darüber nach!
Wenn ein Edeljünger erkennt, was unheilsam ist, und die Wurzel des Unheilsamen, wenn er erkennt, was heilsam ist, und die Wurzel des Heilsamen, dann hat er rechte Einsicht. Unheilsam ist Töten, Stehlen, Unkeuschheit, Lügen, Verleumden, Schimpfen, Schwatzen, Habsucht, Bosheit, falsche Ansicht. Die Wurzeln des Unheilsamen sind Begierde, Haß und Verblendung. Heilsam ist Nicht-Töten, Nicht-Stehlen, Keuschheit, Nicht-Lügen, Nicht-Verleumden, Nicht-Schimpfen, Nicht-Schwatzen, Freigebigkeit, Güte, rechte Einsicht. Die Wurzel des Heilsamen ist Freisein von Begierde, von Haß und Verblendung. Wenn ein Edeljünger dies erkennt, legt er die Neigung zu leidenschaftlichen Wünschen ab, vertreibt er die Neigung zum Widerstreben, befreit er sich von dem Ich-bin-Wahn, überwindet er Unwissenheit, läßt er Wissen entstehen und macht noch in diesem Leben dem Leiden ein Ende. So hat ein Edeljünger rechte Einsicht.»
Darauf fragten die Bhikkhus, ob es noch eine andere Erklärung für rechte Einsicht gebe, und Sāriputta antwortete:
«Ja. Erkennt ein Edeljünger die Ernährung, den Ursprung der Ernährung, das Aufhören der Ernährung und den zum Aufhören der Ernährung führenden Weg, so hat er rechte Einsicht. Es gibt vier Arten von Ernährung, die den entstandenen Wesen zur Erhaltung oder den entstehenden zur Stütze dient: Essen und Trinken, zweitens Berührung, drittens Begriffsbildung, viertens Bewußtwerden. Der Ursprung der Ernährung liegt im Durst oder Lebenstrieb. Hört der Durst auf, so hört die Ernährung auf. Der zum Aufhören der Ernährung führende Weg ist dieser edle achtfache Pfad: rechte Einsicht, rechte Gesinnung, rechtes Reden, rechtes Tun, rechter Lebenserwerb, rechte Bemühung oder Schulung des Denkens, rechte Andacht und rechte Geistessammlung. Wenn ein Edeljünger dies erkennt, macht er noch in diesem Leben dem Leiden ein Ende. So hat ein Edeljünger rechte Einsicht.»
Wieder fragten die Bhikkhus, ob es noch eine andere Erklärung für rechte Einsicht gebe[2], und Sāriputta antwortete:
«Ja. Erkennt ein Edeljünger, was das Übel ist, den Ursprung des Übels, das Aufhören des Übels und den zum Aufhören des Übels führenden Weg, so hat er rechte Einsicht. Geburt ist übel, Altern ist übel, Krankheit ist übel, Sterben ist übel, Kummer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung sind übel. Der Ursprung des Übels ist der Durst oder Lebenstrieb, der zur Wiedergeburt führt, von Wohlgefallen und Lust begleitet ist und bald hier, bald dort Befriedigung findet, der Durst nach sinnlicher Lust, der Durst nach Leben, der Durst nach Selbstabtötung. Dieses Durstes völliges Aufgeben, Vernichten, Verwerfen, Ablegen und Vertreiben ist das Aufhören des Übels. Der zum Aufhören des Übels führende Weg ist dieser edle achtfache Pfad: rechte Einsicht, rechte Gesinnung, rechtes Reden, rechtes Tun, rechter Lebenserwerb, rechte Bemühung oder Schulung des Denkens, rechte Andacht und rechte Geistessammlung Wenn ein Edeljünger dies erkennt, macht er noch in diesem Leben dem Leiden ein Ende. So hat er rechte Einsicht.
Erkennt ein Edeljünger Altern und Sterben, den Ursprung von Altern und Sterben, das Aufhören von Altern und Sterben und den zum Aufhören von Altern und Sterben führenden Weg, so hat er rechte Einsicht. Altern heißt bei den Wesen der verschiedenen Klassen das Alt- und Hinfälligwerden mit Verlust der Zähne, mit Ergrauen der Haare, mit Runzligwerden der Haut, das Schwinden der Lebenszeit und das Stumpfwerden der Sinne. Sterben heißt bei den Wesen der verschiedenen Klassen das Hinscheiden, Dahingehen, Zerfallen, Umkommen, Absterben, aus dem Leben scheiden, das Auseinanderfallen der Daseinsgruppen, die Auflösung des Körpers. Das heißt Altern und Sterben. Der Ursprung von Altern und Sterben liegt in der Geburt. Hört die Geburt auf, so hören Altern und Sterben auf. Der zum Aufhören von Altern und Sterben führende Weg ist der edle achtfache Pfad.
Geburt heißt bei den Wesen der verschiedenen Klassen das Inslebentreten, Erscheinen, Geborenwerden, das Auftreten der Daseinsgruppen, das Aufnehmen der Sinnesgebiete. Der Ursprung der Geburt liegt im Leben. Hört Leben auf, so hört Geburt auf. Der zum Aufhören von Geburt führende Weg ist der edle achtfache Pfad.
Beim Leben sind drei Arten zu unterscheiden: Leben mit Sinnenlust, Leben im Sichtbaren (ohne Sinnenlust), Leben im Unsichtbaren[3]. Der Ursprung des Lebens liegt im Ergreifen und Haften. Hört Ergreifen und Haften auf, so hört Leben auf. Der zum Aufhören des Lebens führende Weg ist der edle achtfache Pfad.
Beim Ergreifen und Haften sind vier Arten zu unterscheiden: das Haften an Sinnenlust, das Haften an Theorien und Dogmen, das Haften an rituellen Handlungen, das Haften am Ich-Glauben. Der Ursprung des Ergreifens und Haftens liegt im Durst oder Lebenstrieb. Hört der Durst auf, so hört Ergreifen und Haften auf. Der zum Aufhören des Ergreifens und Haftens führende Weg ist der edle achtfache Pfad.
Beim Durst sind sechs Arten zu unterscheiden: Durst nach sichtbaren Gestalten, Durst nach Tönen, Durst nach Düften, Durst nach Säften, Durst nach Tastbarem, Durst nach Denkvorstellungen. Der Ursprung des Durstes liegt im Gefühl[4]. Hört Gefühl auf, so hört Durst auf. Der zum Aufhören des Durstes führende Weg ist der edle achtfache Pfad.
Bei der Empfindung sind sechs Arten zu unterscheiden: aus Sehberührung entstehende Empfindung, aus Hörberührung entstehende Empfindung, aus Riechberührung entstehende Empfindung, aus Schmeckberührung entstehende Empfindung, aus Tastberührung entstehende Empfindung, aus Denkberührung entstehende Empfindung. Der Ursprung von Empfindung und Gefühl liegt in der Berührung. Hört Berührung auf, so hören Empfindung und Gefühl auf. Der zum Aufhören von Empfindung und Gefühl führende Weg ist der edle achtfache Pfad.
Bei der Berührung sind sechs Arten zu unterscheiden: Sehberührung, Hörberührung, Riechberührung, Schmeckberührung, Tastberührung, Denkberührung. Der Ursprung der Berührung liegt in den sechs Sinnen. Hören die sechs Sinne auf, so hört Berührung auf. Der zum Aufhören der Berührung führende Weg ist der edle achtfache Pfad.
[Die sechs Sinne sind Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten, Denken. Der Ursprung der sechs Sinne liegt im lebendigen Organismus. Hört der lebendige Organismus auf, so hören die sechs Sinne auf. Der zum Aufhören der sechs Sinne führende Weg ist der edle achtfache Pfad.
Beim lebendigen Organismus besteht das Geistige aus Empfinden, Wahrnehmen, Wollen, Berühren und Aufmerken, und das Körperliche aus den vier Elementen. Der Ursprung des lebendigen Organismus liegt im Bewußtsein. Hört Bewußtsein auf, so hört der lebendige Organismus auf. Der zum Aufhören des lebendigen Organismus führende Weg ist der edle achtfache Pfad.
Beim Bewußtsein sind sechs Arten zu unterscheiden: Sehbewußtsein, Hörbewußtsein, Riechbewußtsein, Schmeckbewußtsein, Tastbewußtsein, Denkbewußtsein. Der Ursprung des Bewußtseins liegt in den unbewußten gestaltenden Vorgängen. Hören diese auf, so hört Bewußtsein auf. Der zum Aufhören des Bewußtseins führende Weg ist der edle achtfache Pfad.
Bei den unbewußten gestaltenden Vorgängen sind drei Arten zu unterscheiden: körperliche, sprachliche und geistige unbewußte gestaltende Vorgänge. Der Ursprung der unbewußten gestaltenden Vorgänge liegt in der Unwissenheit. Hört Unwissenheit auf, so hören die unbewußten gestaltenden Vorgänge auf. Der zu ihrem Aufhören führende Weg ist der edle achtfache Pfad.
Unwissenheit heißt Unkenntnis des Übels, des Ursprungs des Übels, des Aufhörens des Übels und des zum Aufhören des Übels führenden Weges. Der Ursprung der Unwissenheit liegt in den Anwandlungen[6]. Hören die Anwandlungen auf, so hört Unwissenheit auf. Der zum Aufhören der Unwissenheit führende Weg ist der edle achtfache Pfad.]
Drei Arten von Anwandlungen gibt es: Anwandlungen der Sinnenlust, Anwandlungen der Daseinslust und Anwandlungen der Unwissenheit, der Ursprung der Anwandlungen liegt in der Unwissenheit. Hört Unwissenheit auf, so hören die Anwandlungen auf. Der zum Aufhören der Anwandlungen führende Weg ist der edle achtfache Pfad.
Wenn ein Edeljünger dies erkennt, legt er die Neigung zu leidenschaftlichen Wünschen ab, vertreibt er die Neigung zum Widerstreben, befreit er sich vom Ich-bin-Dünkel, überwindet er Unwissenheit, läßt er Wissen entstehen und macht noch in diesem Leben dem Leiden ein Ende. So hat ein Edeljünger rechte Einsicht, so ist seine Einsicht auf dem rechten Wege, so hat er volles Vertrauen zur Buddhalehre, so hat er die gute Lehre ganz begriffen.»
So sprach der ehrwürdige Sāriputta. Die Bhikkhus nahmen seine Darlegung mit Freude und Dank an.
[1]ariyasāvaka, <Hörer oder Schüler oder Jünger der Edlen., ist die Bezeichnung eines Buddhajüngers, der sich auf dem Wege zur Heiligkeit befindet. Da es ein Fachausdruck ist, empfiehlt sich im Deutschen die genaue Nachbildung des Compositums.
[2]Die Frage der Bhikkhus wird im Folgenden nach jeder Antwort Sariputtas wiederholt, aber in der Übersetzung weggelassen.
[3]Diese Dreiteilung findet sich zuerst bei Sariputta, während Buddha mit zwei Daseinsarten lehrte: das Sichtbare und das Unsichtbare.
[4]vedanā bedeutet sowohl Gefühl als auch Empfindung und muß je nach dem Zusammenhang so oder so übersetzt werden. Im ersten Falle handelt es sich um Gefühl: Lust- oder Unlust- oder Neutralgefühl; im zweiten Falle um Empfindungen der Sinne.
[6]Über Anwandlungen siehe das 2. Sutta und die Anmerkungen dazu.