Majjhima Nikāya, Mittlere Sammlung

ZWEITER TEIL: DIE MITTLEREN FÜNFZIG - Majjhimapannāsam

VI. BUCH: HAUSHERREN - Gahapativaggo

 

51. Kandaraka Sutta

 

So habe ich es gehört:

Einst weilte der Erhabene mit einer großen Schar Bhikkhus am Lotusteich Gāggara bei Campa. Da kamen der Elefantenreiter Pessa und der Wandermönch Kāndaraka zum Erhabenen. Pessa begrüßte Ihn und setzte sich zu ihm, Kāndaraka sprach die üblichen Grußworte und blieb stehen. Angesichts der schweigenden Bhikkhuversammlung sagte Kāndaraka zum Erhabenen: «Es ist erstaunlich, wie gut Herr Gotama die Bhikkhugemeinde leitet. Ebenso vorzüglich haben frühere heilige Vollerwachte ihre Bhikkhugemeinde geleitet, und ebenso vorzüglich werden auch künftige heilige Vollerwachte ihre Bhikkhugemeinde leiten.»

«So ist es, Kāndaraka», erwiderte der Erhabene und sprach weiter: «In dieser Bhikkhugemeinde gibt es Heilige, welche die Daseinsfesseln gesprengt haben und durch rechtes Wissen erlöst sind, und Strebende, die immer die Sittenregeln befolgen, weise leben und die Achtsamkeit[1] üben, indem sie eifrig, wissensklar und besonnen alle weltlichen Wünsche und Sorgen vertreiben.» Darauf sagte Pessa: «Es ist erstaunlich, wie gut der Erhabene die Achtsamkeitsübung erklärt hat, die zur Läuterung der Wesen, zur Überwindung von Kummer und Jammer, zum Schwinden von Leid und Mißstimmung, zur Gewinnung des rechten Pfades und zur Verwirklichung des Nirwana führt. Auch wir, die wir in unserer Häuslichkeit leben und uns weiß kleiden üben von Zeit zu Zeit die Achtsamkeit. Es ist erstaunlich, wie der Erhabene bei der Unaufrichtigkeit und Verstocktheit der Menschen doch erkennt, was den Wesen wohltut und was ihnen schadet. Denn unaufrichtig ist der Mensch, offen ist das Tier. Ich kann mich an einen Elefanten erinnern, den ich abrichtete: jedesmal wenn er durch die Straßen von Campa geht, offenbart er alle seine List und Tücke; aber unsere Knechte, Boten und Arbeiter handeln anders als sie reden und reden anders als sie denken.» - «So ist es, Pessa», erwiderte der Erhabene, «unaufrichtig ist der Mensch, offen ist das Tier.

Vier Arten von Menschen gibt es in der Welt: die einen quälen sich selbst, die zweiten quälen andere, die dritten quälen sich selbst und andere, die vierten quälen weder sich selbst noch andere. Diese letzten sind schon in diesem Leben begierdelos, erloschen, abgekühlt, glücklich, weil sie heilig geworden sind. Welche von diesen Menschenarten gefällt dir, Pessa?» - «Die Menschen, die weder sich selbst noch andere quälen, gefallen mir.» - «Warum gefallen dir diese?» - «Jeder wünscht Wohlsein und verabscheut Leiden; darum gefallen mir die nicht, die sich selbst oder andere oder sich selbst und andere quälen. Mir gefallen die, welche weder sich selbst noch andere quälen, weil sie begierdelos, erloschen, kühl geworden, glücklich und heilig sind. Nun aber will ich gehen, ich habe noch viel zu tun.» - «Bitte, tue was dir beliebt, Pessa!» Befriedigt von den Worten des Erhabenen stand Pessa auf, umwandelte den Erhabenen und ging fort.

Bald nachdem Pessa gegangen war, sprach der Erhabene zu den Bhikkhus: «Pessa ist klug und sehr weise. Wenn er noch ein Weilchen sitzen geblieben wäre, bis ich ihm die vier Menschenarten ausführlich erklärt hätte, wäre er mit großem Gewinn fortgegangen. Aber auch ohnedies hat Pessa großen Gewinn.»

Nun baten die Bhikkhus den Erhabenen, ihnen die vier Menschenarten ausführlich zu erklären, und der Erhabene sprach:

Ein Mensch, der sich selbst quält, ist derjenige, der nackt geht und andere Selbstquälerei nach mancherlei Asketenregeln übt[2].

Ein Mensch, der andere quält, ist derjenige, der ein grausames Gewerbe treibt, zum Beispiel als Schaf- oder Schweineschlächter, als Vogelsteller, als Jäger, als Fischer, als Räuber, als Henker, als Kerkermeister. Ein Mensch, der sich selbst und andere quält, ist ein König oder ein adliger Herr mit gesalbtem Haupt oder ein reicher Brahmane, der, wenn er im Osten der Stadt ein neues Ratsgebäude errichten ließ, sich Haar und Bart scheren läßt, sich mit einem rauhen Fell bekleidet, seinen Leib mit Butteröl salbt und, indem er sich den Rücken mit einem Hirschhorn reibt, zusammen mit seiner Hauptgemahlin und dem Hofkaplan in das Ratsgebäude eintritt. Dort setzt er sich im offenen Hof auf grünen Rasen nieder. Von einer Kuh, die ein ihr ähnliches Kalb hat, wird die Milch aus der einen Zitze dem König gereicht, die Milch aus der zweiten der Königin, die aus der dritten dem Hofkaplan, die Milch aus der vierten opfert man dem Feuer, und was übrig bleibt, erhält das Kalb. Er befiehlt, daß so viele Stiere, so viele Kälber, so viele Ziegen und so viele Widder für das Opfer geschlachtet, so viele Bäume für die Opferpfähle gefällt und so viele Grasbündel für das Opfergras geschnitten werden sollen. Seine Knechte und Arbeiter gehen aus Furcht vor Strafe mit Tränen in den Augen und weinend an die Arbeit. Von einem solchen Menschen sagt man, daß er sich und andere quält.

Einen Menschen, der weder sich selbst noch andere quält, gibt es, wenn ein Vollendeter in der Welt erscheint, ein Vollerwachter, ein Buddha, der diese Welt gründlich kennt und durchschaut, der die Lehre verkündet, die am Anfang, in der Mitte und am Ende gut ist, und den vollkommen reinen Lebenswandel lehrt. Ihn hört ein Hausherr oder sein Sohn oder ein Mann aus einer anderen Familie, faßt Vertrauen zum Vollendeten und bedenkt, daß das Leben in der Häuslichkeit voll Bedrängnis und Unreinheit ist, während der Weltverzicht ins Freie führt, und daß man, wenn man im Hause lebt, nicht leicht einen ganz reinen Lebenswandel führen kann. Nach einiger Zeit gibt er seinen kleinen oder großen Besitz auf, verläßt seinen kleinen oder großen Verwandtenkreis, läßt sich Haar und Bart scheren, legt ein gelbes Gewand an und geht aus dem Hause in die Heimatlosigkeit. Ist er Bhikkhu geworden, so nimmt er die Ordensregeln auf sich, verletzt keine lebenden Wesen, verzichtet auf Stock und Waffe, lebt zurückhaltend und voll Mitgefühl, nur bedacht auf das Wohl aller lebenden Wesen. Er nimmt nichts, was ihm nicht gegeben wird; nur was ihm gegeben wird, nimmt er, er wartet ab, ob ihm etwas gegeben wird, ohne diebische Absicht und mit reinem Gewissen. Er meidet Unkeuschheit, führt einen reinen Lebenswandel und verzichtet auf Geschlechtsverkehr, der gemein macht. Er meidet Lüge, redet die Wahrheit, ist ehrlich, vertrauenswürdig und täuscht niemanden in der Welt. Er meidet üble Nachrede. Was er hier gehört hat, erzählt er dort nicht weiter, um jene zu entzweien; was er dort gehört hat, erzählt er hier nicht weiter, um diese zu entzweien; vielmehr einigt er die Entzweiten, festigt die Verbundenen, erfreut sich an Eintracht, spricht Eintracht fördernde Worte. Er meidet rohe Rede, er spricht nur untadelige Worte, die dem Ohre wohltun, liebenswürdige, zu Herzen gehende, gesittete, die jedermann erfreuen. Er meidet leeres Geschwätz, er spricht nur zur rechten Zeit, den Tatsachen gemäß, dem Zweck entsprechend, er spricht über die Lehre und die Ordensregeln. Die Worte, die er spricht, sind wert, behalten zu werden, sie sind, wo es darauf ankommt, bilderreich, fein unterscheidend, sinngemäß. Er beschädigt keine Saaten und Pflanzungen, er speist nur einmal am Tage, nicht am Abend, nicht zu unrechter Zeit, er besucht keine Tanz-, Sing- und Theateraufführungen, schmückt sich nicht mit Kränzen, Wohlgerüchen und Salben, schläft nicht in hohen und üppigen Betten. Gold und Silber nimmt er nicht an, rohes Getreide und rohes Fleisch nimmt er nicht an. Er berührt keine Frauen und Mädchen, hält keine Dienerinnen und Diener, keine Ziegen und Schafe, keine Hühner und Schweine, keine Elefanten, Rinder und Pferde, erwirbt keinen Grundbesitz, übernimmt keine Botengänge, betreibt keine Handelsgeschäfte; er meidet falsches Maß und Gewicht, Bestechung, Täuschung und Ränke. Er ist zufrieden mit dem Gewand, das seinen Leib umhüllt, mit der Almosenschale für seine Ernährung. Nur diese Dinge nimmt er mit, wohin er auch gehen mag, wie ein Vogel nur sein Gefieder mitnimmt, wohin er auch fliegen mag. Ausgestattet mit diesen edlen Ordensregeln fühlt er sich untadelhaft wohl. Erblickt er mit dem Auge etwas Sichtbares, hört er mit dem Ohr einen Ton, riecht er mit der Nase einen Duft, schmeckt er mit der Zunge einen Saft, fühlt er mit dem Leibe etwas Tastbares, denkt er mit dem Verstande eine Vorstellung, so haftet er weder an der ganzen Erscheinung noch an ihren Einzelheiten. Weil bei unbewachten Sinnen Wünsche, Sorgen oder andere schlechte, unheilsame Regungen ihn befallen würden, übt er Selbstbeherrschung und bewacht seine Sinne, beherrscht sie. Dabei fühlt er sich untadelhaft wohl. Wenn er hin und her geht, wenn er hinblickt oder umherblickt, wenn er seine Glieder bewegt, wenn er Gewand und Schale tragt, wenn er ißt oder trinkt, kaut oder kostet, wenn er seine Notdurft verrichtet, wenn er geht oder steht oder sitzt, wenn er einschläft und aufwacht, wenn er redet und wenn er schweigt, immer ist er sich dessen klar bewußt, was er tut.

Ausgestattet mit dieser edlen Sittlichkeit, dieser edlen Beherrschung der Sinne und dieser edlen Wissensklarheit zieht er sich auf einen einsamen Aufenthaltsplatz zurück, in eine menschenleere Gegend, unter einen Baum, in eine Schlucht, in eine Felsenhöhle, auf einen Totenacker, auf eine bewaldete Hochebene, unter freien Himmel oder auf einen Strohhaufen. Dort setzt er sich, wenn er vom Speisesammeln zurückgekehrt ist, nach dem Mahle mit gekreuzten Beinen nieder, den Körper gerade aufgerichtet, und beginnt mit der Achtsamkeitsübung Er legt weltliches Begehren ab, bleibt frei davon und läutert seinen Geist von weltlichem Begehren. Er legt Übelwollen und Schadenfreude ab und bleibt frei davon; nur bedacht auf aller Wesen Wohl, läutert er seinen Geist von Übelwollen und Schadenfreude. Er legt Trägheit und Schlaffheit ab und bleibt frei davon; klaren Geistes, besonnen und wissensklar läutert er seinen Geist von Trägheit und Schlaffheit. Er legt ruheloses Grübeln ab und bleibt frei davon; innerlich voller Gemütsruhe läutert er seinen Geist von ruhelosem Grübeln. Er legt Zweifelsucht ab und bleibt frei davon; ohne noch fragen zu müssen, was gut und böse sei, läutert er seinen Geist von Zweifelsucht.

Hat er diese fünf Hemmnisse beseitigt, nachdem er sie als Trübungen des Geistes und als schwächend erkannt hat, so löst er sich ab von dem Verlangen nach Sinnengenüssen und von unheilsamen Regungen und erreicht die erste, die zweite, die dritte und die vierte Stufe der Versenkung[3]. Ist sein Geist auf solche Weise beruhigt, gereinigt, geläutert, frei von Begierde, sanft, fügsam, fest und unerschütterlich, so wendet er seinen Geist zu der Erinnerung und Erkenntnis seiner früheren Daseinsformen, und er erinnert sich nacheinander an Hunderttausende seiner früheren Daseinsformen bis in frühere Weltperioden zurück. Dann richtet er seinen Geist auf das Vergehen und Wiederentstehen der Wesen. Mit himmlischem, klarem, übermenschlichem Blick sieht er, wie die Wesen vergehen und wiederentstehen, er erkennt die niedrigen Wesen und die hohen, die schönen und die unschönen, die glücklichen und die elenden, wie es ihnen je nach ihren Taten ergeht: Die Wesen, die in Werken, Worten und Gedanken schlecht gelebt, die über die Edlen Böses geredet haben, die falsche Ansichten hatten und demgemäß handelten, diese sind nach dem Tode in Leid und Qual, in peinvollen Zustand, in die Hölle gekommen. Jene Wesen aber, die Gutes getan haben in Werken, Worten und Gedanken, die richtige Ansichten hatten und demgemäß handelten, sind nach dem Tode in glücklichen Zustand, in das Himmelreich gekommen. Dann richtet er seinen Geist auf die Erkenntnis von der Vernichtung der Anwandlungen, und er erkennt der Wahrheit gemäß, worin das Übel und die Anwandlungen bestehen, was ihr Ursprung ist, wie sie beendet werden können und welches der Weg zu ihrer Beendigung ist. Indem er so erkennt und schaut, wird sein Geist frei von den Anwandlungen der Sinnenlust, des Daseins und der Unwissenheit, und er weiß dann, daß er erlöst ist. Das Geborenwerden hat aufgehört, das Ziel des Reinheitswandels ist erreicht, er hat getan, was zu tun war, und er erkennt, daß er mit der Welt nichts mehr zu schaffen hat.

Von einem Menschen, der so lebt, sagt man, daß er weder sich selbst noch andere quält. Er ist schon in diesem Leben begierdelos, erloschen, kühl geworden und glücklich, weil er heilig geworden ist[4].

So sprach der Erhabene. Mit Freude und Dank nahmen die Bhikkhus seine Rede an.



[1]Satipatthāna, vgl. das 10. Sutta.

[2]Im Text ausführlich wie im 12. Sutta.

[3]Im Text ausführlich mit denselben Worten wie im 4. Sutta.

[4]Wörtlich <nicht wie ein faules Ei>, womit auf den folgenden Vergleich mit den jungen Hühnern angespielt wird. <Nicht wie ein faules Ei> war wahrscheinlich ein Ausdruck der gewöhnlichen Umgangssprache, der dem Redner den Vergleich nahelegte.


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