Majjhima Nikāya, Mittlere Sammlung

ZWEITER TEIL: DIE MITTLEREN FÜNFZIG - Majjhimapannāsam

VI. BUCH: HAUSHERREN - Gahapativaggo

54. Potaliya Sutta

 

So habe ich es gehört:

Einst weilte der Erhabene im Lande Anguttarapa bei dem Städtchen Apana. Eines Morgens ging er nach Apana, um Speise zu sammeln. Nach dem Mahle begab er sich in einen dichten Wald, um den Tag über dort zu bleiben, und setzte sich unter einen Baum. Da kam der Hausherr[1] Potāliya in Hauskleidung mit Sonnenschirm und Sandalen auf einem Spaziergang in den Wald, näherte sich dem Erhabenen, begrüßte ihn höflich mit den üblichen Grußworten und blieb stehen. Der Erhabene sprach zu ihm: «Mein Hausherr, hier sind Sitzgelegenheiten; wenn du willst, setze dich!» Potāliya aber dachte: «Der Samana Gotama redet mich mit Hausherr an», ärgerte sich und schwieg. Noch zweimal forderte der Erhabene ihn auf, sich zu setzen, und beim dritten Mal erwiderte Potāliya ärgerlich: «Das gehört sich nicht, das ist unpassend, daß du mich mit Hausherr anredest.» - «Du siehst aber ganz wie ein Hausherr aus.» - «Ich habe alle Beschäftigungen aufgegeben und mich von allen Geschäften getrennt.» - «Wie hast du das gemacht?» - «Alles, was ich an Vermögen an Vorräten, an Silber und Gold besaß, habe ich meinen Söhnen als ihr Erbe gegeben, ohne ihnen Vorschriften zu machen, ich beanspruche nur Kost und Kleidung. So habe ich alle Beschäftigungen aufgegeben und mich von allen Geschäften getrennt.» - «Unter Trennung von den Geschäften verstehst du, Hausherr, etwas anderes, als was im Orden der Edlen als Trennung von den Geschäften gilt.» - «Was gilt denn im Orden der Edlen als Trennung von den Geschäften? Bitte, Erhabener, erklärt mir das!» - «Dann höre zu und merke es dir, Hausherr, ich will es dir sagen.» Potāliya stimmte zu, und der Erhabene sprach:

«Auf achtfache Weise trennt man sich im Orden der Edlen von den Geschäften: Man verletzt keine lebenden Wesen, man nimmt nichts, was einem nicht gegeben wird, man sagt die Wahrheit und lügt nicht, man verleumdet nicht, man ist nicht habgierig, man meidet Zank und Streit, man meidet Zorn und Wut, man ist nicht anmaßend.»

Nun bat Potāliya den Erhabenen, dies ausführlich zu erklären, und der Erhabene sprach:

«<Lebende Wesen nicht verletzen> bedeutet: Ein Edeljünger bedenkt, daß er die Fesseln, derentwegen er lebende Wesen verletzen würde, abgestreift und zerrissen hat; wenn er lebende Wesen verletzt, müßte er sich selbst tadeln, Verständige würden, wenn sie es erführen, ihm Vorwürfe machen, und nach dem Tode hätte er Schlimmes zu erwarten. Die Fessel des Verletzens und die quälenden Anwandlungen, die aus dem Verletzen lebender Wesen entstehen, gibt es für den nicht, der sich scheut, lebende Wesen zu verletzen. Die gleichen Betrachtungen stellt ein Edeljünger über die andern sieben Weisen der Trennung von den Geschäften an[2]. Diese achtfache Weise ist aber noch nicht die vollständige Trennung von den Geschäften nach den Ordensregeln eines Edlen.»

Auf die Bitte Potāliyas, auch noch die vollständige Trennung von den Geschäften zu erklären, sprach der Erhabene:

«Wenn ein hungriger Hund sich vor einem Fleischerladen aufstellt und ein Fleischer ihm einen abgeschabten, blutigen Knochen ohne Fleisch hinwirft, meinst du, daß der Hund mit dem Knochen seinen Hunger stillen würde?» - «Nein, denn der Knochen ist ja abgeschabt und der Hund kann nichts mehr abnagen, wenn er sich auch noch so sehr bemüht.» - «Ebenso bedenkt ein Edeljünger: Abgeschabten Knochen vergleicht der Erhabene die Sinnenfreuden, er sagt, daß sie viel Leid und Unannehmlichkeiten mit sich bringen, daß dabei das Nachteilige überwiegt. Da er es richtig verstanden hat, sieht er es so, wie es wirklich ist, vermeidet er, auf die Mannigfaltigkeit zu achten, und achtet nur auf die Einheit, so daß alles Haften an dem Köder der Welt verschwindet[3].

Wenn ein Geier oder ein Kranich oder ein Rabe ein Stück Fleisch gefunden hat und andere Geier oder Kraniche oder Raben sich auf ihn stürzen, um ihm das Fleisch zu entreißen, meinst du nicht, daß dieser Vogel, wenn er das Fleisch nicht schnell fallen läßt, den Tod zu erwarten hat?» - «Ja, Herr!» - «Ebenso bedenkt ein Edeljünger: Mit einem Stück Fleisch vergleicht der Erhabene die Sinnenfreuden, er sagt, daß sie viel Leid und Unannehmlichkeiten mit sich bringen, daß dabei das Nachteilige überwiegt.

Wenn ein Mann mit einem brennenden Strohbündel gegen den Wind geht, meinst du nicht, daß er sich die Hand, den Arm und andere Körperteile verbrennt und daß er dadurch den Tod zu erwarten hätte, wenn er das Strohbündel nicht schnell wegwürfe?» - «Ja, Herr!» - «Ebenso bedenkt ein Edeljünger: Mit einem brennenden Strohbündel hat der Erhabene die Sinnenfreuden verglichen, er sagt, daß sie viel Leid und Unannehmlichkeiten mit sich bringen, daß dabei das Nachteilige überwiegt.

Wenn eine übermannstiefe Grube voll glühender, nicht rauchender Kohlen da ist und zwei starke Männer einen Menschen, der leben und nicht sterben will, an den Armen packen und ihn in die Grube werfen wollen, meinst du nicht, daß dieser Mensch seinen Leib nach allen Seiten hin winden würde?» - «Ja, Herr, denn dieser Mensch weiß ja, daß er sterben würde, wenn er in diese Grube fiele.» - «Ebenso bedenkt ein Edeljünger: Mit einer Grube voll glühender Kohlen vergleicht der Erhabene die Sinnenfreuden.

Wie ein Mensch im Traum einen lieblichen Park, einen Hain, eine Wiese, einen lieblichen Lotusteich sieht, beim Erwachen aber davon nichts mehr sieht, ebenso bedenkt ein Edeljünger: Mit einem Traumbilde vergleicht der Erhabene die Sinnenfreuden.

Wenn ein Mann einen Wagen mit geliehenem Gut füllt, mit kostbaren Juwelen und Ringen, und damit auf einen Basar fährt, dann sagen die Leute, er sei reich an Schätzen, wenn aber die Eigentümer ihn treffen, dann nehmen sie, wo es auch sei, ihr Eigen an sich. Meinst du nicht, daß ihm das sehr peinlich wäre?» - «Ja, Herr, denn die Eigentümer nehmen ja das Ihrige zurück.» - «Ebenso bedenkt ein Edeljünger: Mit geliehenem Gut vergleicht der Erhabene die Sinnenfreuden.

Wenn nahe bei einem Dorf im Walde ein Baum steht mit reifen, nicht abgefallenen Früchten und ein Mann kommt, der Früchte sucht, auf den Baum steigt, sich an den Früchten satt ißt und dazu noch seinen Schoß voll pflückt, und wenn dann ein zweiter Mann, der nicht hinaufsteigen kann, mit einer scharfen Axt den Baum fällt, um die Früchte zu erlangen, meinst du nicht, daß der erste Mann, wenn er nicht schnell heruntersteigt, beim Fällen des Baums Hand oder Fuß oder andere Glieder bricht und den Tod zu erwarten hat?» - «Ja, Herr!» - «Ebenso bedenkt ein Edeljünger: Mit Baumfrüchten vergleicht der Erhabene die Sinnenfreuden.

Wenn ein Edeljünger die vierte Stufe der Versenkung erreicht und damit die höchste Reinheit des Gleichmuts und der Andacht gewonnen hat, dann erinnert er sich seiner früheren Daseinsformen, schaut das Hinschwinden und Wiederentstehen der Wesen je nach ihrem Wirken, erreicht die von Anwandlungen freie Erlösung des Geistes durch Weisheit schon in diesem Leben und gelangt aus eigener Kraft zum höchsten Wissen.

Solcher Art ist nach den Ordensregeln der Edlen die Trennung von den Geschäften. Betrachtest du, Hausherr, die Trennung von den Geschäften auch so?» - «Wer bin ich, Herr, und was ist die Trennung von den Geschäften nach den Ordensregeln der Edlen! Weit entfernt bin ich von dieser Trennung. Bisher hielt ich minderwertige Wandermönche anderer Schulen für wertvoll, gab ihnen wertvolle Speise und behandelte sie als wertvoll, die wertvollen Bhikkhus aber hielt ich für minderwertig, gab ihnen minderwertige Speise und behandelte sie geringschätzig. Jetzt aber weiß ich, daß die Wandermönche anderer Schulen minderwertig sind und will ihnen minderwertige Speise geben und sie geringschätzig behandeln, die Bhikkhus aber kenne ich jetzt als wertvoll und will ihnen wertvolle Speise geben und sie als wertvoll behandeln. Ihr habt mir, Herr, Liebe zu den Samanas, Freude an den Samanas und Achtung vor den Samanas beigebracht. Es ist erstaunlich! Wie man Umgestürztes aufrichtet, Verborgenes enthüllt, einem Verirrten den Weg zeigt, im Finstern Licht macht, damit man die Dinge sehen kann, so hat der Erhabene durch mancherlei Darlegungen die Wahrheit verkündet. Ich nehme meine Zuflucht zum Erhabenen, zur Lehre und zur Jüngergemeinde. Von jetzt ab will ich für mein ganzes Leben Euer Laienanhänger sein.»

 


[1] gahapati (skr. grhapati) ist ein Mann aus einer der drei oberen Kasten, der als Familienoberhaupt in seiner Häuslichkeit lebt. Nach brahmanischer Überlieferung soll er als Grhastha, sobald ihm Enkel geboren worden sind, allen Genüssen entsagen und sich in den Wald als Einsiedler zurückziehen. Dann ist er ein Vanaprastha. Potāliya fühlte sich als solcher, obwohl er nur im Walde spazierenging, und empfand es daher als Kränkung, mit gahapati angeredet zu werden. Diese Anrede galt aber als durchaus höflich und entsprach ungefähr unserem <mein Herr>.

[2] Im Text wird alles mit denselben Worten wiederholt.

[3] Die Worte <Da er es richtig verstanden hat> . . . bis <verschwindet> werden am Schluß der folgenden Vergleiche wiederholt. Die Vergleiche werden abgekürzt im 22. Sutta erwähnt. Aber hier, im 54. Sutta, werden die Vergleiche schon als bekannt im Kreise der Jünger vorausgesetzt. Was unter <Mannigfaltigkeit> und <Einheit> zu verstehen ist, wird im 137. Sutta so erklärt: «Mannigfaltigkeit oder Vielheit bedeutet: sichtbare Gestalten, Töne, Düfte, Säfte, Tastungen und Denkvorstellungen; Einheit bedeutet: die Gebiete der Raumunendlichkeit, des Nichts und des Grenzgebiets von Wahrnehmung und Nichtwahrnehmung:» Ob jedoch diese, offenbar erst später verfaßte, Erklärung auch für das 54. Sutta gilt, bleibt zweifelhaft.


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