Majjhima Nikāya, Mittlere Sammlung

ZWEITER TEIL: DIE MITTLEREN FÜNFZIG - Majjhimapannāsam

VIII. BUCH: WANDERMÖNCHE - Paribbājakavaggo

74. Dighanakha Sutta

 

So habe ich es gehört:

Einst weilte der Erhabene in der Sukarākhata (<wo die Eber wühlen>) auf dem Geiergipfel bei Rājagaha. Da kam der Wandermönch Dighanakha zu ihm, begrüßte ihn höflich, blieb bei ihm stehen und sagte: «Ich vertrete die Ansicht: Alles gefällt mir nicht,» - «Wenn dir alles nicht gefällt, Aggivesana[1]», erwiderte der Erhabene, «dann gefällt dir also auch diese Ansicht nicht.» - «Herr Gotama, wenn mir diese Ansicht gefiele, dann wäre das ebenso.» - «Aggivessana, die meisten in der Welt sagen, das wäre ebenso, und geben diese Ansicht nicht auf, nehmen aber eine andere an, und die wenigsten sagen, das wäre ebenso, und geben diese Ansicht auf, nehmen aber keine andere Ansicht an.

Manche Samanas und Brahmanen sagen, daß ihnen alles gefällt, manche sagen, daß ihnen alles nicht gefällt, und manche sagen, daß ihnen einiges gefällt und anderes nicht gefällt. Diejenigen, die sagen, daß ihnen alles gefällt, sind von dieser Ansicht begeistert und hängen daran, und diejenigen, die sagen, daß ihnen alles nicht gefällt, sind auch von dieser Ansicht begeistert und hängen daran.

Darauf sagte Dighanakha: «Herr Gotama lobt meine Ansicht!» Der Erhabene aber fuhr fort: «Diejenigen, die sagen, daß ihnen einiges gefällt und anderes nicht gefällt, sind von dem, was ihnen gefällt, begeistert und hängen daran, aber von dem, was ihnen nicht gefällt, sind sie nicht begeistert und hängen nicht daran.

Bei denen, die sagen, daß ihnen alles gefällt, denkt ein verständiger Mensch: Wenn ich mir diese Ansicht aneignete, würde ich auf zwei Seiten auf Widerspruch stoßen, bei denen, die sagen, daß ihnen alles nicht gefällt, und bei denen, die sagen, daß ihnen einiges gefällt und anderes nicht gefällt. Aus Widerspruch aber entsteht Zwietracht und Streit; darum lehne ich diese Ansicht ab und nehme auch keine andere Ansicht an. So werden diese Ansichten abgelehnt und verworfen. Ebenso ist es bei denen, die sagen, daß ihnen alles nicht gefällt[2] und bei denen, die sagen, daß ihnen einiges gefällt und anderes nicht gefällt. So werden diese Ansichten abgelehnt und verworfen.

Aggivessana, dieser Leib, der körperlich ist, der, aus den vier Elementen bestehend, von Mutter und Vater gezeugt, mit Speise und Trank genährt ist, ist zu betrachten als unbeständig, gebrechlich und hinfällig, als vergänglich, unbefriedigend, krankhaft, als Eiterbeule, als Unheil, als Bedrängnis, als etwas Fremdes, als hinfällig, als leer, als Nicht-Ich[3]. Wer den Leib so betrachtet, verliert Lust und Liebe zum Leibe und hängt nicht mehr am Leibe. Es gibt drei Gefühle: Lustgefühl, Unlustgefühl und gleichgültiges Gefühl. Wer ein Lustgefühl hat, der hat in derselben Zeit kein Unlustgefühl und kein gleichgültiges Gefühl; wer ein Unlustgefühl hat, der hat in derselben Zeit kein Lustgefühl und kein gleichgültiges Gefühl; wer ein gleichgültiges Gefühl hat, der hat in derselben Zeit kein Lust- und kein Unlustgefühl. Die Lustgefühle, die Unlustgefühle und die gleichgültigen Gefühle sind unbeständig, sind erzeugt, ursächlich bedingt entstanden, sie müssen vergehen, verblassen, verschwinden. Wenn ein wohlunterrichteter Edeljünger dies so betrachtet, wendet er sich von Lustgefühlen, von Unlustgefühlen und von gleichgültigen Gefühlen ab, wenn er sich abwendet, verliert er das Verlangen danach; hat er das Verlangen verloren, so wird er frei; dann wird er sich bewußt, daß er befreit ist, daß es für ihn keine Wiedergeburt mehr gibt, daß er das Ziel des Reinheitswandels erreicht und getan hat, was zu tun war, und daß er mit dieser Welt nichts mehr zu schaffen hat. Ein Bhikkhu, dessen Geist so frei geworden ist, stimmt keinem zu und widerspricht keinem, und was in der Welt geredet wird, darauf läßt er sich nicht ein.»

Damals stand der ehrwürdige Sāriputta hinter dem Erhabenen und fächelte ihm Kühlung. Dabei bedachte er, daß der Erhabene auf Grund seines Wissens gesagt hat, diese und jene Dinge sollten wir, nachdem wir sie erkannt haben, ablehnen und verwerfen, und während er so darüber nachdachte, hörte er auf zu haften und sein Geist wurde frei von Anwandlungen[4]. Dem Wandermönch Dighanakha aber ging das Verständnis der Lehre auf und er sah ein, daß alles, was entsteht, wieder vergehen muß. Er erklärte sich für überzeugt[5], nahm seine Zuflucht zu Buddha, zur Lehre und zur Jüngergemeinde und bekannte sich als Laienanhänger für sein ganzes Leben.[6]



[1] Dies ist offenbar sein Familienname, während Dighanakha (<Langnagel>) sein Beiname ist.

[2] Im Text alles mit denselben Worten zweimal wiederholt.

[3] Hier dieselbe Häufung gleichbedeutender Wörter wie im 64. Sutta (vgl. die dortige Anmerkung 4). Ein Zeichen, daß auch dieses Sutta später überarbeitet worden ist.

[4] Hierauf beziehen sich die Verse in Theragatha 995:

 Es trug der Buddha einst die Lehre jemand vor.
Verlangend neigte ich beim Vortrage mein Ohr.
Das Hör'n war nicht umsonst; befreit bin ich, genesen.

[5] Im Text dieselben Worte wie im 4. Sutta am Schluß.

[6] Wenn der Kern dieses Suttas echt ist, was man wohl annehmen darf, dann muß das Gespräch in den ersten Jahren nach der Bodhi, nicht lange nach Sariputtas Aufnahme in den Orden, stattgefunden haben. Wahrscheinlich folgte auf die Ablehnung des Lehrsatzes Dighanakhas eine Belehrung über die Körperbetrachtung, von der hier nur der Schluß erhalten ist, und dieser Schluß hat eine Fassung erhalten, die einer späteren Literaturschicht angehört.


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