Majjhima Nikāya, Mittlere Sammlung

DRITTER TEIL: DIE SPÄTEREN FÜNFZIG – Uparipannāsam

XI. BUCH: GÖTTERTEICH – Devadaha vaggo

109. Vollmond I – Mahāpunnama Sutta

 

So habe ich es gehört:

Als der Erhabene einst auf der Terrasse der Mutter des Migara im Ostpark bei Sāvatthi weilte, saß er in einer Vollmondnacht bei der Uposathafeier[1] im Kreise seiner Bhikkhus unter freiem Himmel. Da stand ein Bhikkhu auf, entblößte eine Schulter, verneigte sich mit zusammengelegten Händen vor dem Erhabenen und sagte: «Erhabener, ich möchte Euch etwas fragen und bitte Euch, meine Frage zu beantworten.» – «Bhikkhu, setze dich», erwiderte der Erhabene, «und frage, was du willst.» Der Bhikkhu setzte sich und fragte:

«Sind dies die fünf Gruppen des Ergreifens: Die Gruppe Körperlichkeit, die Gruppe Empfindung, die Gruppe Wahrnehmung, die Gruppe unbewußte gestaltende Tätigkeiten und die Gruppe Bewußtsein?» – «Ja, das sind sie.»

«Danke, Herr!» sagte freudig der Bhikkhu und fragte weiter: «Worin wurzeln die fünf Gruppen des Ergreifens?» – «Sie wurzeln im triebhaften Willen.»

«Herr, ist wohl das Ergreifen dasselbe wie die fünf Gruppen des Ergreifens oder gibt es ein Ergreifen ohne die fünf Gruppen des Ergreifens?» – «Das Ergreifen und die fünf Gruppen des Ergreifens sind nicht ein und dasselbe, aber es gibt auch kein Ergreifen ohne die fünf Gruppen des Ergreifens. Was bei den fünf Gruppen des Ergreifens leidenschaftlicher, triebhafter Wille ist, das ist dabei das Ergreifen.»

[«Herr, kann bei den fünf Gruppen des Ergreifens eine Verschiedenheit des leidenschaftlichen, triebhaften Willens bestehen? – «Das ist möglich. Wenn sich nämlich jemand wünscht, wie seine Körperlichkeit, seine Empfindung, seine Wahrnehmung, seine unbewußten gestaltenden Tätigkeiten und sein Bewußtsein künftig sein sollen, so kann dabei eine Verschiedenheit des leidenschaftlichen, triebhaften Willens bestehen.»[2]]

«Herr, was bedeutet das Wort Gruppen? – «Alles, was es an Gestalt gibt, vergangene, zukünftige, gegenwärtige, eigene und fremde, grobe und feine, gemeine und edle, ferne und nahe, alles das bildet die Gruppe Gestalt; ebenso verhält es sich mit den übrigen Gruppen.»

«Herr, aus welcher Ursache und unter welcher Bedingung entstehen nun diese Gruppen?» – «Wenn die vier Elemente da sind, kann die Gruppe Gestalt entstehen; wenn Berührung da ist, können die Gruppen Empfindung, Wahrnehmung und unbewußte gestaltende Tätigkeiten entstehen; wenn ein lebendiger Organismus da ist, kann die Gruppe Bewußtsein entstehen.»

«Herr, wie kommt der Glaube auf, daß die Person das Ich sei?» – «Ein unbelehrter gewöhnlicher Mensch, der nicht mit Edlen verkehrt und die Lehre der Edlen nicht versteht, betrachtet die Gestalt als sein Ich oder die Empfindung oder die Wahrnehmung oder die unbewußten gestaltenden Tätigkeiten oder das Bewußtsein als sein Ich oder sein Ich als von der Art der Gruppen oder die Gruppen als in seinem Ich enthalten oder sein Ich als in den Gruppen enthalten. So entsteht dieser Glaube.»

«Und wie, Herr, kann solcher Glaube nicht aufkommen?» – «Ein gut belehrter, der Lehre der Edlen kundiger Edeljünger betrachtet die Gruppen nicht als sein Ich und sein Ich nicht als von der Art der Gruppen, nicht die Gruppen als in seinem Ich enthalten, nicht sein Ich als in den Gruppen enthalten. So entsteht solcher Glaube nicht.»

«Was ist bei den fünf Gruppen das Verlockende, was das Nachteilige, und wie kann man ihnen entrinnen?» – «Das Wohlbehagen und das Erfreuliche, das infolge der Gruppen entsteht, das ist dabei das Verlockende; daß die Gruppen vergänglich, unbefriedigend und veränderlich sind, das ist dabei das Nachteilige; entrinnen kann man ihnen, wenn man den leidenschaftlichen, triebhaften Willen überwindet und zum Schwinden bringt.»

«Herr, wie kommt es, daß ein Wissender und Einsichtiger angesichts dieses mit Bewußtsein begabten Leibes und der von außen auf ihn wirkenden Eindrücke nicht den Gedanken faßt, daß die Person sein Ich sei und ihm gehöre, und daß er sich nicht dünkelhaften Neigungen hingibt?» – «Alles, was es an Gestalt, an Empfindung, an Wahrnehmung, an unbewußten gestaltenden Tätigkeiten und an Bewußtsein gibt, betrachtet er, wenn er es richtig verstanden hat, wie es wirklich ist, so: Dies ist nicht mein, ich bin dies nicht, dies ist nicht mein Ich. So kann einem Wissenden und Einsichtigen angesichts des mit Bewußtsein begabten Leibes und der von außen auf ihn wirkenden Eindrücke nicht der Gedanke kommen, daß die Person sein Ich sei und ihm gehöre, und er kann sich keinen dünkelhaften Neigungen hingeben.»

Da stieg einem der Bhikkhus folgender Gedanke auf: Wenn die Gruppen nicht mein Ich sind, welches Ich werden dann die nicht von mir getanen Taten berühren? Der Erhabene aber durchschaute den Gedanken dieses Bhikkhus und sprach:

«Es könnte sein, daß ein törichter, unwissender, vom Durst im Geiste überwältigter Mensch glaubte, den Meister berichtigen zu müssen, indem er denkt, wenn die Gruppen nicht das Ich sind, welches Ich könnten dann die nicht von ihm getanen Taten berühren? Über solche und ähnliche Fragen habe ich euch meine Bhikkhus, belehrt. Was meint ihr wohl: ist die Gestalt beständig oder unbeständig?» – «Herr, unbeständig.» – «Was unbeständig ist, ist das unbefriedigend oder beglückend?» – «Herr, es ist unbefriedigend.» – «Was aber unbeständig, unbefriedigend und veränderlich ist, kann man davon sagen: Dies ist mein, ich bin dies, dies ist mein Ich?» – «Herr, gewiß nicht!» – «Was meint ihr wohl: sind die übrigen Gruppen beständig oder unbeständig?» – «Herr, unbeständig.» – «Was unbeständig ist, ist das unbefriedigend oder beglückend?» – «Herr, es ist unbefriedigend.» – «Was aber unbeständig, unbefriedigend und veränderlich ist, kann man davon sagen: Dies ist mein, ich bin dies, dies ist mein Ich?» – «Herr, gewiß nicht!»

«Darum, meine Bhikkhus, müßt ihr alles, was es an Gruppen gibt, wenn ihr es richtig verstanden habt, wie es wirklich ist, so betrachten: Dies ist nicht mein, ich bin dies nicht, dies ist nicht mein Ich. Ein Edeljünger, der dies so betrachtet, wird der Gestalt, der Empfindung, der Wahrnehmung, der unbewußten gestaltenden Tätigkeiten und des Bewußtseins überdrüssig, er wendet sich davon ab, löst sich davon los und wird sich der Erlösung bewußt; er erkennt, daß sich (für ihn) der Lauf der Wiedergeburten erschöpft hat, daß das Ziel des Reinheitswandels erreicht ist und getan worden ist, was zu tun war, und daß er mit der Welt nichts mehr zu schaffen hat.»

So sprach der Erhabene. Mit Freude und Dank nahmen die Bhikkhus seine Belehrung an. Während dieser Fragenbeantwortung wurden etwa sechzig Bhikkhus frei von Anwandlungen und erreichten die Befreiung ihres Geistes.

 



[1] Buddhistischer Sonntag.

[2] Aus dem Wort vemattatā (Verschiedenheit), das dem späteren Pali angehört, ist zu schließen, daß diese Frage und diese Antwort später eingefügt worden sind.


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