Frau Dr. Rhys Davids, die Präsidentin der Pali Text Society, Indologin von internationalem Ruf, unterzog in ihrem Buch "The Birth of Indian Psychology and its Development in Buddhism" (London 1936) den Pali-Kanon, die buddhistische Bibel, nach dem Vorbild der Bibelkritik einer historisch-kritischen Untersuchung und stellte sich damit eine Aufgabe, die von der Wissenschaft bisher noch kaum in Angriff genommen worden ist. (Siehe jedoch "Buddha-Jhāna und Yoga-Jhāna", "Buddha und die Frauen" und "Geschichte und Legende" im Mahāparinibbānasutta in diesem Buch!) Sie prüft zunächst, wie in den Veden und den älteren Upanischaden versucht worden ist, das Ich-Problem, das Problem des ātman, des "Selbst", zu lösen. Hier findet sie Ansätze zu einer Psychologie, die allerdings mit metaphysischen Spekulationen vermengt sind. Der ātman, das Selbst, die Seele, wird als immanent (diesseitig) gedacht und zu einem transzendenten (jenseitigen) Welt-ātman in Beziehung gesetzt. Diesen immanenten ātman vermißt Frau Rhys Davids im buddhistischen Pali-Kanon, dem der Hauptteil ihres Buches gewidmet ist; sie meint hier eine Leugnung des Ich oder Selbst zu finden, und sagt, dies könne unmöglich der ursprüngliche Sinn der Buddhalehre gewesen sein; folglich sei die Überlieferung fehlerhaft, und sie versucht nun, hinter dem überlieferten Text die vermeintliche alte, ursprüngliche Fassung zu entdecken, in der noch der "immanente ātman" der Upanischaden vorkommen müsse.
Diese Annahme und der Rekonstruktionsversuch beruhen jedoch auf einem Mißverständnis, für das die mittelalterlichen, viele Jahrhunderte nach Buddha entstandenen Kommentare zum Pali-Kanon verantwortlich zu machen sind. Offenbar unter dem Einfluß dieser Kommentare, die allerdings das Negative, das Nichtvorhandensein eines unvergänglichen Ich in der Persönlichkeit des Menschen, stark betonen, hat die Verfasserin übersehen, daß dies nur die eine Seite der Sache ist und daß im Pali-Kanon auch die andere Seite durchaus zu ihrem Recht kommt. Allerdings nicht in der Weise, wie sie meint, daß Buddha den "immanenten ātman" der älteren Upanischaden übernommen hätte. Wenn er das getan hätte, dann wäre der überwältigende Eindruck nicht zu erklären, den seine neue Lehre gerade auf die in der Upanischadenlehre bewanderten Brahmanen seiner Zeit gemacht hat.
Seine Lehre muß grundsätzlich anders gewesen sein als die der Veden, der Upanischaden und des Sankhya. In der Tat bezeugen die Suttas des Pali-Kanons, daß Buddha etwas ganz Neues lehrte. Er hat als erster das Ich-Problem als ein transzendental-philosophisches erkannt und gelöst, und zwar genau so, wie in unserer Zeit Kant, der nichts von Buddha wußte. (Vgl. "Die Leerheit der Welt" und "Buddhistisches bei Kant" in diesem Buch!) Wie Kant in der "Kritik der reinen Vernunft" auf Seite 404 der Originalausgabe sagt: Das Ich ist "eine an Inhalt gänzlich leere Vorstellung, von der man nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei. . . Durch dieses Ich wird nichts weiter als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, . . . wovon wir niemals den mindesten Begriff haben können", - so lehrt Buddha, daß ein Ich, ein attā oder ātman, in der Persönlichkeit nicht zu finden ist, die ihrerseits durch die fünf Gruppen des Ergreifens zustande kommt. Die Verfasserin irrt, wenn sie meint (S. 186), der Mensch, das Ich, das Selbst, sei im Pali-Kanon nach und nach nichts weiter geworden als ein Komplex jener fünf Gruppen; vielmehr sagt Buddha nach den Berichten des Pali-Kanons jedesmal, wenn von den Gruppen die Rede ist, ausdrücklich: "Das ist nicht zu mir gehörig, ich bin das nicht, das ist nicht das Wesentliche (attā = ātman) an mir."
Ist das nicht genau das Gegenteil einer Leugnung des Ich? Wird darin nicht vielmehr das Ich vorausgesetzt, allerdings nicht als immanent, wie in den Upanischaden, sondern als transzendent?
An anderen Stellen wird die Transzendenz gleichnishaft, aber doch ganz unzweideutig betont, wenn Buddha vom Ich sagt, es sei "tief, unergründlich wie das große Meer".
DDies ist gerade das wesentlich Neue gegenüber der ganzen älteren indischen Philosophie und geradezu der Kern der Buddha-Lehre. Mit Psychologie hat das allerdings nichts zu tun, und da Frau Rhys Davids hier Psychologie suchte, so konnte sie nichts finden. Aus demselben Grunde mußte sie auch fehlgehen in der Beurteilung des Begriffs des Arahat, des buddhistischen Heiligen (S. 350 ff.), an dem sie beanstandet, daß ein lebender, also notwendig unvollkommener Mensch als ein idealer Vollendeter hingestellt werde.
Genau das Gegenteil ist die Lehre Buddhas! So heißt es beispielsweise im 22. Sutta des Majjhima-Nikaya: "Einen Bhikkhu, dessen Geist erlöst ist (d.h. einen Arahat), können selbst die Götter nicht auffinden; denn ein Vollendeter ist in der Erscheinungswelt (ditthe dhamme) nicht aufzufinden." Ein Arahat ist also nicht der empirische Mensch, sondern das transzendente Ich des Erlösten. Es ist erstaunlich, daß die gelehrte Verfasserin bei ihrer großen Kenntnis des Pali-Kanons dies übersehen konnte, erstaunlich, aber erklärlich, weil sie ihn nur als Philologin und als Psychologin las, aber mit erkenntniskritischem Denken offenbar nicht vertraut war. Um so wertvoller sind diejenigen Teile ihres Buchs, in denen es sich wirklich um Psychologie handelt, besonders ihre sehr aufschlußreichen Deutungen der schwierigen Begriffe Jhāna, Iddhi und Abhinnyā, die gewöhnlich mit "Versenkungen", "magische Kräfte" und "höheres Wissen" übersetzt werden.
Im ganzen ist zu sagen, daß das Buch ein wichtiger Beitrag zur abendländischen Literatur über den Buddhismus ist, in seinem Hauptteil aber mit großen Vorbehalten gelesen werden muß. Der Versuch einer historischen Kritik des Pali-Kanons geht teilweise von irrigen Voraussetzungen aus und schießt deshalb über das Ziel hinaus.
Buddha sprach: "Körperlichkeit, Empfindung, Wahrnehmung, Geistesregungen und Bewußtsein sollte man, der Wirklichkeit gemäß, in rechter Weisheit also betrachten: dies ist nicht mein, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein Ich."
Auf die Fragen Vacchagottas: "Gibt es ein Ich? Gibt es kein Ich?" verweigerte Buddha die Antwort und erklärte nachher Ānanda: "Hätte ich die erste Frage bejaht, wäre das wohl ein Mittel gewesen, um den Fragenden davon zu überzeugen, daß alle Daseinsfaktoren nicht unser Ich sind? Und hätte ich die zweite Frage bejaht, so würde dies dem verworrenen Vacchagotta nur noch mehr Verwirrung eingetragen haben." (S 44, 10).
Buddha hat also ausdrücklich abgelehnt zu sagen, daß es ein Ich nicht gebe, hat aber immer vermieden, über das Ich zu reden.
Warum hat er das vermieden? In meinem Buch "Buddhas Lehre" habe ich gesagt, er habe offenbar deshalb vermieden, vom Ich zu reden, "weil vom Ich schlechterdings nichts ausgesagt werden kann und weil, wenn vom Ich geredet wird, die Gefahr besteht, daß der Hörende sich unter dem Worte Ich etwas denken will. ,Ich' ist aber ein völlig leerer Begriff, bei dem sich nichts denken läßt. Wer das erkannt hat, wird überhaupt nicht versuchen, bei dem Wort Ich etwas zu denken. Für das Denken ist Ich soviel wie nichts. Man kann statt dessen auch sagen: Das Ich ist transzendent, d.h. es ist jenseits der Möglichkeit des Erkennens; womit aber keineswegs gesagt ist, daß es nicht existiere."
Als ich dies schrieb, war ich mir bewußt, mich streng an die von den Theravadins im Pali-Kanon überlieferte Lehre Buddhas gehalten zu haben, ohne etwas hinzuzufügen und, nach dem Vorbild Subhūtis, des Streitlosen, ohne die Vertreter einer anderen Auffassung zu tadeln. Durch diese Zurückhaltung wollte ich mich gerade von Grimm und Seidenstücker unterscheiden, die mit anders denkenden Buddhisten darüber gestritten haben.
(Grimm weicht übrigens von der überlieferten Buddha-Lehre ab durch seinen "Großen Syllogismus", den er in seinem Werk "Buddha und Christus" auf Seite 56 so formuliert:
"Was ich entstehen und vergehen und infolge dieser seiner Vergänglichkeit mir Leiden bringen sehe, das kann nicht mein Ich sein. Nun sehe ich alles Erkennbare an mir und um mich entstehen und vergehen und infolge dieser seiner Vergänglichkeit mir Leiden bringen. Also ist nichts Erkennbares mein Ich." So hat Buddha nie gesprochen, so kann er nie gesprochen haben, denn der "Große Syllogismus" ist ein Paralogismus, ein Fehlschluß. Er verwendet ein Wort, das Wort "ich", für zwei grundverschiedene Begriffe. Im Mittelbegriff (terminus medius) der Prämissen bedeutet "ich" das empirische Ich, das aus den 5 Gruppen besteht, das Individuum oder die Persönlichkeit, denn nur diese "sieht" und empfindet Leiden; im terminus maior aber bedeutet "ich" das transzendente Ich, das unergründliche, zeitlose. Der Obersatz, die erste Prämisse, enthält also einen logischen Fehler und verwirrt die Begriffe.)
Trotzdem schrieb mir ein angesehener Buddhist über mein Buch: "Ich lese mit Freude immer wiederum darin, weil es sehr anschaulich und klar geschrieben ist und oft mit wenigen Worten sonst schwer Verständliches überzeugend darlegt. Schade ist nur, daß Sie immer noch an der geradezu unbuddhistischen Grimm - Seidenstückerschen Interpretation des Anattā-Gedankens festhalten und damit den Lesern Ihres Werks ein widerspruchsvolles Bild eines der wichtigsten Lehrsätze des Pali-Kanons vermitteln."
Und ein gelehrter Kritiker schrieb in einer Besprechung: ,Schmidts Interpretation dieser Lehre, welche das Ich in einen Strom von in funktioneller Abhängigkeit voneinander entstehenden Dharmas (Daseinsfaktoren) auflöst, entspricht jedoch, wie er selbst betont (Seite 160), nicht derjenigen, welche alle maßgebenden Schulen des kleinen wie des großen Fahrzeugs übereinstimmend vertreten. Nach Schmidt soll der Buddha selbst verkündet haben, daß das Ich eine transzendente Größe sei, und die späteren Dogmatiker sollen dies mißverstanden haben. Für dieses von Georg Grimm und anderen behauptete Abgehen der gesamten buddhistischen Tradition von einer angeblichen buddhistischen Urlehre läßt sich aber kein Beweis erbringen."
Dieser Einwand bezieht sich auf folgende Stelle meines Buches:
"Der Buddha hatte gelehrt ,Was unbeständig ist, das ist unbefriedigend; was unbefriedigend ist, das hat man der Wirklichkeit gemäß so anzusehen: das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Ich.' Damit ist gesagt, daß die ganze Individualität, die in den fünf Gruppen besteht, ein Komplex von uns wesensfremden Beilegungen ist, von denen wir uns gänzlich loslösen können und sollen, weil wir in unserm tiefsten Wesen jenseits der Welt, transzendent, sind. Unser Ich ist in der Welt nicht zu finden, es ist unerkennbar, unergründlich wie das große Weltmeer. Demgegenüber legen viele Mönche in Südasien heute die Lehre so aus: ,In den fünf Gruppen, in denen die Persönlichkeit des Menschen besteht, ist keine unzerstörbare Wesensheit, kein Ich, zu finden. Was wir fälschlich für unser Ich halten, ist nichts als das Karma, das Wirken, das von Augenblick zu Augenblick wechselt. Ein Ich gibt es in Wirklichkeit nicht, es ist nur eine Täuschung, die bei der Erreichung des Nirvana verschwindet'."
Sind die Mönche, welche die Lehre so auslegen, "maßgebend"? Maßgebend für die Auslegung der Buddha-Lehre ist m. E. nicht, was manche Mönche sagen, sondern was, der Überlieferung zufolge, die auch diese Mönche anerkennen, Buddha selbst gesagt hat. Und Buddha sprach: "Anattā bedeutet: ,Dies ist nicht mein, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein Ich.' So muß man das der Wirklichkeit gemäß in rechter Weisheit betrachten." (S IV, 1).
Wie ist das zu erklären, daß diese beiden verschiedenen Auffassungen bei Kennern der Buddha-Worte nebeneinander bestehen?
Der Grund scheint mir darin zu liegen, daß die einen das menschliche Erkenntnisvermögen für begrenzt, die anderen es aber für unbegrenzt halten.
Wer überzeugt ist, daß unser Wissen eine unübersteigbare Grenze hat, der kann nicht behaupten, daß jenseits dieser Grenze nichts sei. Er weiß, daß wir nicht wissen und niemals wissen können, was jenseits der Grenze ist; aber gerade darum kann er auch nicht sagen, daß jenseits der Grenze nichts sei. Denn wenn er wüßte, daß jenseits der Grenze nichts ist, dann gäbe es ja nichts Unerkennbares; dann wäre das menschliche Wissen nicht begrenzt. Mit anderen Worten: Wer sich der Begrenztheit unseres Wissens bewußt ist; wer weiß, wie wenig wir wissen, der muß für möglich halten, daß es etwas gibt, was wir niemals wissen können; der kann also nicht zugeben, daß es nichts Unerkennbares, nichts Undenkbares, gebe.
Die anderen aber, die meinen, es gebe nichts Unerkennbares, nichts Transzendentes, die bekennen sich damit - bewußt oder unbewußt - zu der Auffassung, daß das menschliche Wissen prinzipiell unbegrenzt sei.
Soweit sie nun die Buddha-Lehre anerkennen, stimmen beide Gruppen darin überein, daß innerhalb des Erkennbaren, insbesondere innerhalb der menschlichen Individualität, nichts immerwährend Beharrendes, keine unsterbliche Seele oder kein Ich zu finden ist. Diese Übereinstimmung genügt vollkommen für den Regelfall, daß der Strom der Daseinsfaktoren, der Strom des Lebens, weitergeht. Innerhalb des Sansāra, der Welt der Wiedergeburten, gibt es keine Seele oder kein Ich, das wiedergeboren wird, sondern nur einen Strom von immer wechselnden Daseinsfaktoren, der uns ein Ich vortäuscht. Diese Selbsttäuschung muß überwunden werden, damit der Mensch sich immer mehr der Selbstlosigkeit und damit der Heiligkeit und dem Nirvana nähert. Soweit gibt es keine Meinungsverschiedenheit unter den Buddhisten.
Der Unterschied wird erst aktuell, wenn das letzte Ziel, das Nirvana, erreicht werden soll. Die Täuschung, daß die Persönlichkeit das Ich sei, ist dann vollständig verschwunden, Begierde und Haß, auch in ihren feinsten Regungen, haben gänzlich aufgehört. Was ist dann das Nirvana?
Die einen sagen: nichts, ein Negativum, ein Ausfallswert. Manche gelehrte Bhikkhus in Ceylon sagen: nothing, andere gelehrte Bhikkhus auf Ceylon sagen: bliss unspeakable, unaussprechliche Glückseligkeit, das höchste Glück. (H. v. Glasenapp, "Die Weisheit des Buddha, Seite 120.)
Diejenigen, die das Nirvana für ein Nichts, für einen Ausfallswert halten, glauben, daß das menschliche Wissen unbegrenzt sei, daß es nichts jenseits der Erkenntnisgrenze gebe. Darum sagen sie: Das Nirvana ist nichts. Die anderen, die es für den Zustand unaussprechlicher Glückseligkeit erklären, sind diejenigen, die sich der Begrenztheit unseres Wissens bewußt und daher überzeugt sind, daß es jenseits der menschlichen Erkenntnisgrenze etwas geben kann. Für sie ist das Nirvana etwas Wirkliches, etwas Positives.
Der Unterschied der beiden Auffassungen hat sogar den überlieferten Text des Pali-Kanons beeinflußt und läßt sich darin nachweisen:
Die oft vorkommenden Worte, mit denen beschrieben wird, wie ein Bhikkhu die Befreiung und damit das Nirvana erreicht, werden in einigen Handschriften so wiedergegeben "vimuttasmim vimuttam iti nyānam hoti", in anderen Handschriften aber so: "vimuttasmim vimutt'amhī ti nyānam hoti". Gesprochen klingen beide Lesearten fast gleich, aber in der Schrift sieht man einen wichtigen Unterschied. Die erstere Lesart bedeutet: "In dem Befreiten ist ein Befreites, dieses Wissen entsteht." Die andere: "In dem Befreiten entsteht das Wissen: ich bin befreit."
Nach den Sprachgesetzen des Pali ist die erste Lesart falsch; anstatt "vimuttam iti" müßte es heißen: "vimuttan ti". Die andere Lesart ist sprachlich korrekt.
Kann man glauben, daß Buddha oder, vorsichtiger ausgedrückt, der Verfasser oder die Verfasser des Suttapitaka den grammatischen Fehler gemacht haben, zu sagen: "vimuttam iti"? Einer, der das Pali als lebendige Umgangssprache sprach, kann nur gesagt haben: "vimutt'amhī ti." Erst als das Pali eine tote Sprache geworden war, mehrere Jahrhunderte nach Buddha, etwa um 500 n. Chr., konnte es vorkommen, daß ein Abschreiber, dem das alte Pali nicht mehr geläufig war, fehlerhaft schrieb: "vimuttam iti", und zwar deshalb, weil ihm das "ich" in "amhi" (= "ich bin") anstößig war, da es nicht mehr zu seiner Anattā-Auffassung paßte. Die Sprache selbst ist hier ein Zeuge dafür, daß die Auffassung: "Es gibt kein Ich" erst mehrere Jahrhunderte nach Buddha entstanden sein kann.
"Vimutt'amhi - bin befreit" - so darf mit vollem Recht der befreite Heilige sagen; denn bei ihm ist es ausgeschlossen, daß er die fünf Gruppen der Daseinsfaktoren für sein Ich hielte; für ihn gilt, was Sāriputta dem Yamaka erklärte (S XXII, 85): "Schon in dieser sichtbaren Erscheinung ist der Heilige wahrheitsgemäß und sicher nicht aufzufinden."
Wenn Buddha feierlich sagt: "Es gibt - atthi, nicht bhavati! - ein Nichtgeborenes, Nichtgewordenes, Nichtgeschaffenes, Nichtaufgebautes. Gäbe es dies nicht, so könnte auch nicht ein Ausweg aus dem Geborenen, Gewordenen, Geschaffenen, Aufgebauten erkannt werden", - spricht er damit nicht aus, daß es jenseits des Erkennbaren noch etwas gibt und daß die ganze Erlösungslehre keinen Sinn hätte, wenn es das nicht gäbe?
Wie die Erfahrung lehrt, stehen aber viele, Bhikkhus und Laien, auf dem Standpunkt, daß sie meinen, es gebe nichts jenseits der Erkenntnisgrenze, d.h. das menschliche Wissen sei prinzipiell unbegrenzt, grenzenlos. Mit der Tatsache, daß diese Auffassung besteht, müssen wir uns abfinden. Wer dieser Ansicht ist, der ist nicht zu überzeugen, daß das Ich transzendent und das Nirvana Glückseligkeit ist. Aber ebensowenig kann der, welcher weiß, wie wenig wir wissen, überzeugt werden, daß es für den Menschengeist nichts Unerkennbares gebe, daß der erlöste Heilige einfach vor dem Nichts, vor einem Ausfallswert, stehe und daß Buddha solches gelehrt habe. Diese beiden Auffassungen sind unüberbrückbar; ein Streiten zwischen beiden Lagern ist töricht und sinnlos. Jeder mag seine Auffassung vom Anattā behalten. Einig können und sollen sie sein in der Befolgung des Buddha-Weges. Zuletzt, am Ziel angelangt, wird jeder an sich selbst erfahren, wie es Buddha gemeint hat.
Als der Erhabene einst in Savatthi eine Ansprache an die Bhikkhus gehalten hatte, fragte einer der Bhikkhus namens Moliya Phagguna:
"Wer ist es, der berührt?" Darauf erwiderte der Erhabene:
"Die Frage ist nicht richtig. Ich sage nicht: ,Er berührt.' Wenn ich so spräche, wäre die Frage richtig. Da ich aber nicht so spreche, müßte man richtig fragen: ,Aus welcher Ursache geht Berührung hervor?' oder: ,Wodurch entsteht Berührung?' und darauf wäre richtig zu antworten: ,Aus den sechs Zugängen (oder Sinnesbereichen) geht Berührung hervor,' oder: ,Wenn Zugänge (Sinnesbereiche) vorhanden sind, kann Berührung entstehen, und wenn Berührung vorhanden ist, kann Empfindung entstehen!'
Der Bhikkhu fragte weiter: "Wer ist es, der empfindet?" und wieder erklärte der Erhabene: "Die Frage ist nicht richtig. Ich sage nicht: ,Er empfindet.'" Dann fragte der Bhikkhu: "Wer dürstet?" und immer erwiderte Buddha: "Die Frage ist nicht richtig. Da ich nicht so spreche, müßte man richtig fragen: ,Wodurch entsteht Empfindung, Durst, Ergreifen usw.'" (S 12.12).
Wie sollen wir das verstehen? Muß nicht, wenn berührt, empfunden, gedürstet, ergriffen wird, immer ein Subjekt da sein, das berührt, empfindet, dürstet, ergreift? Das scheint uns eine Denknotwendigkeit zu sein. Und nicht nur uns scheint es so, sondern auch, wie aus dieser und anderen Stellen des Pali-Kanons hervorgeht, den Indern zu Lebzeiten Gotamas schien es eine Denknotwendigkeit zu sein, daß, wo etwas getan wird, ein Täter da sein müsse.
Buddha aber lehrt: In Wirklichkeit gibt es nur ein Tun und keinen Täter, Und wenn wir die Wirklichkeit genau betrachten, können wir uns davon überzeugen, daß es tatsächlich so ist.
Als ein besonders wirksames Mittel zur Erkenntnis der Wirklichkeit hat Buddha immer wieder die Betrachtung über den Körper empfohlen. Wenn man diese Betrachtung richtig durchführt, betrachtet man nicht nur den Körper, wie er augenblicklich ist, sondern - und dies ist das wichtigste - "wie Körper gesetzmäßig entstehen und vergehen". Erinnern wir uns, wie unser Körper war: unmittelbar nach der Zeugung, dann bei der Geburt, dann nach 7 Jahren, dann nach 14, 21 Jahren und so fort bis zum heutigen Tag! Und stellen wir uns deutlich vor, wie er künftig sein wird: in hohem Alter, beim Sterben und nach dem Tode! Wie hat sich der Körper fortwährend verändert und wie wird er sich weiter verändern! Er verändert sich aber nicht in Sprüngen, sondern ganz allmählich; er ist anders beim Erwachen als beim Einschlafen, anders vor der Arbeit als nach der Arbeit, anders vor der Mahlzeit als nach der Mahlzeit; ja, er verändert sich von Augenblick zu Augenblick, mit jedem Atemzug, mit jedem Herzschlag. Nicht in zwei aufeinanderfolgenden Augenblicken ist er völlig der gleiche. Weil aber die Veränderung allmählich vor sich geht, bemerken wir sie gewöhnlich nicht und verbinden unwillkürlich die einzelnen Momente miteinander zu einer Einheit, die in Wirklichkeit nicht existiert. So entsteht der trügerische Schein, daß der Körper etwas Bleibendes, Verharrendes, ein "Ding" sei, gleichwie wir im Kino glauben, die Bilder bewegten sich, während wir doch wissen, daß es nur sehr viele, in rascher Folge wechselnde, aber in jedem Augenblick andere Bilder sind, die uns vorgeführt werden.
Wenn wir glauben, dieser Körper täte etwas, so ist das offenbar eine Täuschung; denn ein Körper, der etwas tun könnte, ist überhaupt nicht vorhanden. Was wir in Wirklichkeit beobachten, ist nur ein ständiges Sichverändern, ein Tun.
Genau das gleiche gilt für die geistig-seelische Komponente der Persönlichkeit, das Fühlen, Denken und Wollen. Betrachten wir, "wie Gefühle und Gedanken gesetzmäßig entstehen und vergehen", so zeigt sich, daß auch hier kein Subjekt zu finden ist, das fühlt und denkt und will, sondern nur ein ständiges Kommen und Gehen, ein Fließen von Gefühlen, Gedanken und Willensregungen.
Hat man sich auf solche Weise überzeugt, daß tatsächlich ein Subjekt nicht vorhanden ist, so drängt sich die Frage auf: Woher kommt es, daß wir jedes Tun mit einem Täter verbinden und glauben, es könne nicht anders sein? Warum denken wir immer in der Form: Subjekt, Prädikat, Objekt? Zum Beispiel: Der Schmied schlägt das Eisen. Offenbar, weil wir es von Jugend auf so gewöhnt sind. Sobald ein Kind sprechen lernt, bildet es Sätze in der Form: Subjekt, Prädikat, Objekt. Es muß so sprechen, weil unsere Sprache seit unvordenklichen Zeiten diese Form der Satzbildung vorschreibt. Und diese Form hat sich gebildet, weil unsere Vorfahren in grauer Vorzeit sie als bequemes Verfahren erfanden, ihre Wahrnehmungen in geordneter Form sprachlich auszudrücken. Weil sich diese Form von Geschlecht zu Geschlecht vererbte, glauben wir heute, es gebe keine andere Form des Denkens und diese Art des Denkens entspreche der Wirklichkeit.
Sprachvergleichung aber lehrt uns, daß diese Denkform Subjekt-Prädikat-Objekt eine Eigentümlichkeit der indo-europäischen Sprachenfamilie ist, zu der das Deutsche ebenso gehört wie das Pali und das Sanskrit. Andere Sprachen jedoch haben andere Denkformen ausgebildet, die der Wirklichkeit besser entsprechen als die unsrige, z.B. das Tibetische.
Der Tibeter sagt und denkt nicht: Der Schmied schlägt das Eisen, sondern er sagt und denkt: "Das Eisen schlagen durch den Schmied, oder, umständlicher übersetzt: Es findet statt "das Eisen schlagen" durch den Schmied. Hier ist der Schmied nicht das Subjekt, sondern gewissermaßen das Werkzeug, das Instrument, mit dem geschlagen wird. Tatsächlich ist nur ein Schlagen da, eine Tätigkeit, ein Tun, aber kein Täter.
Von der unpersönlichen Redeweise, die im Tibetischen allein möglich ist, finden sich übrigens auch in anderen Sprachen noch Reste, z.B. im Deutschen: es freut mich, es schmerzt mich, es ärgert mich, es jammert mich; im Lateinischen: piget, paenitet, taedet, miseret me; im Französischen: il faut; im Englischen: it suits; im Russischen: mniä nushen. Vielleicht sind das Spuren einer älteren Denkweise, die sich im Tibetischen erhalten hat.
Buddha hat jedoch keineswegs immer "unpersönlich" gesprochen. Ein anderes Mal - es war auch in Savatthi - sagte er:
"Die Last will ich euch zeigen und den Lastträger, das Aufnehmen und das Ablegen der Last. Die Last sind die fünf Gruppen des Ergreifens, nämlich Körperlichkeit, Empfindung, Wahrnehmung, unbewußte Tätigkeiten und Bewußtsein; der Lastträger ist die Person (puggala) so und so mit Vor- und Familiennamen; das Aufnehmen der Last ist der Daseinsdrang, der zur Wiedergeburt führt; das Ablegen der Last ist die vollständige Aufhebung und Vernichtung dieses Daseinsdranges." (S 22.22).
Hermann Oldenberg knüpft an dieses Textstück die Bemerkung, hier trete ausnahmsweise eine andere Auffassung hervor, daß es außer der Last auch ein Subjekt, einen Lastträger, gebe. Tatsächlich, ist dies aber keine Ausnahme, sondern die Regel; denn Buddha hat sehr oft, ja gewöhnlich, in der uns und den arischen Indern geläufigen Redeweise Subjekt-Prädikat-Objekt geredet und auch das Wort puggala = Person oder Individuum in diesem Sinne gebraucht; dieses z.B. in Majjhima-Nikaya 12 für den Menschen, der nach dem Tode in einer der 5 gatis oder Lebensumstände wieder erscheint, als höllisches Wesen, als Tier, als Gespenst, als Mensch, als Himmelswesen; in Anguttara-Nikaya I, 19 und Samyutta-Nikaya 55.1, für den Vollendeten; in Itivuttaka 84 für den Vollendeten, den Heiligen und den zum Nirvana Strebenden. Im gewöhnlichen Umgang sagte Buddha wie wir: "Ich bin müde" oder "Ich habe Durst". (D 16, 4), Buddha verschmähte also durchaus nicht, sich der üblichen Redeweise zu bedienen, außer wenn er die Lehre über die wirklichen Zusammenhänge, über die Kette der Abhängigkeitsverhältnisse, darlegte. Und so mögen auch wir weiterhin sagen: "Ich bin müde" oder "Ich, habe Durst" oder "Der Lastträger nimmt die Last auf und legt sie ab", aber wir sollten, von Buddha belehrt, uns stets darüber klar sein, daß wir "konventionell" und ungenau reden und daß in Wirklichkeit ein Subjekt, ein Täter, nicht zu finden ist.
Um einem Mißverständnis vorzubeugen, muß noch hinzugefügt werden: Diese Erkenntnis "Ein Tun und kein Täter" hat nichts mit der Anattā-Lehre zu tun! Die Anattā-Lehre gibt die Antwort auf die Frage nach dem Attā, dem Atman der Upanischaden, dem wahren Ich oder der "unsterblichen Seele". Die Antwort besagt: Alles, was wir mit den Sinnen und dem Verstande erkennen können, ist nicht der Attā, nicht das wahre Ich. Über den Attā läßt sich nichts aussagen, weder daß er ist, noch daß er nicht ist; denn die Frage nach dem Attā überschreitet die Möglichkeit der Erkenntnis, sie ist transzendent. Attā ist überhaupt kein "Begriff", sondern nur ein Hinweis auf etwas nicht zu Begreifendes. Hier aber, bei der Lehre "Ein Tun und kein Täter", handelt es sich dagegen um die richtige Erkenntnis des mit unseren Sinnen und unserem Verstande Erkennbaren. Die Frage nach dem unerkennbaren, unbegreifbaren Attā wird hier gar nicht berührt, nicht einmal die Frage nach den Grenzen der Erkenntnis, sondern wir befinden uns hierbei ganz innerhalb der erkennbaren, der uns vertrauten, alltäglichen Welt und lernen, genau hinzuschauen und zu prüfen, was wirklich da ist, mit dem Ergebnis, daß wir einsehen, es gibt nur Bewegungen, Zustandsänderungen, Tätigkeiten, aber keine Beweger, keine Täter.
In dem obigen Zitat aus Samyutta-Nikaya 12.12 habe ich das Wort āyatana, das gewöhnlich mit "Gebiet" oder "Bereich" (der sechs Sinne) übersetzt wird, durch "Zugang" wiedergegeben. Ich folge damit dem Beispiel der chinesischen Buddhisten, die āyatana mit "yu" = "hineingehen, eindringen, Zugang" übersetzen. Die buddhistische Terminologie der Chinesen stammt von den indischen Bhikkhus, die einst die Buddha-Lehre nach China brachten; sie konnten durch die den Sinn verkörpernden chinesischen Schriftzeichen besser deutlich machen, was durch Pali- oder Sanskrit-Worte ausgedrückt werden soll, als es nur durch Worte einer anderen Sprache möglich ist. Wenn sie nun in diesem Falle das Hineingehen, Eindringen durch das Schriftbild andeuten, so entspricht dies auch genau dem Pali-Wort, sofern es von der Wurzel "yat" abzuleiten ist, und es trifft den Sinn besser als "Bereich" oder "Gebiet". Das Pali-Wort sankhāra geben die Chinesen durch "hsing" = "handeln, Tätigkeit". Auch dies ist treffend, und ich folge ihnen, indem ich für sankhāra "unbewußte Tätigkeiten" sage.
Unter der Überschrift "Die drei Welten" lesen wir in Karl Seidenstückers "Pali-Buddhismus in Übersetzungen" folgendes Zitat aus D XXXIII, 1, 10:
"Es gibt drei Regionen: Region der Sinnenlust, Region der Formen, Nichtformregion."
In einer großen Tabelle hat Seidenstücker "Die Welten und die Wesen" aufgezählt: 3 Welten, 5 Wege der Wiedergeburt (gati), 26 Himmel, 31 Wesensklassen.
Aus M 12 sind uns diese 5 Gatis bekannt, aus A IX, 24 einige der Götterklassen, die auch an anderen Stellen, wie im Kevaddha-Sutta D XI und in D XV, genannt werden. Wo aber steht im Pali-Kanon etwas über die drei Welten? Nirgends! Weder im Vinaya noch im Sutta noch (soweit mir bekannt) im Abhidhamma. Die Worte kāmaloka, rūpaloka, arūpaloka (Welt der Sinnenlust, Welt der Formen, Welt der Nichtform, siehe loka) und auch tiloka (Dreiwelt) kommen im Pali-Kanon überhaupt nicht vor.
Es gibt aber drei Stellen, an denen kāma-bhava, rūpa-bhava und arūpa-bhava genannt werden; auf Deutsch: "werden" oder besser "leben" in Sinnenlust, leben im Sichtbaren, Anschaulichen und leben im Unsichtbaren, in abstrakten Begriffen, und zwar D XV, 5, D XXXIII, 1, 10 und S 12.2. Außerdem finden sich an zwei Stellen die Ausdrücke kāma-dhātu, rūpa-dhātu und arūpa-dhātu, und zwar D XXXIII, 1,10 und D XXXIV, 1, 4. Dhātu entspricht hier dem bhava und ist deshalb am besten mit "Zustand" zu übersetzen.
In D XV, wo die Kette der Abhängigkeitsverhältnisse (paticcasamuppāda) erklärt wird, werden die drei Bhavas beiläufig als Beispiele zur Erläuterung des Begriffs "bhava" erwähnt; sie werden hier anscheinend als bekannt vorausgesetzt, bilden aber keinen wesentlichen Bestandteil der Lehrrede und sind wahrscheinlich eine spätere Einfügung.
D XXXIII ist das Sangīti-Suttanta, in welchem berichtet wird, Sāriputta habe eine Übersicht über die ganze Buddhalehre gegeben in Form einer Aufzählung aller Lehrsätze und Lehrgegenstände, geordnet in Gruppen von 1 bis 10 nach der Methode, die dem Aṅguttara-Nikāya zugrunde liegt. Der Stil dieses Sutta läßt erkennen, daß es erst später - lange nach Sāriputtas Tode - verfaßt worden ist, zu einer Zeit, als man das Bedürfnis empfand, eine Art Katechismus der Buddhalehre zu schaffen, um sich mit anderen Schulen auseinanderzusetzen, eine Vorarbeit für den Abhidhamma. Ein ähnliches, auch dem Sāriputta (fälschlich) zugeschriebenes Spätwerk ist D XXXIV.
In den ältesten Teilen des Kanons findet sich keine Spur der Dreiteilung in kāma, rūpa und arūpa, sondern nur eine Zweiteilung in rūpa und arūpa, aber auch diese nur an vier Stellen: M 60, Sn 754, Itivuttaka 62 und Udana I, 10.
Rūpa hat im Vinaya und im Sutta immer die Bedeutung "Objekt des Gesichtssinns, sichtbarer Gegenstand". Rūpa gehört als Objekt zum Sehen, wie der Ton zum Hören, der Duft zum Riechen, der Saft zum Schmecken und das Tastobjekt zum Tastsinn. Demgemäß können die Ausdrücke in M 60 "devā rūpino" und "devā arūpino" nur bedeuten: "sichtbare Devas" und "unsichtbare Devas". Die ersteren werden hier als manomayā, die letzteren als sannyāmayā charakterisiert; "manomaya" bedeutet: "durch Denken, durch Geisteskraft hervorgebracht" oder "aus Geist bestehend"; die Bedeutung von sannyāmaya ist unsicher. Sannyā kann hier nicht "sinnliche Wahrnehmung" sein, denn was keine Gestalt hat, was unsichtbar ist, kann nicht durch die Sinne wahrgenommen werden, sondern vielleicht, wie an manchen anderen Stellen, "Bewußtsein". Dann wäre sannyāmaya = "nur als Vorstellung im Bewußtsein existierend", und der Unterschied zwischen manomaya und sannyāmaya wäre etwa der zwischen Vision und Halluzination.
ln demselben Sutta M 60 heißt es weiter: rūpādhikaranam dandādāna . . . musāvādā, "infolge von Sichtbarem (oder: wegen sichtbarer Dinge) gibt es Gewalttätigkeit . . . und Lüge"; n'atthi kho pan'etam sabbaso arūpe, "wo nichts Sichtbares ist, gibt es dieses überhaupt nicht". - Von "Welten" ist hier nicht die Rede.
In Sn 754 und Itivuttaka 62 heißt es: rūpūpagā sattā āruppatthāyino, "Wesen, die in sichtbare Gestalt eingetreten sind, und die in der Unsichtbarkeit verweilenden" (āruppa ist Neutrum zu arūpa, entstanden aus a-rūpya - das Dasein ohne sichtbare Gestalt, die Unsichtbarkeit.)
In Udana I, 10: atha rūpā arūpā ca sukhadukkhā pamuccati = "dann ist er befreit von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Glück und Leid". Dies ist m. W. die einzige Stelle, wo man rūpa und arūpa zutreffend mit "Welten" übersetzen kann: "er ist befreit von der sichtbaren und unsichtbaren Welt, von Glück und Leid"; aber auch hier bedeutet dann "Welt" so viel wie "Bewußtseinszustand", und eine sichere Erklärung dafür, was hier unter rūpa und arūpa zu verstehen ist, findet sich nirgends.
Wir können jedoch einen Hinweis aus M 41 entnehmen, wo folgende vier Devaklassen erwähnt werden: ākāsānancāyatanūpagā, vinnyānancāyatanūpagā, ākincannyāyatanūpagā, nevasannyānāsannyāyatanūpagā = "Devas, die das Gebiet der Raumunendlichkeit erreichen, Devas, die das Gebiet der Bewußtseinsunendlichkeit erreichen, Devas, die das Gebiet des Nichts erreichen, Devas, die das Gebiet von Weder-Wahrnehmung-noch-Nichtwahrnehmung erreichen". Wenn man annimmt, daß diese Devas dieselben sind, die in M 60 als arūpino bezeichnet werden, dann existieren diese Devas in denjenigen Jhānas, die - nicht im Kanon, sondern erst von späteren Kommentatoren - arūpajjhānā genannt werden, also in den abstrakten Versenkungen. Unter der Voraussetzung, daß diese Annahme zutrifft, bedeutet das Wort arūpa in dem zitierten Udāna den Zustand oder "die Welt" dessen, der sich in den abstrakten Versenkungen befindet.
Das Ergebnis unserer Untersuchung läßt sich dahin zusammenfassen:
Im ältesten Buddhismus, zu Lebzeiten Gotamas, kannte man nur die Zweiteilung: rūpa und arūpa; rūpa ist das Sichtbare, arūpa das Unsichtbare. Auf den Bewußtseinsinhalt bezogen, ist rūpa das Anschauliche, Konkrete, arūpa der unanschauliche, abstrakte Begriff. Rūpa, das Anschauliche, ist das Vorstellungsobjekt in den vier Versenkungsstufen, durch welche Gotama zur Bodhi gelangte; arūpa, der abstrakte Begriff (wie Raumunendlichkeit usw.) ist das Vorstellungsobjekt in jenen anderen Versenkungen, die Gotama vorher bei Aara Kālāma und Uddaka Rāmaputta kennen gelernt und als unbefriedigend, weil nicht zum Nirvana führend, aufgegeben hatte. In einer späteren Periode, in der die Suttas D 33 und 34 verfaßt und andere, wie D 4 und S 12, überarbeitet wurden, fügte man als dritte Abteilung kāma hinzu und redete von bhava ("werden" oder "leben") in Sinnenlust, in (reiner) Anschauung und im Abstrakten; und von dhātu ("Zustand") der Sinnenlust, des Anschauens und des abstrakten Begriffs. Von drei Welten (loka) ist auch in dieser Periode nicht die Rede.
Noch später, als nach und nach die Bücher des Abhidhamma entstanden, kam in diesem Zusammenhang ein neues Wort auf: avacara = "lebend in oder mit, sich bewegend in" und als Neutrum = "Sphäre, Gebiet, Bereich", und man sprach von kāmāvacara, rūpāvacara und arūpāvacara, also vom "Gebiet der Sinnenlust, Gebiet des Anschaulichen, Gebiet des Abstrakten". Kāmāvacara kommt einmal auch in D 1, 3, 11 vor, wodurch sich dieses Brahmajālasutta als später entstanden oder wenigstens später überarbeitet erweist (vgl. Herbert Günther, "Das Seelenproblem im älteren Buddhismus", S. 136f).
Diese Ausdrücke finden sich auch in dem noch jüngeren Abhidhammatthasangaha, wo gelehrt wird, daß es im kāmāvacara 8 Klassen des heilsamen (kusala) Bewußtseins gibt, im rūpāvacara 5 Jhānas (man hatte zwischen die 2. und die 3. Stufe der Versenkung eine weitere eingeschoben) und im arūpāvacara 4 Jhānas. Hinzu kommt hier als 4. Gebiet der lokuttaramagga, der überweltliche Weg, der aus den 4 Stufen der Heiligkeit besteht. Von "drei Welten" (tiloka) weiß aber selbst der Abhidhammatthasangaha noch nichts! Die avacarā werden hier deutlich als Bewußtseinsgebiete gekennzeichnet.
Das Wort kāmaloka, Welt der Sinnenlust, kommt m. W. zum ersten Mal im Visuddhimagga Buddhaghosas vor, rund tausend Jahre nach Buddha, und der Ausdruck tiloka, drei Welten oder Dreiwelt, tritt zum ersten Mal auf im Saddhammopāyana (JPTS 1887, Seite 35f), einer Dichtung, deren Verfasser und Entstehungszeit unbekannt sind; Geiger (in "Pali, Literatur und Sprache") stellt sie zwischen das 14. und das 15. Jahrhundert nach Chr.
Für die Behauptung, es gebe drei Welten, nämlich
für diese Behauptung in Nyānatilokas "Buddhist Dictionary" gibt es im Pali-Kanon keine Grundlage. Weder Buddha noch seine ersten Jünger noch die späteren Verfasser des Abhidhamma haben jemals von drei Welten geredet.