Majjhima Nikāya, Mittlere Sammlung

ZWEITER TEIL: DIE MITTLEREN FÜNFZIG - Majjhimapannāsam

X. BUCH: BRAHMANEN - Brāhmanavaggo

91. Brahmāyu Sutta

 

Vorbemerkung: Die Beschreibung der äußeren Erscheinung Buddhas kann erst entstanden sein, als niemand mehr lebte, der Buddha gesehen hatte. Sie ist eine an mehreren Stellen des Kanons mit den gleichen Worten wiederkehrende Legende, die sich zusammensetzt aus uraltem brahmanischen, also vorbuddhistischem Sagenstoff und aus Bestandteilen die auf Kultbildwerke hinweisen. Altbrahmanisch sind wahrscheinlich die Symbole für übermenschliche Fähigkeiten, wie die große Zunge für übernormale Beredsamkeit, das verhüllte Zeugungsglied für die geheimnisvolle Zeugungskraft der Natur oder der Gottheit, das Haarbüschel zwischen den Augenbrauen für das Auge der Weisheit. Dagegen sind die geringelten Haare, die Häute zwischen Fingern und Zehen und der turbanartige Kopf wahrscheinlich Mißdeutungen von Kultbildwerken, aber nicht etwa von ältesten Buddhastatuen, sondern im Gegenteil von jüngeren, die selbst schon mißdeutende Nachahmungen alter Kunstwerke waren. (Näheres hierüber bei A. Foucher, <L'Art Gréco-Bouddhique>, II, S. 29; Winternitz, <Geschichte der indischen Literatur> II, 1, S. 200; Leonhard Adam, <Buddha-Statuen>, Stuttgart 1925, S. 29 f.) Damit rückt die Entstehungszeit dieses Suttas in das 1. oder 2. Jahrhundert nach Chr. oder 600 bis 700 Jahre nach Buddha.

 

So habe ich es gehört:

Einst wanderte der Erhabene durch das Land Videha in Begleitung vieler Bhikkhus. Damals wohnte in Mithila der Brahmane Brahmayu, ein alter, ehrwürdiger Gelehrter, im 120. Lebensjahr, ein Meister der drei Veden, kundig ihrer Worterklärung und Deutung, ihrer Lautlehre und Grammatik und ihrer Sagen, ein Erklärer, ausgestattet mit den Zeichen eines Übermenschen, wie die volkstümliche Schilderung sie angibt. Dieser hörte, daß der Samana Gotama durch das Land Videha in Begleitung vieler Bhikkhus wandere und daß ihm der Ruf vorausgehe, er sei ein Heiliger, ein voll Erwachter, es lohne sich, einen solchen Heiligen zu sehen. Nun hatte der Brahmane Brahmayu einen Schüler, den jungen Brahmanen Uttara, der gleichfalls, wie sein Meister, der drei Veden kundig war. Diesen schickte Brahmayu zum Samana Gotama mit dem Auftrag zu erforschen, ob Gotama so sei wie sein Ruf, und ihm darüber zu berichten, und er fügte hinzu: «Überliefert sind uns in den Versen 32 Zeichen eines Übermenschen. Für den, der mit ihnen ausgestattet ist, gibt es nur zwei Lebenswege: Wenn er im häuslichen Leben bleibt, wird er ein weltbeherrschender König, ein gerechter König, dessen Machtbereich sich über die ganze Erde erstreckt, dessen Herrschaft gesichert ist und der sieben Schätze besitzt: ein kostbares Rad, einen kostbaren Elefanten, ein kostbares Roß, einen kostbaren Edelstein, eine kostbare Frau, einen kostbaren Verwalter und einen kostbaren Berater. Er hat mehr als tausend heldenhafte Söhne, die der Schrecken feindlicher Heere sind. Die ganze Erde bis an die Küsten des Meeres unterwirft er ohne Schwertstreich und regiert sie in Gerechtigkeit. Wenn er aber in die Heimatlosigkeit zieht, wird er ein Heiliger, ein voll Erwachter, der die Welt entschleiert. Lieber Uttara, ich werde dir die Sprüche mitteilen, du wirst sie behalten.»

Uttara übernahm den Auftrag, wanderte durch das Land Videha, bis er den Erhabenen fand, begrüßte ihn, setzte sich zu ihm und suchte bei ihm die 32 Zeichen eines Übermenschen. Er fand alle bis auf zwei über die er im Ungewissen blieb: das in der Hauthülle verborgene Zeugungsglied und die große Zunge. Da der Erhabene dies bemerkte, bewirkte er durch Suggestion, daß Uttara das in der Hauthülle verborgene Zeugungsglied sah, dann streckte er die Zunge heraus und berührte mit ihr beide Ohren und beide Nasenlöcher und bedeckte die ganze Stirn mit der Zunge. Nun wußte Uttara, daß Gotama alle 32 Zeichen eines Übermenschen besaß, und beschloß, ihm zu folgen, um seinen Lebenswandel zu beobachten. Sieben Monate lang folgte er ihm wie sein Schatten. Darauf wanderte Uttara zurück nach Mithila zum Brahmanen Brahmayu und berichtete ihm:

«Der Samana Gotama ist wirklich so, wie sein Ruf ihn darstellt. Er hat auch die 32 Zeichen eines Übermenschen: Er steht fest auf seinen Füßen, an seinen Fußsohlen sind Räder mit tausend Speichen, mit Felge, Nabe und allem Zubehör zu sehen, die Fersen sind schmal, die Zehen lang, zwischen den Fingern und den Zehen hat er eine netzartige Bindehaut, die Knöchel sind mitten über dem Fuß, seine Glieder sind zart wie die einer Gazelle, aufrecht stehend kann er ohne sich zu bücken mit den Handflächen die Knie berühren, das Zeugungsglied ist in einer Hauthülle verborgen, seine Haut ist goldfarbig und so glatt, daß kein Staub darauf haftet, die Haare stehen einzeln in den Poren und aufrecht, sie sind glänzend schwarz, rechts herum geringelt, er hat herrliche gerade Glieder, sein Oberkörper gleicht dem eines Löwen, seine Schultern sind breit, der Leib hat den Umfang eines Feigenbaums und ist so lang wie die ausgebreiteten Arme, die Schultern sind gleichmäßig gerundet, er hat den feinsten Geschmack, seine Wangen erinnern an die eines Löwen, er hat alle Zähne, die gleichmäßig gewachsen, lückenlos, glänzend weiß und lang sind, seine Zunge ist sehr groß, seine Stimme klingt feierlich, klar und melodisch, seine Augen sind tiefschwarz, seine Wimpern gleichen denen einer jungen Kuh, zwischen den Augenbrauen ist ihm ein zartes weißes Haarbüschel gewachsen, sein Kopf hat die Gestalt eines Turbans. Das sind die 32 Zeichen eines Übermenschen, die Herr Gotama besitzt.

Wenn Herr Gotama geht, tritt er mit dem rechten Fuß an, seine Schritte sind nicht zu lang und nicht zu kurz, er geht nicht zu schnell und nicht zu langsam, beim Gehen stößt er nicht mit den Waden oder den Knöcheln aneinander und schlenkert nicht mit den Schenkeln hin und her, sein Unterleib schwankt nicht, er tritt nicht mit Körperwucht auf. Wenn er sich umblickt, wendet er den ganzen Körper um, er läßt die Blicke nicht nach oben und unten und nicht hin und her schweifen, er blickt nur einen Klafter weit vor sich, so daß sein hohes Wissen und Schauen nicht behindert wird. Wenn er in ein Haus tritt, wendet er den Leib nicht hin und her, an einen Stuhl tritt er nicht zu fern und nicht zu nahe heran und setzt sich, ohne den Stuhl mit der Hand zu berühren, er läßt sich nicht auf den Stuhl niederfallen. Wenn er sitzt, hält er Hände und Füße ruhig, legt nicht die Schenkel oder die Knöchel übereinander und stützt nicht das Kinn mit der Hand. In einem Hause sitzend ist er nicht ängstlich oder befangen, er sitzt da, als wäre er allein. Nimmt er eine Wasserschale, so schwenkt er sie nicht hin und her, er nimmt nicht zu wenig und nicht zu viel Wasser hinein. Beim Auswaschen der Schale verspritzt er kein Wasser. Um die Hände zu waschen, setzt er die Schale nicht auf den Boden, er wäscht zugleich die Schale und die Hände. Dann gießt er das Wasser nicht zu fern und nicht zu nahe aus, ohne es zu verspritzen.

Wenn er Milchreis erhält, dreht er die Schale nicht hin und her, er nimmt nicht zuwenig und nicht zuviel. Curry nimmt er nur als Würze und wälzt nicht den Bissen übermäßig in Curry. Zwei- oder dreimal wendet er den Bissen im Munde um, bevor er ihn verschluckt, so daß kein Reiskorn unzerkaut in den Magen kommt und kein Reiskorn im Munde zurückbleibt. Dann erst nimmt er den nächsten Bissen. Den Geschmack empfindet er beim Essen wohl, aber er verlangt nicht genießerisch danach. Acht Eigenschaften hat seine Nahrungsaufnahme: Er nimmt die Nahrung nicht zum Vergnügen und zum Behagen, nicht um schön und üppig zu werden, sondern nur um den Fortbestand des Körpers zu sichern, um Schaden zu verhüten und einen reinen Lebenswandel führen zu können. Dabei bedenkt er: <So werde ich das Ergebnis früheren Wirkens absterben lassen und kein Ergebnis neuen Wirkens aufkommen lassen, ich werde meinen Lebensunterhalt haben, keinen Tadel verdienen und mich wohl befinden.> Wenn er sich nach dem Essen Wasser in die Schale gießen läßt, dreht er sie nicht hin und her, nimmt nicht zuwenig und nicht zuviel Wasser, beim Waschen verspritzt er kein Wasser und stellt die Schale nicht auf den Boden, zugleich wäscht er Hände und Schale. Dann gießt er das Wasser nicht zu fern und nicht zu nahe aus, stellt die Schale auf den Boden, nimmt sie nicht zwecklos in die Hand und beschäftigt sich nicht zu lange mit ihr.

Nach dem Essen bleibt er noch eine kurze Weile schweigend sitzen, dehnt aber die Pause nicht zu lange aus, dann ist er mit dem Essen zufrieden, tadelt die Speisen nicht und verlangt keine anderen, sondern hält der Tischgesellschaft einen anregenden, lehrreichen Vortrag, durch den er sie erfreut. Darauf steht er auf und geht fort, nicht zu schnell und nicht zu langsam, nicht so, als ob er fortschleichen wollte. Sein Gewand ist nicht zu hoch und nicht zu tief geschürzt, nicht zu eng und nicht zu weit für seinen Körper, es wird nicht vom Winde aufgeweht, Staub und Schmutz haften nicht an seinem Körper.

Ist er in einen Park gegangen, so setzt er sich auf eine Bank und wäscht sich die Füße, ohne besonders auf Fußpflege zu achten. Danach setzt er sich mit gekreuzten Beinen nieder, den Körper gerade aufgerichtet, und übt Achtsamkeit (satipatthāna). Dabei kommt ihm kein Gedanke, der ihm selbst oder anderen schaden könnte, sondern er ist vielmehr auf das Wohl der ganzen Welt bedacht. Den Anwesenden legt er die Lehre dar, er ruft niemand herbei und weist niemand ab, sondern er hält einen anregenden, lehrreichen Vortrag, der den Leuten gefällt. Seine Stimme hat acht Eigenschaften: sie ist deutlich, verständlich, wohlklingend, angenehm zu hören, fließend, nicht abgehackt, tief und sonor. Er spricht so, daß die Anwesenden ihn gut verstehen können, aber nicht so laut, daß seine Stimme weiter hinausschallt. Nach dem Vortrag gehen die Leute fort, indem sie sich noch einmal umschauen und bedauern, daß der Vortrag schon zu Ende ist.

Ich sah Herrn Gotama gehen, stehen, im Hause schweigend sitzen, im Hause speisen und nach dem Essen schweigen und dann mit dem Essen zufrieden. Ich sah ihn in den Park gehen, dort schweigend sitzen und hörte ihn zu den Anwesenden reden. Herr Gotama ist wirklich so und noch besser.»

Nach diesem Bericht stand der Brahmane Brahmayu auf, entblößte eine Schulter, verneigte sich mit zusammengelegten Händen in der Richtung zum Erhabenen hin und sprach dreimal: «Ehre sei ihm, dem Erhabenen, Heiligen, völlig Erwachten!» Und er fügte hinzu: «Ach, wenn ich doch einmal mit dem Erhabenen zusammenkommen und mit ihm reden könnte!»

Der Erhabene kam auf seiner Wanderung durch das Land Videha auch nach Mithila und nahm dort Aufenthalt im Makhadeva-Mangohain. Dort suchte ihn der Brahmane Brahmayu auf und fragte ihn in Versen, ob er alle 32 Zeichen eines Übermenschen besitze. Der Erhabene zeigte sie ihm, wie vorher dem Uttara, und bestätigte in Versen, daß er alle 32 Zeichen habe. Dann fragte ihn Brahmayu:

 

«Wie wird man ein Brahmane, wie wird man vedenkundig?
Wie hat man dreifach Wissen und was nennt man <gelehrt>?
Wie kann man heilig werden und wie vollkommen sein?
Wer ist ein wahrer Weiser und wen nennt man <erwacht>?»

 

Der Erhabene antwortete:

 

«Wer vorgeburtlich Dasein und Höll' und Himmel schaut,
Nicht wiederkehrt, ein Meister des Wissens, der ist weise.
Wer reines Denken kennt, ganz frei von Leidenschaft,
Geburt und Tod getilgt hat, im Leben völlig rein,
Erhaben über alles, der wird <erwacht> genannt.»

 

Darauf nahm Brahmayu seine Zuflucht zu Buddha, zur Lehre und zur Jüngergemeinde und bekannte sich als Laienanhänger, lud den Erhabenen zum Mahle ein und bewirtete ihn. Bald nachdem der Erhabene seine Wanderung fortgesetzt hatte, starb Brahmayu.


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