Vorbemerkung: Auch dieses Sutta ist am Wortschatz und am Stil als ein Werk späterer Zeit zu erkennen, also nicht echtes Buddhawort. Es scheint aber einen echten Kern zu enthalten in der Darlegung, wie man der Wahrheit näherkommt und sie endgültig erreicht. In der Übersetzung sind die unwichtigen Stellen verkürzt wiedergegeben.
So habe ich es gehört:
Einst wanderte der Erhabene in Begleitung vieler Bhikkhus durch das Land Kósala und kam zum Brahmanendorf Opasāda. Im Norden dieses Dorfes, im Salawald Götterhain nahm er Aufenthalt. Opasāda war ein Dorf mit vielen Einwohnern, mit viel Gras, Holz, Wasser und Getreide, eine Stiftung des Königs Pasénadi von Kósala. Dort wohnte damals der Brahmane Canki.
Die brahmanischen Hausherren des Dorfes hörten, daß der Samana Gotama angekommen war, der in dem Ruf stand, ein Heiliger, ein Vollerwachter zu sein, und sie zogen in großen Scharen in nördlicher Richtung hinaus nach dem Götterhain. Als Canki das sah, fragte er seinen Diener, was das zu bedeuten habe. Der Diener sagte ihm, daß die Brahmanen den Samana Gotama aufsuchen wollten. Darauf schickte er den Diener hinaus und ließ die Brahmanen bitten zu warten, er wolle mitgehen.
Damals waren 500 Brahmanen aus verschiedenen Ländern zu einer Beratung nach Opasāda gekommen. Als diese hörten, daß Canki den Samana Gotama aufsuchen wollte, baten sie ihn, das nicht zu tun; das sei unter seiner Würde, der Samana Gotama müsse zu ihm kommen! Canki aber rühmte die Vorzüge Gotamas und erklärte, es gezieme ihm, zu Gotama zu gehen und ihn als seinen Gast ehrerbietig zu begrüßen[1]. Dann ging Canki mit vielen Brahmanen zum Erhabenen, begrüßte ihn höflich und setzte sich zu ihm. Der Erhabene saß gerade mit alten Brahmanen im Gespräch zusammen, und ein junger Brahmane namens Kapāthika, ein sechzehnjähriger Jüngling mit kahlgeschorenem Kopf, ein gründlicher Kenner der drei Veden, der in dieser Gesellschaft saß, machte immer wieder Zwischenbemerkungen. Das verbat sich der Erhabene und sagte, Kapāthika solle warten, bis das Gespräch zu Ende sei. Canki aber bat den Erhabenen, den jungen Kapāthika nicht zurechtzuweisen, Kapāthika sei ein vornehmer und sehr gelehrter junger Herr, der imstande sei, mit Herrn Gotama zu verhandeln. Als nun der Erhabene den jungen Kapāthika anblickte, sagte dieser: «Was von den Brahmanen der Vorzeit an Sprüchen und Liedern in Körben[2] überliefert ist, das allein ist nach übereinstimmender Meinung der Brahmanen Wahrheit, alles andere ist Irrtum. Herr Gotama, was sagt Ihr dazu?» Der Erhabene erwiderte: «Gibt es einen einzigen Brahmanen, der sagt, er habe selbst erkannt und geschaut, daß dies allein Wahrheit, alles andere aber Irrtum ist?» - «Nein, Herr Gotama!» - «Oder gibt es einen einzigen Lehrer oder Lehrerslehrer der Brahmanen bis sieben Generationen rückwärts, der sagen könnte, er habe selbst erkannt und geschaut, daß dies allein Wahrheit und alles andere Irrtum ist?» - «Nein, Herr Gotama!» - «Oder haben die vorzeitlichen Seher der Brahmanen, die Verfasser der Sprüche und Lieder, wie Atthaka, Vāmaka, Vamadeva, Vessamitta, Yamataggi, Angirasa, Bharadvaja, Vasettha, Kāssapa, Bhagu - haben diese gesagt, sie hätten selbst erkannt und geschaut, daß dies allein Wahrheit, alles andere aber Irrtum ist?» - «Nein, Herr Gotama!» «Wie in einer Reihe Blinder, die aneinander hängen, der vorderste nichts sieht, der mittlere nichts sieht und der hinterste nichts sieht, ebenso erweist sich die Überlieferung der Brahmanen gewissermaßen als eine Reihe Blinder, von denen der vorderste, der mittlere und der hinterste nichts sieht. Erweist sich unter diesen Umständen der Glaube der Brahmanen nicht als grundlos?» - Kapāthika erwiderte: «Nicht nur um den Glauben ist es den Brahmanen zu tun, sondern auch um die Überlieferung.» - «Erst gingst du», sagte darauf der Erhabene, «auf den Glauben aus, jetzt redest du von Überlieferung. - Es gibt fünf Tätigkeiten, die in dieser Welt zweideutig sind: glauben, Gefallen finden, nachsprechen, sorgfältig überlegen und geduldig prüfen. Man glaubt etwas fest, und doch ist es hohl und leer und unwahr, und wenn man etwas nicht glaubt, ist es wahr und echt und richtig; man findet an etwas Gefallen, und doch ist es hohl und leer und unwahr, und wenn einem etwas nicht gefällt, ist es wahr und echt und richtig; man spricht etwas gut nach, man überlegt es gründlich, man prüft es geduldig, und doch ist es hohl und leer und unwahr, und wenn man etwas nicht gut nachspricht, nicht gründlich überlegt und nicht geduldig prüft, ist es wahr und echt und richtig. Für verständige Menschen, welche die Wahrheit suchen wollen, genügt das nicht, um zu dem sicheren Schluß zu kommen, nur dies sei Wahrheit, alles andre Irrtum.» Darauf fragte Kapāthika: «Wie sichert man denn die Wahrheit? Bitte, Herr Gotama, sagt mir das!» Der Erhabene erwiderte: «Wenn jemand glaubt und dann sagt Ich glaube das, dann sichert er die Wahrheit, zieht aber nicht den Schluß, daß dies allein Wahrheit sei und alles andere Irrtum. Wenn jemand an etwas Gefallen findet und dann sagt: Das gefällt mir, wenn jemand etwas nachspricht und dann sagt: Ich spreche das nach, wenn jemand etwas überlegt und dann sagt: Ich habe mir das überlegt, und wenn jemand etwas geduldig prüft und dann sagt: Ich habe das geprüft, so sichert er die Wahrheit, zieht aber nicht den Schluß, daß dies allein Wahrheit sei und alles andre Irrtum. Auf diese Weise lehre ich die Wahrheit sichern, aber das ist noch nicht die Annäherung an die Wahrheit.»
«Bitte, Herr Gotama, erklärt mir noch, wie man sich der Wahrheit nähert!» - «Wenn ein Bhikkhu sich in der Nähe eines Dorfes aufhält, sucht ihn ein Hausherr auf und forscht, ob der Bhikkhu Regungen der Gier, des Hasses oder der Verblendung habe, ob er aus Gier, aus Haß oder aus Verblendung fälschlich sagen würde, er wisse etwas, was er nicht weiß, oder ob er andere so[3] unterrichten würde, daß es ihnen für lange Zeit zum Unheil und Leiden gereichen würde. Dann erkennt er, daß jener nicht so ist, sondern daß der Lebenswandel dieses Ehrwürdigen in Werken, Worten und Gedanken untadelig ist. Die Lehre, die er verkündet, ist tief, schwer einzusehen, schwer zu verstehen, friedreich, erhaben, alles Denken übersteigend, geheimnisvoll, nur von Weisen zu fassen, so kann ein schlechter Mensch nicht reden. Wenn er ihn erforscht hat und zu diesem Ergebnis gekommen ist, dann faßt er Vertrauen zu ihm. Hat er Vertrauen gefaßt, so nähert er sich ihm und verehrt ihn. Wenn er ihn verehrt, schenkt er ihm Gehör und hört die Lehre. Hat er sie gehört, so prägt er sie sich ein. Hält er sie fest im Gedächtnis, so forscht er nach ihrem Sinn. Während er den Sinn erforscht, neigt er sich ihr zu. Hat er sich ihr zugeneigt, so willigt er ein. Hat er eingewilligt, so wagt er sich näher heran. Hat er sich näher herangewagt, so wägt er sie ab. Hat er sie abgewogen, dann bemüht er sich um sie. Durch seine Bemühung macht er sie sich vollkommen klar, und hat er sie recht verstanden, so durchschaut er sie in allen Einzelheiten. Auf diese Weise kommt man der Wahrheit nahe. So erkläre ich die Annäherung an die Wahrheit, aber das ist noch nicht die endgültige Erreichung der Wahrheit.»
«Bitte, Herr Gotama, erklärt mir noch, wie man die Wahrheit endgültig erreicht!» - «Man erreicht die Wahrheit endgültig, wenn man dieses Verfahren Schritt für Schritt pflegt, entfaltet und viel übt.»
Kapāthika fragte weiter, was bei diesem Verfahren zur endgültigen Erreichung der Wahrheit das Wichtigste sei. Der Erhabene antwortete: «Die Bemühung.» - «Und was ist wichtig für die Bemühung?» - «Das Abwägen.» - «Und für das Abwägen?» - «Das Sich-heranwagen.» - «Und für das Sich-heranwagen?» - «Das Billigen.» - «Und für das Billigen?» - «Die Hinneigung.» - «Und für die Hinneigung?» - «Die Erforschung des Sinnes.» - «Und für die Erforschung des Sinnes?» - «Das Sich-einprägen der Lehrsätze.» - «Und für das Sich-einprägen der Lehrsätze?» - «Das Hören der Lehre.» - «Und für das Hören der Lehre?» - «Das Gehörschenken.» - «Und für das Gehörschenken?» - «Die Verehrung.» - «Und für die Verehrung?» - «Das Nähertreten.» - «Und für das Nähertreten?» - «Das Vertrauen.»
Nun faßte Kapāthika das Ergebnis des Gesprächs zusammen und sprach seine Befriedigung darüber aus. «Bisher dachte ich», sagte er, «was ist das für ein kahlköpfiges Mönchsgesindel, Sklavenseelen, schwarze Sprößlinge aus den Füßen Brahmas, was sind das für Wahrheitskenner! Herr Gotama, Ihr habt mir jetzt Liebe, Achtung und Hochschätzung für die Samanas erweckt.» Er erklärte sich für überzeugt, nahm seine Zuflucht zu Buddha, zur Lehre und zur Jüngergemeinde und bekannte sich als Laienanhänger.
[1]Im Text ausführlich begründet.
[2] pitakasampadāya: Von Überlieferung in Körben konnte erst geredet werden, als man die Texte auf Palmblätter geschrieben hatte, was nicht vor dem 1. Jahrhundert vor Chr. geschah. Die brahmanischen Lieder und Sprüche wurden ebenso wie die buddhistischen Texte in der alten Zeit nur mündlich überliefert. Durch das Wort pitaka (Korb) verrät sich der späte Ursprung dieses Suttas. Es kann nicht früher als 400 Jahre nach Buddha verfaßt worden sein (vgl. 76. Sutta, Anm. 3).
[3] tathattāya (zur Soheit hin) ist ein Ausdruck der Scholastik; vielleicht ist aber die Lesart einer Burmesischen Handschrift tadatthāya (in diesem Sinne, oder: zu diesem Zwecke) richtig.