Vorbemerkung: Dieses Sutta ist ein Kommentar zur Rede von Benares, die im Majjhima-Nikāya fehlt und im Samyutta Nikāya 56, 11 gewissermaßen nachgetragen worden ist; wahrscheinlich stand sie ursprünglich in dem Sutta Majjhima-Nikāya 26. Sutta 141 ist ein Vorläufer der mittelalterlichen Kommentarliteratur in Gestalt einer Rede Sāriputtas, der als der Anherr der Scholastik galt.
So habe ich es gehört:
Einst weilte der Erhabene im Gazellenhain Isipatana bei Benares. Dort sprach er zu den Bhikkhus:
«Der Vollendete, der Heilige, der völlig Erwachte hat im Gazellenhain Isipatana bei Benares die unübertreffliche Lehre in Umlauf gesetzt, die kein Samana oder Brahmane, kein Gott, kein Māra oder Brahma noch sonst jemand in der Welt rückläufig machen kann. Er hat die vier edlen Wahrheiten offenbart, dargelegt und fest begründet, die edlen Wahrheiten vom Übel, vom Ursprung des Übels, vom Ende des Übels und vom Wege, der zum Ende des Übels führt. Bhikkhus, schart euch um Sāriputta und Moggallāna, haltet euch an sie! Sie sind verständige Bhikkhus, sie helfen den Strebsamen. Wie eine Gebärende ist Sāriputta, wie ein Geburtshelfer ist Moggallāna. Sāriputta fuhrt hin zur Frucht des Stromeintritts, Moggallāna zum höchsten Ziel. Sāriputta kann die vier edlen Wahrheiten ausführlich erklären.»
Nach diesen Worten stand der Erhabene auf und ging in das Gemeindehaus. Bald darauf sprach Sāriputta zu den Bhikkhus:
«Liebe Bhikkhus! Die edle Wahrheit vom Übel lautet: Geburt ist übel, Altern ist übel, Krankheit ist übel, Sterben ist übel; Kummer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung sind übel; mit Unliebem verbunden sein und von Liebem getrennt sein ist übel; nicht erlangen, was man wünscht, ist übel; kurz, die fünf Gruppen des Ergreifens sind übel.
Geburt bedeutet: geboren werden oder in Erscheinung treten in dieser oder jener Daseinsform, das Sichtbarwerden der Gruppen, das Aufnehmen der Sinnesgebiete. Altern bedeutet: alt werden, schwach und hinfällig werden, das Schwinden der Lebenskraft, das Stumpfwerden der Sinne. Sterben bedeutet: abscheiden, zerfallen, verschwinden, das Auseinanderfallen der Gruppen, die Auflösung des Leibes. Kummer bedeutet: was man bei diesem und jenem Verlust, bei diesem und jenem unliebsamen Ereignis an Sorge, Trauer und Kummer erleidet. Jammer bedeutet: das Wehklagen und Jammern bei diesem und jenem Verlust, bei diesem und jenem unliebsamen Ereignis. Schmerz bedeutet: die unangenehmen, peinvollen Gefühle, die man bei Schädigung des Körpers erleidet. Gram bedeutet: die unangenehmen, peinlichen Gefühle, die man bei widerwärtigen geistigen Erlebnissen erleidet. Verzweiflung bedeutet: daß man bei diesem und jenem Verlust, bei diesem und jenem unliebsamen Ereignis niedergeschlagen ist, verzagt und verzweifelt. <Nicht erlangen, was man wünscht, ist übel> bedeutet: Die Wesen, die wiedergeboren werden müssen, wünschen nicht wiedergeboren zu werden; das kann man aber durch Wünschen nicht erreichen, und daß man es nicht erreichen kann, ist übel. Die Wesen, die altern und sterben müssen, die Kummer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung erdulden müssen, wünschen, alles dies nicht erdulden zu müssen; das kann man aber durch Wünschen nicht erreichen, und daß man es nicht erreichen kann, ist übel. Die fünf Gruppen des Ergreifens sind: Körperlichkeit, Empfindung, Wahrnehmung, unbewußte gestaltende Tätigkeiten und Bewußtsein.
Die edle Wahrheit vom Ursprung des Übels lautet: Es ist der Durst, der Wiedergeburt erzeugt, von Wohlgefallen und Lust begleitet ist und bald hier, bald dort sich ergötzt, nämlich der Durst nach sinnlicher Lust, der Durst nach Leben, der Durst nach Selbstabtötung.
Die edle Wahrheit vom Ende des Übels lautet: Es ist dieses Durstes völliges Aufgeben, Vernichten, Verwerfen, Ablegen, Vertreiben.
Die edle Wahrheit vom Wege, der zum Ende des Übels führt, lautet: Es ist der edle achtfache Weg, nämlich: rechte Einsicht, rechte Gesinnung, rechtes Reden, rechtes Tun, rechter Lebenserwerb, rechtes Bemühen, rechte Andacht und rechte Geistessammlung.
Rechte Einsicht bedeutet: erkennen, was das Übel ist, wo das Übel entspringt, wie es endet und welcher Weg zum Ende des Übels führt. Rechte Gesinnung bedeutet: entsagen wollen, kein Übelwollen hegen, keinem Wesen ein Leid zufügen wollen. Rechtes Reden bedeutet: nicht lügen, nicht ungünstig über andere reden, nicht schimpfen, nicht schwatzen. Rechtes Tun bedeutet: kein Wesen verletzen, nichts nehmen, was nicht gegeben wird, nicht unzüchtig sein. Rechter Lebenserwerb bedeutet: seinen Lebensunterhalt auf anständige Weise verdienen. Rechtes Bemühen bedeutet: den Willen aufbringen, sich anstrengen, Willenskraft aufbieten, den Geist antreiben, um keine bösen, unheilsamen Regungen aufkommen zu lassen oder, wenn sie doch aufgekommen sind, sie zu vertreiben, heilsame Regungen zu gewinnen und, wenn man sie gewonnen hat, sie festzuhalten, sie zu klären, zu verbessern und voll zu entfalten. Rechte Andacht bedeutet: eifrig, wissensklar und achtsam, nach Beseitigung aller Wünsche und Sorgen, Betrachtungen anstellen über den Körper, über die Gefühle, über die Gedanken und über die Gegenstände der Lehre. Rechte Geistessammlung bedeutet: die vier Stufen der Versenkung üben.»
So sprach Sāriputta. Mit Freude und Dank nahmen die Bhikkhus seine Erklärung an.