Majjhima Nikāya, Mittlere Sammlung

Erstes Halbhundert - Mūlapannāsam

I. BUCH: Wurzeldarlegungen - Mūlapariyāyavaggo

2. Alle Anwandlungen - Sabbāsava Sutta

 

 So habe ich es gehört: 

Einst weilte der Erhabene in Anāthapindikas Bhikkhuheim im Jetahain bei Sāvatthi. Dort sprach er zu den Bhikkhus: Eine Anleitung zur Abwehr aller Anwandlungen [1] will ich euch geben; höret wohl zu und denkt darüber nach! Ich will reden. Die Bhikkhus stimmten zu, und der Erhabene sprach:

Wer es versteht und einsieht, kann die Anwandlungen vernichten; wer es nicht versteht und nicht einsieht, kann es nicht. Es kommt darauf an, ob man weise nachdenkt oder unweise [2]. Wer unweise nachdenkt, bei dem entstehen immer neue Anwandlungen und die alten werden stärker; bei dem, der weise nachdenkt, entstehen keine Anwandlungen und die alten schwinden.

Manche Anwandlungen sind durch Einsicht zu vernichten, andere durch Einschränkung, andere durch richtige Benutzung, andere durch Geduld, andere durch Meiden, andere durch Vertreiben, andere durch Pflege.

Wie sind Anwandlungen durch Einsicht zu vernichten? Da weiß ein der edlen Lehre unkundiger Weltling nicht, über welche Dinge man nachdenken soll und über welche nicht. Er denkt über Dinge nach, über die man nicht nachdenken soll, und denkt nicht über Dinge nach, über die man nachdenken soll. Nicht nachdenken soll man über Dinge, bei denen Anwandlungen von Sinnenlust oder von Daseinslust oder von Unwissenheit aufsteigen und solche Anwandlungen sich verstärken. Nachdenken soll man über solche Dinge, bei denen keine Anwandlungen von Sinnenlust, von Daseinslust und von Unwissenheit aufsteigen und frühere Anwandlungen solcher Art dahinschwinden,

Unweise denkt man:

Wer so unweise nachdenkt, verfällt auf eine dieser sechs Theorien: Als wahr und feststehend erscheint ihm die Theorie <Mein Ich ist> oder <Mein Ich ist nicht>, oder die Theorie <Mit dem Ich erkenne ich das Ich>, oder die Theorie <Mit dem Ich erkenne ich das Nicht-Ich>, oder die Theorie <Mit dem Nicht-Ich erkenne ich das Ich>, oder es bildet sich bei ihm folgende Theorie: <Dieses mein Ich, das hier und dort die Folgen guter und böser Taten erlebt, ist unvergänglich, dauernd, immerwährend, unveränderlich, es wird immer dasselbe bleiben>[3].

Dies nennt man Theorien-Gestrüpp, Theorien-Gaukelei, Theorien-Sport, Theorien-Fessel. Mit dieser Theorienfessel gefesselt kann ein unkundiger Weltling nicht frei werden von Geborenwerden, Altern und Sterben, von Sorgen, Jammer, Schmerzen, von Kummer und Verzweiflung. nicht wird er frei vom Übel, sage ich.

Ein Jünger der Edlen aber, der edlen Lehre kundig, weiß, über welche Dinge man nachdenken soll und über welche nicht. Über Dinge, die nicht beachtenswert sind, denkt er nicht nach, aber über beachtenswerte Dinge denkt er nach. Er denkt nicht nach über Dinge, bei denen Anwandlungen von Sinnenlust oder von Daseinslust oder von Unwissenheit aufsteigen und solche Anwandlungen, wenn sie aufgestiegen sind, stärker werden; sondern er denkt nach über Dinge, bei denen keine Anwandlungen von Sinnenlust, von Daseinslust oder von Unwissenheit aufsteigen und solche Anwandlungen, wenn sie aufgestiegen sind, verschwinden. Weise denkt er darüber nach, was Übel oder Leiden ist, wodurch es entsteht, wie es vernichtet wird, und welches der zur Vernichtung des Übels führende Weg ist. Wer darüber (d. h. die vier edlen Wahrheiten) nachdenkt, dem lösen sich drei Fesseln: der Glaube, daß die Person das Ich sei, Zweifelsucht und der Glaube an die Heilwirkung religiöser Gebräuche und Sakramente.

Dies nennt man Anwandlungen durch Einsicht vernichten.

Und wie sind Anwandlungen durch Einschränkung zu vernichten? Da hält ein Bhikkhu mit weiser Überlegung seinen Gesichtssinn, sein Gehör, seinen Geruchssinn, seinen Geschmack, seinen Tastsinn und sein Denkvermögen dauernd in Schranken[4]. Die schlimmen, quälenden Anwandlungen, die aufsteigen würden, wenn er seine sechs Sinne nicht in Schranken hielte, die gibt es für ihn nicht, wenn er seine Sinne dauernd in Schranken hält. Dies nennt man Anwandlungen durch Einschränkung vernichten.

Und wie sind Anwandlungen durch richtige Benutzung zu vernichten! Da benutzt ein Bhikkhu mit weiser Überlegung sein Gewand nur, um Kälte und Hitze und die Berührung mit Fliegen, Mücken und Schlangen abzuwehren und den Lendenschurz zu bedecken. Mit weiser Überlegung benutzt er seine Speisenschale, nicht zum Vergnügen und zur Üppigkeit, sondern nur, um seinen Leib am Leben zu erhalten, um Schaden zu verhüten und einen reinen Lebenswandel führen zu können, indem er sich sagt: So werde ich das Ergebnis früheren Wirkens absterben lassen und kein Ergebnis neuen Wirkens aufkommen lassen, ich werde meinen Lebensunterhalt haben, keinen Tadel verdienen und mich wohl befinden[5]. Mit weiser Überlegung benutzt er den Unterkunftsraum nur, um Kälte und Hitze, Fliegen, Mücken und Schlangen abzuwehren, um die Gefahren der Jahreszeiten zu vermeiden und um die Freude des Alleinseins zu genießen. Mit weiser Überlegung benutzt er Heilmittel nur, um Schmerzen zu lindern und Krankheiten zu heilen. Die schlimmen, quälenden Anwandlungen, die aufsteigen würden, wenn er diese Dinge nicht richtig benutzte, kommen ihm nicht, wenn er sie richtig benutzt. Dies nennt man Anwandlungen, die durch richtige Benutzung zu vernichten sind.

Und wie sind Anwandlungen durch Geduld zu vernichten? Da erträgt ein Bhikkhu mit weiser Überlegung geduldig Kälte und Hitze, Hunger und Durst, die Berührung mit Fliegen, Mücken und Schlangen, Beschimpfungen und Schmähungen, körperliche Schmerzen, stechende, grimmige, herbe, tödliche. Die schlimmen, quälenden Anwandlungen, die aufsteigen würden, wenn er diese Dinge nicht geduldig ertrüge, steigen nicht auf, wenn er sie geduldig erträgt. Dies nennt man Anwandlungen durch Geduld vernichten.

Und wie sind Anwandlungen durch Meiden zu vernichten? Da meidet ein Bhikkhu mit weiser Überlegung einen wilden Elefanten, ein wildes Roß, einen wilden Stier, einen tollen Hund, eine Schlange, Baumstümpfe, Dornengestrüpp, Pfützen, steile Abhänge, schmutzige Dorfteiche, ungeeignete Sitzplätze, ungangbare Wege, schlechte Freunde und was sonst noch von erfahrenen Ordensbrüdern als schlecht bezeichnet wird. Die schlimmen, quälenden Anwandlungen, die aufsteigen würden, wenn er solche Dinge nicht miede, steigen nicht auf, wenn er sie meidet. Dies nennt man Anwandlungen durch Meiden vernichten.

Und wie sind Anwandlungen durch Vertreiben zu vernichten? Wenn einem Bhikkhu ein Gedanke an Sinnenlust oder an Übelwollen oder an Gewalttätigkeit aufsteigt, so läßt er ihn mit weiser Überlegung nicht Fuß fassen, verjagt ihn, vertreibt ihn, bringt ihn zur Auflösung; alle ihm etwa aufsteigenden schlechten unheilsamen Gedanken läßt er nicht Fuß fassen, verjagt sie, vertreibt sie, bringt sie zur Auflösung. Die schlimmen, quälenden Anwandlungen, die aufsteigen würden, wenn er solche Gedanken nicht vertriebe, steigen nicht auf, wenn er solche Gedanken vertreibt. Dies nennt man Anwandlungen durch Vertreiben vernichten.

Und wie sind Anwandlungen durch Pflege zu vernichten? Da pflegt ein Bhikkhu mit weiser Überlegung die Bojjhanga, die Vorstufen zum Erwachen, und zwar Achtsamkeit, Ergründung der Wahrheit, Tatkraft, Freudigkeit, Ruhe, Geistessammlung und Gleichmut. Diese sieben Vorstufen zum Erwachen setzen voraus Alleinsein, Leidenschaftslosigkeit und Entsagung, und ihr Ziel ist das Aufhören (der Wiedergeburten). Die schlimmen, quälenden Anwandlungen, die aufsteigen würden, wenn er die Vorstufen zum Erwachen nicht pflegte, steigen nicht auf, wenn er sie pflegt. Dies nennt man Anwandlungen durch Pflege vernichten.

So sprach der Erhabene. Die Bhikkhus nahmen seine Rede freudig auf.



[1]Das Sutta gibt eine Anleitung zur Abwehr und Vernichtung der āsavā. Das Wort āsavā ist eines der vielen Pali-Wörter, für die es keine genau entsprechenden deutschen Wörter gibt. Sprachwissenschaftlich wird das Wort von der Wurzel sru = fließen, strömen abgeleitet, die mit der Vorsilbe ā- hereinströmen, einfließen bedeutet. Möglich ist auch die Ableitung von der Wurzel su = auspressen (des Soma für das brahmanische Opfergetränk); dann wäre āsavā wie im Sanskrit = alkoholisches Getränk, Rauschtrank; oder von der Wurzel = erzeugen, hervorbringen, antreiben; dann wäre āsavā, auch wie im Sanskrit, = Erregung, Antrieb. Was aber im Pali mit dem Wort āsavā gemeint ist, erfährt man erst aus dem Zusammenhang, in dem das Wort gebraucht wird. In dem vorstehenden Sutta und an vielen anderen Stellen werden drei āsavā aufgezählt: kāmāsavo, das ist der āsavo der Sinnenlust oder des Verlangens nach dem Genuß der (sechs) Sinne; bhavāsavo, das ist der āsavo der Daseinslust oder Lebenslust oder des Verlangens nach weiterem Leben, nach Wiedergeburt; avijjāsavo, das ist der āsavo der Unwissenheit oder der Unkenntnis der vier edlen Wahrheiten. An manchen Stellen findet man noch einen vierten āsavo, den ditthāsavo, das ist der āsavo der falschen Ansichten oder Theorien. In unserem Sutta, wo im dritten Abschnitt von Theorien die Rede ist, hätte es nahegelegen, auch den ditthāsavo zu nennen. Daß er gerade hier nicht vorkommt, ist ein sicheres Zeichen dafür, daß der Begriff ditthāsavo damals, als dieses Sutta verfaßt wurde, noch nicht existierte, daß es also ursprünglich nur die drei genannten āsavā gab.

Das Sutta belehrt auch darüber, woher die āsavā kommen, wodurch sie entstehen: 1. durch unweises Nachdenken, 2. wenn die Sinne nicht gut bewacht und in Schranken gehalten werden, 3. durch falsche Benutzung der Gebrauchsgegenstände, 4 durch Mangel an Geduld, 5. durch Mangel an Vorsicht, 6. durch unheilsame Gedanken, 7. wenn die bojjhangā, die Vorstufen zum Erwachen nicht gepflegt werden.

Alle diese Verhaltensweisen sind also nicht selbst die āsavā, sondern sie sind die Ursachen oder Anlässe zum Entstehen der āsavā. Die āsavā sind aber auch nicht Sinnenlust, Daseinslust und Unwissenheit, sondern diese drei sind Merkmale der āsavā. Was sind nun die āsavā? Wenn ich alle diese Umstände berücksichtige, finde ich kein passenderes Wort dafür als <Anwandlungen>.

[2]Warum ist es unweise, darüber nachzudenken, was man in einem früheren Leben war, was man in einem späteren Leben sein wird und was man gegenwärtig ist? Man könnte zunächst meinen, es sei deshalb unweise, weil diese Geheimnisse durch Nachdenken, auf rationalem Wege, mit den Mitteln des Intellekts überhaupt nicht gelöst werden können. Nur wer in rechter Geistessammlung bis zum vierten jhāna (Versenkungsstufe) gelangt, findet die Lösung, aber auch dann nicht durch Nachdenken - denn im vierten jhāna gibt es kein Nachdenken -, sondern durch unmittelbares Schauen oder Erleben. Der eigentliche und entscheidende Grund dafür, daß Buddha solches Nachdenken für unweise erklärt, liegt zweifellos darin, daß es von der irrigen Voraussetzung ausgeht, hier in der Erscheinungswelt sei ein Ich zu finden und dieses Ich sei die aus den fünf Gruppen bestehende, sich immerfort verändernde Person. Wer so nachdenkt, der weiß nicht, daß von seiner Person gilt: <Das gehört mir nicht, ich bin das nicht, das ist nicht mein Ich>. Mit anderen Worten: wer so nachdenkt, glaubt an Seelenwanderung und weiß nichts von Wiedergeburt.

[3]Auf dem unweisen Nachdenken beruhen die 6 Theorien oder falschen Ansichten: 1. <Mein Ich ist, (Georg Grimm, Die Lehre des Buddha, 9.-11. Auflage, Seite 126: «Ich bin, das ist der sicherste Satz, den es gibt.»), 2. <Mein Ich ist nicht> (Buddhaghosa, Visuddhimagga XVIII: «Im höchsten Sinn gibt es kein Wesen wie <Ich bin> oder <Ich>, im höchsten Sinn gibt es nur das Geistige und Körperliche.»), 3. <Mit dem Ich erkenne ich das Ich>, 4. <Mit dem Ich erkenne ich das Nicht-Ich, (Brhadaranyaka-Upanishad 3, 4: <Das Ich ist der Seher des Sehens, der Erkenner des Erkennens.>), 5. <Mit dem Nicht-Ich erkenne ich das Ich>, 6. der Seelenwanderungsglaube (der Brahmanen).

Hiernach bleibt nur die eine Möglichkeit übrig: <Mit dem Nicht-Ich «kenne ich das Nicht-Ich>, und dies ist als richtig einzusehen, denn wer erkennt? Die aus den fünf Khandhas bestehende Person, die anattā = Nicht-Ich ist. Und was erkennt sie? Nur das, was anattā = Nicht-Ich ist, denn alle dhammā, alle Daseinsfaktoren, sind anattā, und anattā bedeutet nach Buddhas Erklärung in Samyuttanikāya XXXV, 1, 7: <Dies ist nicht mein, ich bin dies nicht, dies ist nicht mein Ich.>

[4]<Die Sinne in Schranken halten> bedeutet, bei allem, was man sieht, hört, riecht, schmeckt, tastet und denkt, sich rein beobachtend verhalten, ohne Vorurteil und ohne Beimischung von Gefühlen der Zuneigung oder der Abneigung, so wie ein wissenschaftlicher Forscher oder wie ein gerechter Richter. Wenn man nicht rein beobachtet, wenn man die Sinne unbesonnen gebraucht, entstehen teils Wünsche oder Begierden, teils Abneigung, Haß, Abscheu, und in deren Gefolge kommen Anwandlungen, die hier als schlimm und quälend bezeichnet werden. Welcher Art sie sind, wird an dieser Stelle nicht gesagt. Meist werden es Anwandlungen der Sinnenlust und der Unwissenheit sein.

[5]Bei der Benutzung der Gebrauchsgegenstände wird im Hinblick auf die Speiseschale das richtige Maßhalten beim Essen angeführt. Wenn man mäßig ist, ohne wählerisch zu sein, und nur ißt, um gesund zu bleiben, so braucht man nicht zu befürchten, daß man etwas täte, was als Karma zu einer Wiedergeburt führen könnte, selbst wenn man gelegentlich Fleisch ißt, was ja Buddha auch getan hat. Sonst würde man niemals zum Nirvana gelangen können; denn essen muß man, um auf dem Buddhaweg fortschreiten zu können. Dies scheint der Sinn der oft wiederkehrenden Formel zu sein, die man früher übersetzte: «Das frühere Gefühl absterben und kein neues Gefühl aufkommen lassen»; vedanā (Gefühl) bedeutet hier so viel wie <Karma Wirkung>.


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