©opyright 1953 by Verlag Christiani Konstanz
Vorwort
Leer ist die Welt - Erkenntnislehre
Achtsamkeit und Wissensklarheit - Satipatthāna
Buddha-Jhāna und Yoga-Jhāna - Textkritik
Mystik im Buddhismus? Buddhalehre und Theosophie
Ironie und Humor in Gotamas Reden
Geschichte und Legende im Mahāparinibbānasutta
Nachwort zur vorstehenden Untersuchung
Leer ist die Welt. Diese Erkenntnis gewann ich aus der Beschäftigung mit dem Buddhismus, genauer: aus dem Studium der im Pali-Kanon überlieferten Worte Buddhas. Dabei fand ich, daß Buddha und seine großen Jünger unter Leerheit etwas ganz anderes verstanden als die 4 oder 5 Jahrhunderte später lebenden Philosophen des Mahāyana, aber auch etwas anderes als jene Theravadins, die, vermutlich um dieselbe Zeit, die Leerheits-Suttas des Majjhima-Nikaya verfaßten. Den ursprünglichen Sinn der Leerheit fand ich in der von Buddha gebilligten Erklärung Kaccānas, deren Bedeutung seit vielen Jahrhunderten in Vergessenheit geraten war. Auch den abendländischen Forschern war sie bisber entgangen. Als ich sie gefunden hatte, brachte ich sie zunächst den Buddhisten in Ceylon zur Kenntnis, wo mein Aufsatz im Mai 1948 zugleich in singhalesischer und in englischer Sprache erschien. Jetzt lege ich das Ergebnis den deutschen Lesern zur Prüfung vor.
Wie die asiatischen Buddhisten, so halten auch die meisten Freunde des Buddhismus in Europa alles, was im Pali-Kanon steht, unterschiedslos für echtes Buddhawort, obwohl europäische Gelehrte schon wiederholt Zweifel an der Echtheit mancher Stellen geäußert haben. Ich glaube, daß es zum rechten Verständnis der Buddhalehre beiträgt, hier das Echte und Ursprüngliche von späteren Zusätzen zu scheiden. Ist denn nicht das, was der große Meister gelehrt hat, unermeßlich viel wertvoller als die Zutaten der Epigonen? Dieser Unterscheidung dienen meine textkritischen Untersuchungen über die Jhanas, die drei Welten, über Buddha und die Frauen und über das Mahāparinibbānasutta. Ferner versuche ich, die Meinungsverschiedenheiten über die Anattālehre zu überbrücken und die Frage der "Unpersönlichkeit" zu klären. Als Einleitung, besonders für diejenigen Leser, die noch nicht viel vom Buddhismus wissen, gebe ich einen Vortrag wieder, den ich im November 1922 in der Schopenhauer-Gesellschaft zu Dresden gehalten habe. Aus der Rücksicht auf die damaligen Zuhörer erklärt es sich, daß ich darin Schopenhauer so häufig zitiert habe. Er verdient aber auch, von Buddhisten geschätzt zu werden, ebenso wie Kant, mit dem ich diese Sammlung buddhistischer Studien abschließe.
Kurt Schmidt
Im zweiten Bande der "Welt als Wille und Vorstellung", im Kapitel über das metaphysische Bedürfnis des Menschen, sagt Schopenhauer über die Religionen:
"Religionen können, als auf die Fassungskraft der großen Menge berechnet, nur eine mittelbare, nicht eine unmittelbare Wahrheit haben: diese von ihnen verlangen, ist, wie wenn man die im Buchdruckerrahmen aufgesetzten Lettern lesen wollte, statt ihres Abdrucks. Der Werth einer Religion wird demnach abhängen von dem größern oder geringern Gehalt an Wahrheit, den sie, unter dem Schleier der Allegorie, in sich trägt, sodann von der größern oder geringern Deutlichkeit, mit welcher derselbe durch diesen Schleier sichtbar wird, also von der Durchsichtigkeit des letztern."
Und nun kommt Schopenhauer auf den Buddhismus zu sprechen, indem er fortfährt:
"Fast scheint es, daß, wie die ältesten Sprachen die vollkommensten sind, so auch die ältesten Religionen. Wollte ich die Resultate meiner Philosophie zum Maßstabe der Wahrheit nehmen, so müßte ich dem Buddhismus den Vorzug vor den anderen zugestehen. Jeden Falls muß es mich freuen, meine Lehre in so großer Ubereinstimmung mit einer Religion zu sehen, welche die Majorität auf Erden für sich hat; da sie viel mehr Bekenner zählt, als irgend eine andere."
Schopenhauer betont dann, daß diese Übereinstimmung ihm um so erfreulicher sei, als er bei seinem Philosophieren nicht unter dem Einfluß des Buddhismus gestanden, diesen vielmehr gar nicht gekannt habe. Und weiter berichtet er, was ihm bei Abfassung des zweiten Bandes an Abhandlungen über den Buddhismus vorlag. Das war sehr wenig und konnte nur sehr wenig sein; denn das erste grundlegende Werk über den Buddhismus, die "Introduction a l'histoire du Bouddhisme indien" von Eugene Burnouf, erschien in demselben Jahre 1844, in dem der zweite Band der "Welt als Wille und Vorstellung" die Presse verließ. Alles, was vorher über den Buddhismus veröffentlicht worden war und was Schopenhauer gelesen hatte, waren unbedeutende Bruchstücke aus einem Überlieferungskreise, der der ursprünglichen Buddhalehre so fern steht wie etwa das Vatikanische Konzil der Bergpredigt. Wenn Schopenhauer gewußt hätte, was Buddha wirklich gelehrt hat, so würde er entweder das ganze Kapitel über das metaphysische Bedürfnis des Menschen anders angelegt oder den Buddhismus nicht zu den Religionen, sondern zur Philosophie gerechnet haben. Seine Unterscheidung zwischen Philosophie und Religion, daß jene die Verpflichtung habe, in allem, was sie sagt, sensu stricto et proprio wahr zu sein, diese aber nur sensu allegorico, weil die Wahrheit vor dem Volke nicht nackt erscheinen könne, wird nämlich durch den Buddhismus umgestoßen und widerlegt. Das ist gerade das Eigenartige der Buddhalehre, daß sie die Wahrheit ohne alle Allegorie, nackt und rein, vor das Volk bringt, ebenso nackt, wie Schopenhauer oder irgendein anderer Philosoph seine Philosophie vor die Auserwählten, und viel weniger verhüllt, als beispielsweise der große Philosoph Platon die seinige im Phaidon. Der Buddhismus ist zwar im Laufe der Jahrhunderte reichlich mit Allegorien durchsetzt und teilweise sogar von ihnen überwuchert worden; und dieser, der Fassungskraft weniger scharf denkender Völker angepaßte, allegorisierte Buddhismus war es eben, von dem Schopenhauer einige Proben gekostet hatte. Wenn wir aber heute vom Buddhismus reden, so denken wir dabei an die ursprüngliche Lehre Buddhas, wie sie uns im Pali-Kanon überliefert ist. Man ist sich heute darüber einig, daß in dieser Fassung in allem Wesentlichen mindestens die sinngetreue Wiedergabe der Reden und Aussprüche Buddhas vorliegt, in den wichtigsten Stellen sogar der genaue Wortlaut.
Es fragt sich nun, ob wir diesen Urbuddhismus als Religion betrachten dürfen. Nach Schopenhauers Begriffsbestimmung müssen wir ihn zweifellos eine Philosophie nennen; denn er verschmäht die allegorische Darstellungsweise und will sensu stricto et proprio wahr sein. In der Tat fehlt es nicht an Stimmen, die den Buddhismus als Wissenschaft würdigen, so namentlich Deussen, der ihn in seiner "Allgemeinen Geschichte der Philosophie" zur Philosophie rechnet, und Georg Grimm in seinem Werk "Die Wissenschaft des Buddhismus", und ich sehe keinen Grund, dem zu widersprechen. Das kann uns aber nicht hindern, den Buddhismus, auch in seiner ursprünglichen Gestalt, ebenfalls zu den Religionen zu zählen. Er ist zweifellos für ungezählte Millionen länger als zwei Jahrtausende Religion gewesen und ist es für viele Millionen noch heute, und wenn sich das mit unserer bisherigen Begriffsbestimmung der Religion nicht verträgt, so muß eben die Begriffsbestimmung geändert werden. An der Tatsache ist nichts zu ändern.
Was den Buddhismus als Religion von anderen Religionen unterscheidet, hat Buddha selbst am Ende seiner Erdenlaufbahn klar und bestimmt ausgesprochen. Im Mahāparinibbānasutta, dem großen Bericht von den letzten Tagen Buddhas, wird erzählt, wie Buddha ganz kurz vor seinem Hinscheiden noch einen andersgläubigen Geistlichen, einen Wanderasketen namens Subhadda, der von ihm belehrt zu werden wünschte, empfing. Subhadda fragte Buddha, was er von den Lehren der anderen berühmten Sektenstifter halte, deren es damals im Gangeslande mehrere gab, und Buddha antwortete (dem Sinne nach): "Diese Frage wollen wir auf sich beruhen lassen, aber ich will dir sagen, worauf es bei meiner Lehre vor allem ankommt: das ist der edle achtfache Weg." Den setzte er ihm auseinander, und Subhadda wurde dadurch bekehrt und bat um Aufnahme in den buddhistischen Orden. So wurde er der letzte Jünger, den Buddha selbst bekehrt hatte.
Mit dem edlen achtfachen Weg hatte Buddha seine Lehrtätigkeit auch eröffnet. Die erste Rede, die er hielt, nachdem er zur Wissensklarheit, zum Erwachen, gelangt war, die Rede von Benares, beginnt mit dem edlen achtfachen Weg. Er ist in der Tat das Kernstück der Buddhalehre. Bei allen Wandlungen, die der Buddhismus im Laufe der Jahrhunderte und in den verschiedenen Ländern erlitten hat, ist der edle achtfache Weg unverändert geblieben, und überall in der Welt, wo sich Menschen zu Buddha bekennen, da bekennen sie sich zum edlen achtfachen Weg, so verschieden auch sonst ihre Anschauungen sein mögen.
Die acht Glieder des Weges sind diese:
In dieser kurzen, in den Lehrtexten sehr oft wiederkehrenden Formel vom achtfachen Weg steckt die ganze Buddhalehre.
Rechte Einsicht heißt die vier edlen Wahrheiten erkennen, nämlich die Wahrheit vom Übel, die Wahrheit vom Ursprung des Übels, die Wahrheit vom Ende des Übels und die Wahrheit von dem zum Ende des Übels führenden Pfad.
Schon hier, am Anfang, tritt uns eine Eigentümlichkeit des Buddhismus entgegen, die ihn von allen anderen Religionen unterscheidet: sein Ausgangspunkt, sein Fundament ist nicht ein Glauben, sondern ein Erkennen, ein Wissen. Buddha sagte einmal (M 38) zu seinen Jüngern, nachdem er ihnen einen schwierigen Teil der Lehre dargelegt hatte:
"würdet ihr sagen: wir hegen Ehrfurcht vor dem Meister, und aus Ehrfurcht vor dem Meister reden wir so?"
Sie antworteten: "Herr, das würden wir nicht!"
"Oder würdet ihr sagen: ein Samana spricht so und viele Samanen, wir sind es nicht allein, die so reden?" - "Herr, das würden wir nicht!"
"Oder würdet ihr euch nur zu dem bekennen, was ihr selbst erkannt, selbst geschaut, selbst erfahren habt?" - "Ja, Herr, das würden wir tun."
So wird aller Autoritätsglaube, aller Offenbarungsglaube grundsätzlich verworfen. Wer Buddha folgt, soll nicht glauben, sondern erkennen. Seine Religion gründet sich nicht auf Spekulation, sondern auf Erfahrung.
Was soll der Buddhist erkennen? Zunächst die edle Wahrheit vom Übel, wobei zu beachten ist, daß das indische Wort, das wir mit "Übel" übersetzen, einen weiten Begriff vertritt; es umfaßt das Unzulängliche, Unbefriedigende, Unvollkommene. Der Inhalt dieser Wahrheit ist dieselbe Erkenntnis, die der Philosophie Schopenhauers zugrunde liegt, und sie zeigt auch in ihrem Aufbau eine wunderbare Übereinstimmung mit den Feststellungen Schopenhauers. Sie lautet:
1. Geburt, Altern, Krankheit und Tod sind übel; Kummer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung sind übel;
2. mit Unliebem verbunden sein, von Liebem getrennt sein, ist übel;
3. nicht erlangen, was man wünscht, ist übel;
zusammenfassend die fünf Gruppen des Ergreifens sind übel.
Das heißt mit anderen Worten: soweit Zeit, Raum und Kausalität reichen, ist alles unzulänglich, unbefriedigend, unvollkommen. Geburt, Altern, Krankheit, Tod veranschaulichen die Zeit; mit Unliebem verbunden sein, von Liebem getrennt sein, veranschaulicht den Raum als Faktor des Übels; nicht erlangen, was man wünscht, veranschaulicht die - unsern Willen hemmende und daher Leiden schaffende - Kausalität. Die Zusammenfassung am Schluß, die fünf Gruppen des Ergreifens, ist ein formelhafter Ausdruck. Nach Erläuterungen, die an anderen Textstellen gegeben werden, können wir das Ergreifen gleichsetzen mit der Bejahung des Willens zum Leben. Die fünf Gruppen sind die Konstituenten des Individuums, nämlich die körperliche Gestalt, die Empfindung, die Wahrnehmung, die unbewußt verlaufenden Lebensprozesse und das Bewußtsein. Die fünf Gruppen des Ergreifens sind also das aus den fünf Gruppen zusammen gesetzte individuelle, vom Lebenswillen getragene Dasein. Daß dieses notwendig leidvoll oder unbefriedigend ist, soll der Buddhist nicht glauben, sondern erkennen. Der Beweis wird geführt in einem vielfach überlieferten Dialog zwischen Buddha und seinen Jüngern (z.B. M 109, S 22, 82):
"Was meint ihr wohl, ist die Gestalt ewig oder unbeständig?" - "Herr, unbeständig!" - "Was aber unbeständig ist, ist das beglückend oder unbefriedigend?" - "Es ist unbefriedigend."
Und nun geht Buddha gleich einen Schritt weiter, zerreißt mit gewaltigem Griff den Nebel, der die letzte Wahrheit verhüllt, und zeigt seinen Jüngern den strahlenden Gipfel der Erkenntnis:
"Was aber unbeständig, unbefriedigend und veränderlich ist, kann man davon sagen: dies gehört mir, dies bin ich, dies ist mein Ich?" - "Nein, Herr, gewiß nicht!"
Buddha führt dann den gleichen Beweis für die anderen vier Gruppen und fährt fort: "Darum müßt ihr alles, was es an Gruppen gibt, der Wahrheit gemäß in rechter Weisheit so betrachten: dies gehört mir nicht, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein Ich."
Das ist, in Buddhas eigenen Worten, die einfache und klare Lehre vom Nicht-Ich, die Anatta-Lehre, die so viel, auch unter den Buddhisten im Morgen- und Abendlande, mißverstanden wird, die man aber richtig verstehen muß, wenn man Buddha überhaupt verstehen will. Buddha bringt seinen Jüngern durch Fragen zum Bewußtsein, daß alles in der Welt und ganz besonders die eigene Persönlichkeit, Körper und Seele, vergänglich, unbeständig ist. Nun kommt es darauf an, daß wir uns nicht mit dem blassen Begriff "Unbeständigkeit" begnügen, sondern wir müssen uns einmal recht anschaulich vorstellen, wie unser Leib und wie alles Seelische und Geistige an uns von der Zeugung an über die Geburt und die Kindheit hinweg bis zur Gegenwart sich entfaltet hat, wie es sich täglich und stündlich, ja mit jedem Atemzuge ändert und wie es dereinst, wir wissen nicht wie bald, zerfallen wird, so daß nichts übrig bleibt als ein häßlicher, stinkender Leichnam ohne Empfindung, ohne Wahrnehmung, ohne unbewußte Lebensprozesse und ohne Bewußtsein, und wie dann die ganze Welt mit ihren geistigen und leiblichen Genussen für uns dahin ist. Wenn wir bei dieser Vorstellung einen Augenblick verweilen und uns fragen, ob das, was so unbeständig ist, von uns als beglückend oder als unbefriedigend empfunden wird, so kann die Antwort nicht zweifelhaft sein. Darin aber, daß wir das Unbeständige als unbefriedigend empfinden, drückt sich aus, daß das Unbeständige nicht unserem Ich angemessen ist, nicht zu ihm gehört. Denn wenn das Unbeständige unserem Ich entspräche, so würde uns das Hinschwinden des Unbeständigen kein Leid zufügen, nicht als unbefriedigend erscheinen.
Mit dieser Schlußfolgerung rücken wir die gesamte Welt der Erscheinung, die Welt als Vorstellung, einschließlich unseres eigenen leiblich-seelischen Organismus, unserer Individualität oder Persönlichkeit, von unserem Ich ab, wir vollziehen im Geiste den Trennungsstrich zwischen Nicht-Ich und Ich; denselben Trennungsstrich, den auch Schopenhauer zog, nur an einer anderen Stelle als er, und darin liegt der Hauptunterschied zwischen Schopenhauers Philosophie und dem Buddhismus: bei Schopenhauer liegt auf der Seite des Ich der Wille. Der Wille ist ihm sogar identisch mit dem Ich; unser Wesen ist nach Schopenhauer Wille. Buddha aber verweist den Willen, den wir ja entstehen, sich wandeln und vergehen sehen, gleich allem, was ensteht und vergeht, auf die Seite des Nicht-Ich.
Über das Ich enthält sich Buddha jeder Äußerung. Alles, was wir mit unserem vergänglichen Erkenntnisvermögen erkennen können, ist vergänglich, unbeständig, also unbefriedigend, also nicht unser Ich. Für das von den Schlacken der Vergänglichkeit befreite Ich hat Buddha einen besonderen Ausdruck; er nennt es: den Vollendeten nach dem Tode. Auf die wiederholte Frage seiner Jünger und Andersgläubigen ob ein Vollendeter nach dem Tode sei oder nicht sei, d.h. lebe oder nicht lebe, hat Buddha beharrlich die Antwort verweigert, und zwar mit der ausdrücklichen Begründung, daß das Grübeln über diese Frage nicht zweckdienlich sei, nicht einen vollkommenen Wandel in Heiligkeit begründe, nicht zur höheren Weisheit, nicht zum Erwachen, nicht zum Nirvana führe. Buddha hat aber niemals behauptet, wie manche glauben, daß es ein Ich überhaupt nicht gebe. Im Gegenteil, er hat sich gegen dieses Mißverständnis, das schon bei seinen Lebzeiten auftauchte, energisch verwahrt, indem er sagte (M 22): "Ich behaupte, daß ein Vollendeter in der Erscheinungswelt nicht aufzufinden ist, und weil ich dies behaupte, beschuldigen mich manche fälschlich und zu unrecht, ich wolle mit allem aufräumen, ich lehrte die Vernichtung, das Verschwinden, das Vergehen des wahren Wesens."
Die zweite edle Wahrheit handelt vom Ursprung des Übels. Sie lautet: Es ist der Lebensdrang, der Wiedergeburt erzeugt, von Wohlgefallen und Lust begleitet ist und der hier und dort sich ergötzt, nämlich der Drang nach sinnlicher Lust, der Drang nach Leben und der Drang nach Selbstabtötung. Hier befindet sich Buddha in voller Übereinstimmung mit Schopenhauer. Der Drang ist genau dasselbe, was Schopenhauer den Willen zum Leben nennt, den auch er als die Ursache des Leidens erkannt hat. Auch die Beweisführung ist im Buddhismus dieselbe wie bei Schopenhauer. Während aber nach Schopenhauer der Wille unser Wesen ist, erklärt Buddha, daß der Drang der Kausalität unterliegt, also diesseitig, immanent, also nicht unser Ich ist, das ja transzendent ist. Der Drang ist nach der Buddhalehre die Wirkung einer Ursache, er ist bedingt entstanden, und wenn man die Kette der Bedingungen, die Kette der Abhängigkeitsverhältnisse, rückwärts verfolgt, so gelangt man zu einem Gliede, bei dem man die Kette sprengen kann. Das ist die Unwissenheit, das heißt die Unkenntnis der vier edlen Wahrheiten. Wenn nämlich Wissen da ist, mit anderen Worten: wenn ich erkannt habe, daß alles in der Erscheinungswelt unbeständig, darum unbefriedigend ist, darum nicht zu meinem Ich gehört, und daß mein Ich mit der Erscheinungswelt nichts zu tun hat, dann kann es keinen Drang nach dieser Erscheinungswelt geben.
Der Drang äußert sich in dreifacher Form: als Begierde, als Haß und als Verblendung. Begierde ist Verlangen nach lebendigen oder leblosen Objekten, von denen wir Befriedigung unseres Willens oder Lust erhoffen; Haß ist die Abneigung gegen lebendige oder leblose Objekte, von denen wir Durchkreuzung unseres Willens oder Unlust befürchten; Verblendung ist der Irrglaube, daß unser lebendiger Organismus unser wahres Wesen sei, jener Irrglaube, der die Wurzel alles Egoismus ist.
Daß der Lebensdrang Wiedergeburt erzeugt, ist eine Anschauung, die auch Schopenhauer geläufig ist. Ohne Lebensdrang kann kein lebendes Wesen entstehen. Wo ein lebendes Wesen entsteht, muß Lebensdrang vorhanden gewesen sein und gewirkt haben, und ein Wesen. das von diesem Drang nicht freigeworden ist, drängt notwendigerweise, wenn sein Leib zerfallen ist, zu neuem Leben, muß sich in der Erscheinungswelt irgendwie wieder verkörpern.
Wird aber der Drang völlig aufgegeben, vernichtet, vertrieben - dies ist die dritte edle Wahrheit - so ist damit das Übel beendet, und der Pfad, der zum Ende des Übels führt - die vierte edle Wahrheit - ist eben der edle achtfache Weg, in dessen Betrachtung wir nun weiterschreiten zum zweiten Glied.
Rechte Gesinnung ist der Entschluß, der Welt zu entsagen, kein Übelwollen zu hegen und kein Leid zu verursachen. Dies bildet mit dem dritten, vierten und fünften Gliede, rechtem Reden, rechtem Tun und rechter Lebensführung, die Moral des Buddhismus.
Rechtes Reden heißt: nicht lügen, keine üble Nachrede führen, keine groben Worte gebrauchen, nicht unnütz plappern oder schwatzen. Rechtes Tun heißt: kein Leben zerstören, nichts nehmen, was einem nicht gegeben ward, kein unkeusches Leben führen. Dies alles wird noch einmal zusammengefaßt und ergänzt im fünften Glied: rechte Lebensführung, worunter verstanden wird, daß man sich von Unaufrichtigkeit, Verrat, Verdächtigung, Aushorchen, Wucher usw. freihält. Hierzu gehört auch noch das Meiden von Berauschtheit durch geistige Getränke oder Rauschgifte. Hierüber heißt es im Sutta-Nipata II, 14: "Der Laie, der die Lehre befolgt, soll sich nicht berauschenden Getränken ergeben. Er fordere keinen andern zum Trinken auf und spende dem Trinkenden keinen Beifall, denn er weiß, daß Trunksucht zum Wahnsinn führt. Durch Trunksucht verfallen die Toren dem Bösen und verleiten auch andere zur Unmäßigkeit. Er fliehe diesen Bereich der Übel, diesen Wahnsinn, diese Verblendung, an der nur Toren ihre Freude haben."
Die Moral des Buddhismus, die in vielen schönen Lehrreden näher ausgeführt ist, unterscheidet sich ebenso wie die Weltanschauung des Buddhismus von der anderer Religionen dadurch, daß sie sich nicht auf die Offenbarung einer göttlichen Autorität stützt, nicht von Gläubigen kritiklos hingenommen werden soll, sondern von selbst denkenden Menschen als richtig erkannt werden will. Der Buddhist handelt gut nicht aus Liebe zu Gott oder aus Furcht vor Gott, auch nicht aus Gehorsam gegenüber Buddha, sondern weil er selbst einsieht, daß er durch moralisches Handeln selbst besser wird, sich mehr und mehr daran gewöhnt, Begierde, Haß und Verblendung abzulegen, und daß er sich dadurch selbst von dem Leiden des Daseins erlöst.
Wenn Buddha von Lohn und Vergeltung für gute und böse Taten redet, so denkt er dabei nie an einen Gott, der da richtet die Lebendigen und die Toten, der nach Gutdünken begnadigen oder zu ewiger Höllenpein verurteilen kann, vielmehr redet er stets von der im Kausalitätsgesetz liegenden immanenten Gerechtigkeit, derzufolge eine gute Tat den Täter selbst hebt, in ihm die Bande des Egoismus lockert, während eine böse Tat den Täter selbst niederdrückt, in ihm den egoistischen Lebensdrang verstärkt und ihn dadurch irgendwann in einem künftigen Dasein in ungünstige, peinvolle Zustände bringt. Buddha sagt ( ):
"Nicht in der Luft, im Meer, in Bergeseinsamkeit
Ist ein Ort, wo man sich von böser Tat befreit."
Und an anderer Stelle (S.3.4):
Bist du dir selber wohlgesinnt,
So laß dich nicht mit Bösem ein,
Denn schwerlich wird nach böser Tat
Dir jemals Glück beschieden sein.
Bedenk', wenn dich der Tod befällt
Und endet hier dein Menschenleben,
Was bleibt dir dann als Eigentum,
Was wird dir dann noch mitgegeben?
Was folgt dir nach, was hängt dir wie
dein nimmermüder Schatten an?
Die gute und die böse Tat,
Die du hier hast als Mensch getan,
Sie bleibt dir als dein Eigentum,
Sie wird dir immer mitgegeben,
Sie folgt dir nach, sie hängt dir wie
Dein nimmermüder Schatten an.
Drum wirke heilsam, schaffe dir
Für künft'ges Leben einen Schatz!
Das Gute wird in andrer Welt
Für dich ein festgefügter Platz.
Man hat gegen die Moral des Buddhismus eingewandt, daß sie sich auf den Egoismus gründe, indem sie dem Guten Vorteile und dem Bösen Nachteile in Aussicht stelle. Nicht um den Buddhismus zu verteidigen oder für ihn zu werben, sondern nur um ein möglichst richtiges Bild von ihm zu geben, muß ich diesem Einwande widersprechen. Wenn Buddha die Belohnung für gute und die Bestrafung für böse Taten lehrt, so lassen sich dafür zwei Gründe anführen: erstens, daß es sich aus seiner Weltanschauung mit Notwendigkeit ergibt, daß es also nach seiner Überzeugung der Wirklichkeit entspricht, und zweitens, daß nach seiner Lehre die Übung der Moral zeitlich der religiösen Hebung und Läuterung des Menschen vorangehen muß. Die Grundlage der buddhistischen Moral ist die rechte Einsicht, der richtige Gebrauch der Vernunft. Die rechte Einsicht allein befähigt und nötigt zugleich den Menschen, sittlich zu handeln. (Diesen Grundsatz vertrat auch Kant in der Vorrede zu seinem Werk "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" 1793.)[1]
Die Moral steht in der Mitte des achtgliedrigen Weges. Es wäre also unlogisch und praktisch undurchführbar, die Moral auf der Forderung der Selbstlosigkeit, der Vernichtung des Egoismus, aufzubauen, da ja diese erst als Frucht der Moral und der religiösen Übungen erreicht werden kann. Der Mensch, für den die Moralanweisungen gelten, der sich noch in der Moral üben soll, steckt noch tief im Egoismus, und es ist durchaus angemessen, daß er die Triebfedern zum moralischen Handeln dem Egoismus entnimmt. Je mehr er sich aber in dem zunächst egoistisch gedachten Streben, sein eigenes künftiges Los zu bessern, der Moral befleißigt, um so mehr streift er den Egoismus Stück für Stück ab und wird dadurch reif zum Fortschreiten auf dem achtfachen Wege. Die hier besprochenen Moralanweisungen sind also gewissermaßen die "Moral für Anfänger" und die Moral für die Menge. Etwas ganz anderes ist das moralische Ideal des Buddhismus. Das ist die Moral des Heiligen, die ihren Platz erst am Ende des achtfachen Weges hat.
Wer sich in der allgemeinen Moral gefestigt hat, der gelangt nun zum eigentlich religiösen Teil des Buddhismus, der die drei letzten Glieder des Weges umfaßt. Das sind religiöse Exerzitien, die darauf abzielen, die Selbstbeherrschung auf das äußerste zu steigern und die bisher nur verstandesmäßig aufgenommene Buddhalehre zur anschaulichen Erkenntnis zu bringen und sie dadurch unverlierbar und in allen Lebenslagen gegenwärtig zu machen.
Der Buddhist soll nicht nur seinen Körper, sondern auch sein Gemüt vollständig beherrschen, nicht nur alles, was sich im Bereich seines Bewußtseins abspielt, sondern auch, und das ist das Wichtigste und Entscheidende, den ganzen Bereich unterhalb der Bewußtseinsschwelle, die unbewußt vor sich gehenden, vegetativen Funktionen seines Körpers und ebenso die unbewußt wirkenden Triehe. Nur wer seinen physisch-psychischen Organismus bis in die letzten Winkel hinein in seiner Gewalt hat, der kann von sich sagen, er habe Begierde, Haß und Verblendung gänzlich überwunden, er habe den Lebensdurst vernichtet, habe getan, was zu tun war, und die Gewißheit erlangt, daß er zu dieser Welt nicht mehr zurückkehren werde.
Auch bei diesen religiösen Übungen ist der Anfang schwer, ist er ein Kampf, der "vierfache rechte Kampf", das sechste Glied des Weges. Das ist der Kampf zur Vermeidung, der Kampf zur Überwindung, der Kampf zur Erweckung und der Kampf zur Erhaltung.
Wenn der Buddhist mit einem Sinnesorgan ein Objekt wahrnimmt oder mit dem Denkorgan eine Vorstellung aufnimmt, so achtet er darauf, daß er in keiner Weise an dem Objekt oder an der Vorstellung haftet, d.h. zu dem Objekt oder zu der Vorstellung innerlich in irgendeine Beziehung tritt, sei es Zuneigung oder Abneigung. So wacht er ständig über seine Sinneswahrnehmungen und seine Gedanken. Das ist der Kampf zur Vermeidung.
Beobachtet er, daß trotzdem Gedanken der Begierde, des Übelwollens oder der Grausamkeit oder sonst schlechte, unheilsame Gedanken in ihm aufgestiegen sind, so läßt er sie nicht Fuß fassen, sondern überwindet sie und bringt sie zum Schwinden. Das ist der Kampf zur Überwindung. Es ist hierbei zu beachten, daß die unheilsamen Gedanken und Vorstellungen nicht etwa unterdrückt werden dürfen, sondern überwunden und ausgetilgt werden müssen. würden sie nur unterdrückt, zurückgedrängt, so würde das entstehen, was die Freudsche Schule "verdrängte Komplexe" nennt, die sehr unheilvolle Wirkungen haben können. Überwinden und austilgen soll man die schlechten Gedanken und Vorstellungen vielmehr dadurch, daß man sie analysiert und sich ihre Häßlichkeit und Schädlichkeit vollständig klar macht. Die dabei zu befolgende Methode ist im Grunde dieselbe wie die der Psychanalyse, nur mit dem Unterschied, daß sie jeder an sich selbst vornimmt, ohne Hilfe eines Psychiaters.
Der dritte Kampf, der Kampf zur Erweckung, besteht darin, daß sich der Buddhist bemüht, günstige Gemütszustände in sich zu erwecken, die Buddha "die sieben Vorstufen zum Erwachen" nennt: Besonnenheit oder Achtsamkeit, Ergründung der Lehre, Tatkraft, Begeisterung, Ruhe, Sammlung und Gleichmut, die alle darauf gerichtet sind, Begierdelosigkeit und damit das Ende des Leidens zu erreichen.
Sind aber günstige, auf Sammlung abzielende Vorstellungen in ihm aufgestiegen, so kämpft er darum, diese Vorstellungen zu erhalten. Das ist der Kampf zur Erhaltung.
Wer in diesem vierfachen Kampf Sieger geblieben ist, mag zum siebenten Glied des Weges vorschreiten, zur rechten Andacht. Diese besteht in einem System von Meditationen, das mit dem besonnenen und aufmerksamen Ein- und Ausatmen beginnt. Die Atemübung dient dazu, den Geist zu sammeln und zur Ruhe zu bringen, um ihn für die weitere Meditation geeignet zu machen.
Nun rückt der Buddhist alle Tätigkeiten, die gewöhnlich unbewußt vor sich gehen und ganz zur Gewohnheit geworden sind, in das Licht des vollen Bewußtseins, alle Bewegungen, die sich ergeben beim Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, beim Hin- und Herblicken, beim Essen und Trinken, beim Entleeren der Verdauungsorgane, beim Einschlafen und Aufwachen. Er erobert so gewissermaßen für das Bewußtsein ein Gebiet zurück, das uns durch die Gewohnheit allmählich verlorengegangen ist. So erweitert er den Bereich seines Bewußtseins immer mehr und lernt allmählich körperliche und psychische Funktionen beherrschen, die für den gewöhnlichen Menschen unbewußt verlaufen und dem Willen entrückt sind.
Diese vollkommene Selbstbeherrschung ist aber nur ein Mittel zu einem höheren Zweck, zur Veranschaulichung der Erkenntnis des Nicht-Ich des Anattā. Je mehr der Buddhist seinen Körper und alle seine Organe und alle psychischen Vorgänge in seinem Innern zum Objekt seiner Betrachtung und seiner Beherrschung macht, um so mehr tritt ihm dies alles und damit seine ganze Persönlichkeit als Objekt, also als etwas nicht zu seinem Ich Gehöriges, gegenüber.
Eine weitere Gruppe von Meditationen dient dazu, die Anschaulichkeit dieser Erkenntnis noch mehr zu verstärken. Zu diesem Zweck zerlegt der Buddhist im Geist seinen Körper in dessen anatomische Bestandteile, indem er sich sagt: In diesem Körper sind vorhanden Haupthaare, Körperhaare, Nägel, Zähne, Haut, Fleisch, Sehnen, Knochen, Mark, Nieren, Herz, Leber, Rippenfell, Milz, Lunge, Eingeweide, Weichteile, Magen, Kot, Galle, Schleim, Eiter, Blut, Schweiß, Fett, Tränen, Hautschmiere, Speichel Rotz, Gelenköl und Urin, wobei auf der Gefühlsseite das Unschöne, Unappetitliche, Unreine aller dieser Teile betont wird, um auch gefühlsmäßig einen möglichst weiten Abstand von dem eigenen Körper zu gewinnen.
Dann folgt eine Betrachtung des Körpers nach dessen chemischer Zusammensetzung, wenn man so sagen darf. Im Text heißt es: "In diesem Körper sind vorhanden das Erdelement, das Wasserelement, das Feuerelement, das Luftelement" oder, etwas freier übersetzt: "Festes, Flüssiges, Feuriges und Flüchtiges." Man könnte statt der vier Elemente der altindischen Naturerklärung auch die Elemente der modernen Chemie der Betrachtung zugrunde legen, und das Ergebnis wäre dann das gleiche: alle Elemente und physikalischen Erscheinungen, die im menschlichen Körper vorkommen, sind dieselben, die wir in der Außenwelt antreffen. Für die Meditation eignen sich aber die altindischen Elemente besser, weil sie unmittelbar auf den Empfindungen beruhen und deshalb anschaulich sind, während die Begriffe der Chemie und Physik abstrakt sind und nur gedacht, nicht anschaulich vorgestellt werden können.
Endlich vergegenwärtigt man sich einen Leichnam in den verschiedenen Stadien der Verwesung und setzt seinen eigenen Körper diesem gleich.
Auf die Körperbetrachtung folgt eine psychologische Zergliederung der Gefühle und der Gedanken, und zuletzt werden die Gegenstände der Buddhalehre einzeln betrachtet und bis in ihre letzten Konsequenzen durchdacht.
Eine andere wichtige Meditation ist die der unermeßlichen Güte, des Mitleids, der Mitfreude und des Gleichmuts. Mit klarem Bewußtsein und besonnen, so heißt es oft in den Texten, durchdringt ein edler Jünger mit gütiger Gesinnung die ganze Welt, und zwar zuerst in einer Himmelsrichtung, dann in der zweiten, der dritten und vierten, dann nach oben und unten und ringsumher durchdringt sie nach allen Seiten vollständig mit gütiger, umfassender, großer, unermeßlicher, friedfertiger, freundlicher Gesinnung. Ebenso durchdringt er die ganze Welt mit Mitleid, mit Mitfreude und mit Gleichmut. Der Sinn dieser Meditation ist, daß die Schranken des Individuums durchbrochen werden, daß die Scheidewand zwischen Ich und Du fällt und der Geist sich weitet durch innige Einfühlung in alles, was Leben hat. Man nennt dies auch das vierfache Verweilen im Göttlichen.
Alles das gehört zur rechten Andacht, welche die Vorbedingung ist für die rechte Sammlung. Bevor mit dieser begonnen wird, muß man sich zunächst vergewissern, daß die fünf Hemmnisse aus dem Innern getilgt sind, nämlich: weltliches Begehren, Übelwollen, Schadenfreude, Trägheit und Schlaffheit, ruheloses Grübeln, Zweifelsucht. Wer noch über irgend einen Punkt der Buddhalehre im Ungewissen ist, wer noch nicht zu voller Klarheit gelangt ist, der würde vergeblich versuchen, zu rechter Sammlung zu kommen. Sind aber alle Bedingungen für sie erfüllt, so kann der Jünger Buddhas zu geistigen Zuständen von immer wachsender Reinheit und Glückseligkeit gelangen, bis schließlich im letzten und höchsten Grade der Sammlung alle Denktätigkeit aufhört und der Geist höchste Klarheit erreicht.
Aber nicht dies ist das Ziel der Buddhalehre, sondern die endgültige Lösung vom Übel - im Gegensatz zur zeitweiligen, die beim höchsten Grade der Sammlung erreicht wird - der ewige Friede, das Nirvana. Die höheren Grade der Sammlung sind überhaupt keine wesentlichen Bestandteile des Buddhawegs. Es ist nicht notwendig, sie zu durchlaufen, um das Nirvana zu erlangen; es genügt hierfür, die ersten sieben Glieder des Weges zurückgelegt zu haben. Die Sammlung im Sinne des achten Gliedes ist eine von Buddha warm empfohlene, heilsame Übung, die aber, wie Buddha selbst bestätigt hat, nicht von jedem ausgeführt werden kann; es bedarf dazu besonderer Veranlagung und günstiger äußerer Umstände. Andererseits ist die Sammlung ohne gründliche Erfüllung der übrigen sieben Glieder des Weges im Sinne Buddhas vollkommen wertlos, ja unter Umständen sogar schädlich.
Nirvana - wir gebrauchen das Sanskritwort, weil es sich bei uns eingebürgert hat; im Pali lautet es: Nibbāna - Nirvana bedeutet den Zustand des Heiligen, des Erlösten. Schon in den alten Texten wird dabei ein Unterschied gemacht, je nachdem, ob der Heilige noch lebt oder gestorben ist. Das Nirvana bei Lebzeiten wird erklärt (S.38.1) als der Zustand, in dem man sich befindet, wenn Begierde, Haß und Verblendung verschwunden sind. Dieser Zustand kann nach der Lehre Buddhas in diesem Leben erreicht werden. Wer ihn erreicht, ist ein Heiliger, und von ihm heißt es (Itivuttaka 44): "Seine fünf Sinne bleiben in Kraft, und solange sie unversehrt sind, nimmt er mit ihnen wahr, was angenehm und was nicht angenehm ist, und empfindet Glück und Leid. Daß bei ihm Begierde, Haß und Verblendung aufgehört haben, das nennt man den Nirvanazustand mit einem Erdenrest." Ist aber der Heilige gestorben, so befindet er sich im "erdenrestfreien Nirvanazustand", bei dem er keine Empfindungen mehr hat und aus dem er nicht wieder zur Welt zurückkehrt.
Nirvana als der Zustand völliger Freiheit von Begierde, Haß und dem Wahn, daß unsere Persönlichkeit unser Ich sei, ist dasselbe wie unbedingte Selbstlosigkeit. Wer aber absolut selbstlos geworden ist, der ist vom Übel oder - was dasselbe ist - vom Kreislauf der Wiedergeburten erlöst. Wenn sein Leib zerfallen ist, baut er keinen neuen wieder auf, denn der Drang, der zu neuem Leben führt, ist in ihm erloschen. Infolge dessen ziehen auch seine Handlungen, die nicht anders als gut sein können, keine Vergeltung, keinen Lohn mehr nach sich. Der erlöste Heilige handelt gut, nicht mehr aus Hoffnung auf Belohnung oder aus Furcht vor üblen Folgen böser Handlungen, sondern weil er von jeder Regung der Selbstsucht frei ist. Das ist zugleich das religiöse und moralische Ideal der Buddhalehre, des ursprünglichen Buddhismus.
Überblicken wir rückschauend noch einmal den achtfachen Weg, der das Wesen der ganzen Buddhalehre in sich begreift, so vermissen wir dabei eines, was wir sonst in jeder Religion finden: den Gottesglauben. Die Erlösung ist nicht das Werk eines göttlichen Erlösers, sondern der Mensch, jeder einzelne, hat die Möglichkeit, sich selbst zu erlösen. Auch Buddha kann dabei nicht helfen. Er zeigt nur den Weg. Gehen muß ihn jeder selbst. Es wäre aber ein Irrtum, anzunehmen, daß Buddha die Götter leugnete. Nur einen Weltschöpfer und Weltregierer kann er nicht anerkennen. Ein erster Anfang ist, so lehrt Buddha, nicht zu erkennen, und das periodische Entstehen und Vergehen dieser Welt vollzieht sich nach ehernen und unabänderlichen Gesetzen ohne das Eingreifen eines Gottes; ebenso wie die moralische Weltordnung unabänderlich feststeht und für göttliche Gnade oder Ungnade keinen Raum läßt. Den Glauben an den höchsten Gott Brahma, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, wie ihn die Brahmanen zu Buddhas Zeiten verehrten, behandelt Buddha mit feiner, aber vernichtender Ironie. Dagegen hegt er keinen Zweifel an dem Dasein höherer, übermenschlicher Wesen, die er nach dem Sprachgebrauch seiner Zeit und seines Landes Devas, Götter, oder Devatas, Geister, nannte. Aber diese Devas sind vergängliche, wenn auch langlebige, Wesen, und ihre Macht ist begrenzt. Unvergleichlich höher als sie steht der Heilige, der den achtfachen Weg zurückgelegt, Begierde, Haß und Verblendung überwunden und damit das Nirvana erreicht hat.
Da der allmächtige Gott fehlt, fehlt im Buddhismus auch das Gebet. Für den Buddhisten gibt es kein Wesen, zu dem er beten könnte. Der Buddhist ist kein Beter, sondern ein Kämpfer. Seine Meditation ist Kampf, Kampf gegen alle bösen Regungen, Kampf zur Eroberung des Guten, ein Kampf, bei dem jeder auf sich allein angewiesen ist, methodische Arbeit an der eigenen Vervollkommnung, planmäßige Übung in der Zügelung des Geistes und der Beherrschung aller Triebe und das Ringen nach anschaulicher Erkenntnis. Der Buddhist wünscht nicht die Vereinigung mit Gott, nicht das ewige Leben, sondern das Aufhören alles Lebens, denn Leben ist nicht denkbar ohne Veränderung, nicht ohne Werden und vergehen und deshalb nicht ohne Leiden. Der Buddhist will nichts anderes als den ewigen Frieden, die ewige selige Ruhe das Nirvana.
Obwohl der Buddhismus keine göttliche Offenbarung kennt, ist er doch nicht etwa eine Diesseits-Religion im Sinne des Materialismus, sondern er weist sehr deutlich und bestimmt auf das Jenseits hin, aber er enthält sich mit äußerster Strenge jeglicher positiven Aussage über das Jenseits. Er geht nie über die Grenze der menschlichen Erkenntnis hinaus und meidet alle Spekulation, aber er führt mit aller Klarheit bis unmittelbar an die Grenzen der Erkenntnis hin, so daß er, auf dem Boden der Erfahrung stehend, die Notwendigkeit eines Transzendenten nachweist. Deshalb braucht er nicht Gläubige mit Versprechungen abzuspeisen, sondern er gewährt dem Denkenden die Gewißheit, daß eine Erlösung vom Leiden des Daseins möglich ist, und dem, der sich davon überzeugt hat, weist er auch den Weg.
Die sichere Fundierung auf Erfahrung und Vernunft gibt dem Buddhismus auch die Kraft zur äußersten Toleranz. Von Buddha selbst werden Handlungen berichtet, die das Höchste an Achtung vor der Überzeugung anderer und an Entgegenkommen anderen Religionsgemeinschaften gegenüber darstellen, und es ist eine geschichtliche Tatsache, daß nie ein Tropfen Blut zu Ehren Buddhas oder zur Verbreitung seiner Lehre vergossen worden ist.
Da der Buddhismus sich an das Denken und nicht an den Glauben wendet, kann er auf religiöse Gebräuche und Symbole verzichten. In der Tat hat er in seiner ursprünglichen Gestalt alle Zeremonien verworfen und den Glauben an die Wirksamkeit religiöser Gebräuche oder Sakramente sogar als eine derjenigen Fesseln bezeichnet, die zerbrochen sein müssen, bevor der Pfad zur Heiligkeit überhaupt betreten werden kann. Der Buddhismus kennt keine Sakramente. Die einzigen feststehenden Gebräuche. die sich von alters her im Buddhismus finden, beziehen sich nicht auf die Religion, sondern sind lediglich Vorschriften für die Aufnahme in den Mönchsorden, der allerdings ein wesentlicher Bestandteil des Buddhismus ist.
Buddha hatte von vornherein die zu seiner Zeit in Indien herrschende Anschauung als selbstverständlich übernommen, daß, wer in der Häuslichkeit lebt und im Erwerbsleben steht, nicht leicht den höchsten, ganz reinen, vollkommenen Wandel der Heiligkeit führen könne (M 36). Er hat demgemäß unmittelbar nach seinem Erwachen, nachdem er die ersten Jünger gewonnen hatte, eine Gemeinde von Weltentsagenden, einen Mönchsorden, gegründet, dem später ein Nonnenorden an die Seite gestellt wurde. Dieser doppelte Orden, für den Buddha nach und nach eine Reihe von Satzungen aufstellte, hat den Zweck, die Buddhalehre zu pflegen und zu verbreiten und seinen Mitgliedern ein dem Weltgetriebe entrücktes, dem Streben nach Heiligkeit gewidmetes Leben zu ermöglichen.
Buddha hat seinem Orden aber keinerlei Askese im Sinne von Selbstquälerei vorgeschrieben, sondern im Gegenteil von Anfang an erklärt, daß der Drang zu Selbstquälerei oder Selbstabtötung ebenso zu verwerfen und zu bekämpfen sei wie der Drang zu Sinnenlust.
Man braucht aber nicht Mönch oder Nonne zu sein, um das Ziel des Buddhaweges erreichen zu können. Auch Laien können grundsätzlich zum Nirvana gelangen, aber es ist für sie viel schwerer als für Ordensmitglieder, und in der Regel werden Laienanhänger Buddhas erst in einem späteren Dasein die Erlösung verwirklichen können; denn vollständige Selbstlosigkeit läßt sich eben mit dem Erwerbsleben kaum vereinigen.
So ist der Buddhismus eine Religion, die sich von den abendländischen Religionen und vom Islam in allem, was man gewöhnlich für das Wesen der Religion hält, unterscheidet. Er ist eine Religion ohne Glauben an einen persönlichen, die Welt regierenden Gott, ohne göttliche Offenbarung, ohne Gebet, ohne Allegorien, ohne religiöse Gebräuche, Sakramente und Symbole. Der Buddhismus beweist durch seine Existenz, daß alle diese Dinge nicht zum Wesen der Religion gehören: Wenn wir nicht, wie der Osten tut, auf eine Unterscheidung zwischen Religion und Philosophie verzichten wollen, sondern mit Scbopenhauer Religion und Philosophie als zwei verschiedene Arten, das metaphysische Bedürfnis des Menschen zu befriedigen, gelten lassen, so kann man unter Berücksichtigung des Buddhismus die Grenze nur so ziehen: die Philosophie wendet sich allein an den Intellekt, ihr Zweck ist die Befriedigung des Wissensdurstes; die Religion ergreift den ganzen Menschen, sein Denken, Fühlen und Wollen. Die Religion beantwortet nicht nur die Fragen nach den letzten Dingen, sondern gibt dem Menschen Halt im Leben, bildet sein Gemüt durch Anleitung zur Meditation und zur Sammlung, gewährt ihm Trost im Leiden und erhebt ihn zum Ewigen.
So sprach der Erhabene:
"Mit klarem Geist schau an als leer das Weltgeschehen,
Den Ichwahn rotte aus, so kannst dem Tod entgehen.
Wer so die Welt anschaut, den kann der Tod nicht sehen."
(Sn 1119)
Auch so sprach der Erhabene: "In diesem sechs Fuß hohen Leib mit seinem Wahrnehmen und Bewußtsein ist die Welt enthalten und die Entstehung der Welt und das Ende der Welt und der Pfad, der zum Ende der Welt führt." (A IV, 45)
Und wieder sprach der Erhabene: "Wenn aus irgend einem Grunde mannigfache Wahrnehmungen der Außenwelt (papancasannyāsankhā) an den Menschen herantreten und er sich nicht an ihnen ergötzt, sich nicht auf sie einläßt und nicht an ihnen hangt, so ist dies das Ende widerwilliger Abneigung, das Ende des Spekulierens (ditthānusaya), das Ende des unsicheren Schwankens, das Ende stolzer Anmaßung, das Ende des Machtstrebens [2], das Ende des Irrens (avijjānusaya), das Ende von Kampf und Krieg, von Streit und Zank, von Zwietracht und Lüge; dann schwinden alle diese unheilvollen Dinge dahin." (M 18)
Nachdem Budhha dies gesagt hatte, stand er auf und begab sich in das Gemeindehaus (vihāra). Die anwesenden Bhikkhus baten darauf Mahākaccāna, ihnen den Ausspruch Buddhas zu erläutern. Kaccāna empfahl ihnen zunächst, sich mit ihrer Bitte an Buddha selbst zu wenden. Da sie aber darauf bestanden, daß er ihnen die Erläuterungen geben sollte, führte er aus:
"Wenn ein Auge da ist und sichtbare Dinge da sind, entsteht Sehen [3]; treffen diese drei zusammen, so entsteht eine Berührung oder ein Eindruck. Ist ein Eindruck da, so entsteht eine Empfindung. Was man empfindet, das nimmt man wahr; was man wahrnimmt, das verarbeitet man geistig oder davon bildet man Begriffe (vitakketi). Wovon man Begriffe gebildet hat, das breitet man aus als Außenwelt (papanceti). Was man als Außenwelt ausbreitet, das sind die mannigfachen Wahrnehmungen der Außenwelt (papancasannyāsankhā), die an den Menschen herantreten in den vergangenen, zukünftigen und gegenwärtigen sichtbaren Dingen.
Wenn ein Ohr da ist und Töne da sind, entsteht Hören. . . . wenn eine Nase da ist und Düfte da sind, entsteht Riechen, . . . wenn eine Zunge da ist und Säfte da sind, entsteht Schmecken, . . . wenn ein Körper da ist und tastbare Dinge da sind, entsteht Tasten [4], . . .wenn ein Organ des inneren Sinnes [5] da ist und psychische Dinge (dhammā) da sind, entsteht Vorstellen [6]. Treffen diese drei - im letzten Falle: Organ des inneren Sinnes, psychische Dinge und Vorstellen - zusammen, so entsteht eine Berührung oder ein Eindruck. Ist ein Eindruck da, so entsteht eine Empfindung. Was man empfindet, das nimmt man wahr; was man wahrnimmt, das verarbeitet man geistig oder davon bildet man Begriffe. Wovon man Begriffe gebildet hat, das breitet man aus als Außenwelt; was man als Außenwelt ausbreitet, das sind die mannigfachen Wahrnehmungen der Außenwelt, die an den Menschen herantreten in den vergangenen, zukünftigen und gegenwärtigen psychischen Dingen."
Weiter sagte Kaccāna:
"Wenn ein Auge da ist, wenn sichtbare Dinge da sind und Sehen stattfindet, so ist es möglich, daß dann eine Berührung oder ein Eindruck zustandekommen wird. Wenn ein Eindruck entstanden ist, so ist es möglich, daß eine Empfindung zustande kommen wird. Wenn eine Empfindung entstanden ist, so ist es möglich, daß eine Wahrnehmung zustande kommen wird. Wenn eine Wahrnehmung entstanden ist, so ist es möglich, daß eine Begriffsbildung zustande kommen wird. Wenn sich Begriffe gebildet haben, so ist es möglich, daß ein Herantreten der mannigfachen Wahrnehmungen der Außenwelt zustande kommen wird.
Mit den gleichen Worten wird das Zustandekommen der anderen fünf Sinneswahrnehmungen dargestellt. Dann folgt die Umkehrung:
"Wenn kein Auge da ist, keine sichtbaren Dinge da sind und kein Sehen stattfindet, so ist es nicht möglich, daß eine Berührung oder ein Eindruck zustande kommen wird. Ist kein Eindruck entstanden, so ist es nicht möglich, daß eine Empfindung zustande kommen wird. Ist keine Empfindung entstanden, so ist es nicht möglich, daß eine Wahrnehmung zustande kommen wird. Ist keine Wahrnehmung entstanden, so ist es nicht möglich, daß eine Begriffsbildung zustande kommen wird. Sind keine Begriffe entstanden, so ist es nicht möglich, daß ein Herantreten der mannigfachen Wahrnehmungen der Außenwelt zustande kommen wird."
Wieder wird das gleiche für die anderen fünf Sinne ausgeführt. Dann fuhr Kaccāna fort:
"Was der Erhabene in Kürze ausgesprochen hat, das habe ich in ausführlicher Darlegung so verstanden. Wenn ihr wollt, fragt den Erhabenen, und was euch der Erhabene sagt, daran haltet euch!"
Die Bhikkhus fragten Buddha, und er antwortete: "Kundig und weise ist Mahākaccana. Wenn ihr mich gefragt hättet, würde ich euch die Sache ebenso erklärt haben. Haltet euch daran!" (M 18)
Der Ausspruch Buddhas, den Kaccāna - oft auch Mahākaccāna genannt - erläuterte, ist ein echtes Sutta, sanskrit: sūtra, ein "Leitfaden" oder ein "kurzer Lehrsatz", ein Merksatz, eine Zusammenstellung von Stichworten, die auswendig gelernt und in freier Rede ausführlich erklärt wurden. In der Form solcher kurzen Merksätze wurden im alten Indien die Lehren der Meister im Gedächtnis aufbewahrt und vom Lehrer auf den Schüler übermittelt. Nebenher ging die Überlieferung eines mehr oder weniger freien Kommentars, dessen Wortlaut nach den Umständen wechseln konnte.
Hier, im 18. Sutta des Majjhima-Nikaya, ist, wie an vielen Stellen des Pali-Kanons, der erste Kommentar, die Erläuterung, gleich mit überliefert, ja, Kaccāna hat seinem ersten Kommentar gleich noch einen zweiten hinzugefügt, den wir mit den Worten: "Weiter sagte Kaccāna" einleiteten, und beide Kommentare stehen in ihrem Wortlaut fest wie das Sutta selbst; aber auch diese Kommentare werden innerhalb der Bhikkhu-Gemeinde, und zwar von Fall zu Fall in freier Rede, noch weiter erläutert worden sein; und eine solche weitere Erläuterung ist auch für uns in der Gegenwart erforderlich.
Betrachtet man den Ausspruch Buddhas für sich allein, so scheint der Schwerpunkt auf der ethischen Seite zu liegen: Wenn man sich frei macht von dem Hangen an weltlichen Dingen, dann überwindet man alle üblen Gemütszustände und gelangt zum Frieden. Zweifellos lag Buddha daran, diese wichtige, von ihm immer wieder verkündete Lehre seinen Jüngern noch einmal in einer besonders einprägsamen Form vorzutragen. Aber die wohlgeschulten Bhikkhus, denen diese Lehre schon geläufig war, merkten sofort, daß Buddha diesmal noch etwas Besonderes, etwas Neues gesagt hatte, was sie bisher von ihm nicht gehört hatten. Das besondere Neue fanden sie mit Recht in dem Wort papanca, das hier offenbar das Stichwort ist, das gemerkt und erläutert werden sollte.
Dieses Wort wurde selten gebraucht, und es ist außerdem mehrdeutig, und darum baten die Bhikkhus den als gelehrt und weise bekannten Mahākaccāna um eine Erläuterung, Kaccāna merkte auch sofort, daß es auf dieses Wort papanca ankam, und er wußte auch, "was dahinter steckt". Darum ließ er den ethischen Gehalt des Buddha-Worts als bekannt beiseite und befaßte sich ausführlich nur mit dem Wort papanca.
Nach Childers' Dictionary bedeutet das Wort: "Zerstreutheit, Weitschweifigkeit; Aufschub, Verzug; im religiösen Sinn irgendeiner der üblen Zustände, wie übler Wunsch, falsche Lehre, Stolz, der den Menschen in seinem geistigen Fortschritt hemmt oder hindert." Das P.T.S Dictionary gibt an: "Hindernis, Aufschub, Illusion, Besessenheit, Hindernis für geistigen Fortschritt; und für papancasannyā: Besessenheitsidee, fixe Idee." Dies alles paßt hier nicht. Das entsprechende Sanskrit-Wort prapanca hat nach Capeller's Dictionary folgende Bedeutung: "Ausdehnung, Entwicklung, Weitschweifigkeit, Erweiterung; sichtbare Welt oder das Universum (philosophisch)."
Offenbar hat Buddha das Wort in dem letzten, dem philophischen Sinn gebraucht. Das war ungewöhnlich, und darum verlangten die Bhikkhus nach einer Erklärung. Kaccāna sagte ihnen, daß das Wort hier diese philosophische Bedeutung hat, und Buddha bestätigte es nachher. In dem Merksatz Buddhas steckt aber noch mehr: "Wenn aus irgend einem Grunde mannigfache Wahrnehmungen des papanca, der sichtbaren Welt, an den Menschen herantreten", sagte er, und es bedurfte der Erklärung, was damit gemeint war. Wie treten die mannigfachen Wahrnehmungen des papanca an den Menschen heran? Dies bedeutet, in die Sprache der deutschen Philosophen übersetzt: Wie kommt im Menschen die Erkenntnis der Welt zustande? Oder, wie Kant sich ausdrückte: Wie ist Erkenntnis möglich? Dies ist das Problem der Erkenntnislehre, das Kant in seiner "Kritik der reinen Vernunft" als erster Philosoph des Abendlandes gelöst hat. Aus dem 18. Sutta des Majjhima-Nikaya aber erfahren wir, daß lange vor Kant Buddha das Problem als solches erkannt und gelöst hat und daß Kaccāna die Lösung kannte und sie im Sinne Buddhas darlegen konnte. Wenn auch der Wortlaut der Lösung, wie man es nicht anders erwarten kann, bei den beiden großen Denkern, zwischen denen mehr als 2000 Jahre liegen, verschieden ist, so ist doch ihr Sinn der gleiche. Der Sinn muß notwendig der gleiche sein; denn das Problem kann nur eine richtige Lösung haben.
Kaccāna stellt an die Spitze seiner Ausführungen die Tätigkeit der sechs Sinne. Das sind die uns geläufigen fünf äußeren Sinne und dazu als sechster der innere Sinn, die Empfänglichkeit für außerhalb liegende psychische Dinge. Wie dem Auge als Sehorgan die sichtbaren Dinge (rūpa) gegenüberstehen, so stehen dem Organ des inneren Sinns, dem Manas, die unkörperlichen, psychischen Dinge (dhamma) gegenüber. Unter Manas muß also hier das Organ verstanden werden, das die Fähigkeit hat, von außen her Eindrücke aufzunehmen, die nicht durch die fünf äußeren Sinne vermittelt werden; mit anderen Worten: entweder das Organ zur Wahrnehmung der im Unterbewußtsein durch die Sankhara gebildeten Vorstellungen und Begriffe - oder das Organ der Telepathie, des räumlichen Hellsehens, des Gedankenlesens und ähnlicher Phänomene. Ob das Wort hier die eine oder die andere dieser beiden Bedeutungen hat, mag in diesem Zusammenhang unentschieden bleiben. Jedenfalls muß es das Organ bezeichnen, das von außen an den Menschen herantretende psychische Dinge aufnimmt; sonst wäre Manas nicht ein Analogon zu Auge, Ohr, Nase, Zunge und tastendem Körper.
Bei dem fünften Sinn, dem tastenden Körper (kāya) werden verschiedene Empfänglichkeiten zusammengefaßt: neben dem eigentlichen Tastsinn, der Hartes und Weiches, Festes und Flüssjges unterscheidet, gehören dazu noch die Muskelempfindungen, die uns die Grundlage geben für die Begriffe Bewegung und Ruhe, lang, breit, hoch, d.h. räumliche Ausdehnung, ferner der Temperatursinn und noch einige andere Qualitätssinne.
Die Empfänglichkeit der Sinne, das Vermögen, Eindrücke aufzunehmen, "von Gegenständen affiziert zu werden", wie Kant sagt, ist das, was Kant die "Sinnlichkeit" nennt. Und nun vergleiche man den ersten Absatz von Kaccānas Erläuterung mit dem Anfang von Kants "Kritik der reinen Vernunft" § 1:
Kant sagt: "Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung. Diese aber findet nur statt, sofern uns der Gegenstand gegeben wird, dieses aber ist wiederum, uns Menschen wenigstens, nur dadurch möglich, daß er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere." (Affizieren entspricht genau dem Pali-Wort phusati = berühren, einen Eindruck machen.) "Die Fähigkeit (Receptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe. Alles Denken aber muß sich, es sei geradezu (directe) oder im Umschweif (indirecte), vermittelst gewisser Merkmale, zuletzt auf Anschauungen, mithin, bei uns, auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann.
Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben affiziert werden, ist Empfindung. . .
Vermittelst des äußeren Sinnes (einer Eigenschaft unseres Gemüts) stellen wir uns Gegenstände als außer uns, und diese insgesamt im Raume vor. Darinnen ist ihre Gestalt, Größe und Verhältnis gegeneinander bestimmt oder bestimmbar."
Soweit Kant. Ist es nicht dem Sinne nach genau, fast Satz für Satz, dasselbe, was Kaccāna ausführte?
Fassen wir das Ergebnis noch einmal zusammen:
Wenn die Empfänglichkeit der Sinne, die "Sinnlichkeit" Kants, vorhanden ist, dann kann eine Berührung mit den Gegenständen der Sinne stattfinden, wir können von ihnen "affiziert" werden. Durch die Berührung, den Eindruck oder die Affizierung kann eine Empfindung entstehen.
Empfindung ist etwas Unkörperliches, Psychisches, sie ist unräumlich und enthält nichts Räumliches. Sie hat aber auch, wenigstens für die sinnliche Wahrnehmung, keine zeitliche Dauer, sondern sie ist streng an die Gegenwart gebunden. Die Gegenwart aber ist nichts weiter als der Punkt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Wie der Punkt im Raum keine Ausdehnung hat, so hat der Punkt in der Zeit keine Dauer.
Hier müssen wir jedoch eine Einschränkung machen: Der Satz, daß der Punkt keine Ausdehnung hat, gilt nur für die reine Mathematik, die es mit gedachten Größen zu tun hat. In der Wirklichkeit, in der Natur, gibt es keinen mathematischen Punkt, und so gibt es in der Wirklichkeit auch keinen mathematischen Zeit-Punkt, dessen Dauer gleich null wäre, und die Gegenwart als die zwischen Vergangenheit und Zukunft liegende Zeit ist nicht gleich null, sondern nur von unmerklich und unmeßbar kurzer Dauer. Wäre sie gleich null, so wäre auch die Empfindung gleich null, und es würde aus den Empfindungen, wenn auch noch so viele addiert würden, nie eine Wahrnehmung entstehen. Die Dauer der einzelnen Empfindung ist aber so kurz, daß sie für die sinnliche Wahrnehmung der Null nahezu gleichkommt. In dem Augenblick, in dem die Empfindung entsteht, ist sie auch schon vorüber. Sie wird nicht wahrgenommen, sie ist noch keine Wahrnehmung, aber sie muß da sein als die Grundlage aller Wahrnehmung. Nicht die einzelne Empfindung kann wahrgenommen werden, sondern nur die Zusammenfassung einer Reihe von Empfindungen, und diese Zusammenfassung, die Synthese, besorgt der Verstand.
Das wußte auch Dharmakīrti, ein großer buddhistischer Philosoph des 7. Jahrhunderts nach Chr., der hierüber schrieb (nach Th. Stcherbatzky, "Erkenntnistheorie und Logik nach der Lehre der späteren Buddhisten"):
"Die gesonderten Momente werden in unserem Bewußtsein zur Kette vereinigt; die Einheit, die diese Kette darstellt, existiert nur dank unserem Bewußtsein, das die gesonderten Momente in der Kette vereinigt. Nur die vereinigten Momentketten werden durch unser Bewußtsein deutlich erkannt. Der einzelne Moment ist für das Bewußtsein vollkommen unzugänglich."
Im Gegensatz zur Empfindung, die momentan ist und nicht zum Bewußtsein kommt, geht die Wahrnehmung in der Zeit vor sich, sie erfordert eine gewisse, wenn auch sehr kurze Dauer und faßt immer viele Momente zusammen, die bereits der Vergangenheit angehören. Wahrgenommen wird nie, was wirklich gegenwärtig ist, sondern nur, was war, was schon vergangen ist. Im gewöhnlichen Leben merken wir das nicht, weil die Zeit, die zwischen dem Eindruck, der Empfindung und der Wahrnehmung verläuft, sehr kurz ist. Von der Zeitdifferenz zwischen dem Zustand des Objekts, der wahr genommen wird, und dem Akt des Wahrnehmens konnen wir uns aber leicht überzeugen, wenn wir an die physikalische Tatsache der Lichtgeschwindigkeit denken. Der Lichtstrahl von der Sonne bis zu unserem Auge braucht 500 Sekunden oder 8 1/3 Minuten. Von dem nächsten Fixstern braucht er 3 ½ Jahre, von manchen Fixsternen Tausende von Jahren. Wenn wir also die Sonne sehen, steht sie schon nicht mehr da, wo wir sie sehen; wenn wir einen Fixstern sehen, wissen wir nur, daß er vor einigen tausend Jahren dort stand, wo er für uns zu stehen scheint. Beim Schall ist der Zeitablauf leichter zu beobachten: wenn wir eine Bombe fallen hörten, war sie bereits zerplatzt und hatte ihr Unheil angerichtet.
Bei diesen Beispielen liegt allerdings der größte Teil der Zeitdifferenz zwischen dem Auftreten des Objekts und der Empfindung, nicht zwischen der Empfindung und der Wahrnehmung. Sicherlich liegt aber auch zwischen der Empfindung und der Wahrnehmung ein, wenn auch kleiner, Zeitraum, und die Wahrnehmung selbst hat im Gegensatz zur Empfindung eine meßbare zeitliche Dauer, so daß sie sich stets nur auf Vergangenes beziehen kann.
"Was man wahrnimmt, davon bildet man Begriffe", sagt Kaccāna, und Kant sagt dasselbe mit folgenden Worten:
"Wollen wir die Receptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, sofern sie auf irgendeine Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen, so ist dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität der Erkenntnis der Verstand. Unsere Natur bringt es mit sich, daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, das ist: nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen affiziert werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist der anderen vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriff sind blind. . . Der Verstand vermag nichts anzuschauen und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen."[7]
Diese Verstandestätigkeit, durch die wir das Wahrgenommene zu Begriffen verarbeiten und die uns gewöhnlich nicht zum Bewußtsein kommt, wird in der Buddhalehre Sankhārā genannt. Erst wenn die Sankhārā ihre Tätigkeit vollendet haben, tritt das, was sie geschaffen haben, nämlich die Begriffe, ins Bewußtsein.
Kaccāna fährt fort: "Wovon man Begriffe gebildet hat, das breitet man aus als Außenwelt." Kant drückt dasselbe so aus: "Damit gewisse Empfindungen auf etwas außer mir bezogen werden, ingleichen damit ich sie als außer und nebeneinander, mithin nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen könne, dazu muß die Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen. Demnach kann die Vorstellung des Raumes nicht aus den Verhältnissen der äußern Erscheinung geborgt sein, sondern diese äußere Erfahrung ist selbst nur durch gedachte Vorstellung allererst möglich."[8]
Die Lösung des Problems ist also die gleiche: Die Ausbreitung der Außenwelt oder die Erkenntnis der räumlichen Welt kommt durch zwei Faktoren zustande, von denen keiner fehlen darf: der eine Faktor ist die Empfänglichkeit oder Rezeptivität der Sinne, die "Sinnlichkeit", vermöge deren die Sinne mit irgend etwas außerhalb des erkennenden Subjekts zusammentreffen, sich berühren, affiziert werden; der andere Faktor ist eine geistige Tätigkeit des erkennenden Subjekts, der Verstand, vermöge dessen die von den Sinnen dargebotenen Zeichen zusammengefaßt und in die Raumvorstellung eingeordnet werden, so daß Begriffe von körperlichen Dingen entstehen. Das Zusammenwirken der beiden Faktoren vollzieht sich unbewußt, erst das Ergebnis dieses Zusammenwirkens kommt zum Bewußtsein als Ausbreitung der Außenwelt. Wie jenes "Etwas", das sich mit den Sinnen berührt oder die Sinne affiziert, beschaffen ist - Kant nennt es das "Ding an sich" - kann niemals erkannt werden, denn es liegt jenseits des Erkenntnisvorgangs. Nur das Produkt aus den von den Sinnen empfangenen Eindrücken und der Tätigkeit des Verstandes ist das, was wir als Außenwelt erkennen.
Ein Beispiel möge das verdeutlichen. Es wird wahrgenommen: mit dem Auge Rotes in verschiedenen Abstufungen und Grünes; mit der Nase ein eigentümlicher, lieblicher Duft; mil dem tastenden Finger ein schmerzhafter Stich. Diese Wahrnehmungen treten nicht zufällig und vereinzelt auf, sondern jedesmal, wenn die Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird, in der gleichen Verbindung. Dann sagt man: Hier ist ein Ding, das die Eigenschaften hat, welche wahrgenommen wurden; es ist rot, darunter und daneben grün, es duftet lieblich und es sticht, wenn man es berührt. Man nennt das Ding eine Rose mit Stiel, Blättern und Dornen. Die Begriffe "Ding" und "Rose" bildet der Verstand, und wenn er sie gebildet hat, legt er ihnen die durch die Sinne erzeugten Wahrnehmungen als Eigenschaften bei. Was das ist, was die Empfindungen verursacht, aus denen die Wahrnehmungen entstehen, können wir niemals wissen. Aber das können wir wissen, daß "Ding" und "Rose" Begriffe sind, die der Verstand bildet. Er wird dazu zwar veranlaßt, ja genötigt durch das regelmäßige Zusammentreffen der verschiedenen Wahrnehmungen, aber er schafft sie trotzdem selbsttätig. Wie alle Dinge, so ist auch die Rose ein Erzeugnis des Verstandes, ein Gebilde des Denkens, und ebenso ist unser Körper, unsere Persönlichkeit, ist die ganze Welt nichts weiter als ein Gebilde des Denkens.
Darum ist das, was wir die Welt nennen, "in diesem sechs Fuß hohen Leib mit seinem Wahrnehmen und Bewußtsein enthalten und die Entstehung der Welt und das Ende der Welt und der Pfad, der zum Ende der Welt führt." Und wenn wir erkennen, daß die Weltausbreitung auf solche Weise zustande kommt, dann betrachten wir die Welt als leer. Betrachten wir sie aber auf Grund dieses Wissens als leer, so hört alles Haften an der Welt auf, und der Tod hat für uns seine Schrecken verloren; er kann uns nicht berühren. "Der Todesfürst sieht uns nicht."
Die vorstehenden Ausführungen wurden im Herbst 1947 für M. D. Gunasena & Co. Ltd. in Colombo für deren singhalesische buddhistische Zeitschrift verfaßt, dort in die singhalesische Sprache übersetzt und im Mai 1948 in dieser Zeitschrift veröffentlicht. Gleichzeitig erschien eine englische Übersetzung in der Vesak-Nummer der Zeitschrift "The Buddhist" in Colombo. Durch diese beiden Veröffentlichungen erfuhren die Buddhisten in Asien zum ersten Mal wieder die wahre Bedeutung des wichtigen Sutta 18 des Majihima-Nikaya, die dort seit vielen Jahrhunderten in Vergessenheit geraten und auch in Europa bisher unbekannt war, wie aus den großen Pali-Wörterbüchern und aus den Übersetzungen von K.E. Neumann und P. Dahlke zu ersehen ist.
Ein Beitrag zur Auslegung des Satipatthānasutta
Einst in einer schönen, klaren Mondscheinnacht saßen sechs eminente Buddha-Jünger im Gosingawalde beisammen und rühmten, ein jeder nach seiner Art, die Eigenschaften, die einen Bhikkhu auszeichnen sollen. Zum Schluß kamen sie überein, Buddha über ihr Gespräch zu berichten und ihn um sein Urteil zu bitten. Ihr Thema lautete: "Was für ein Bhikkhu würde dem Gosingawalde Glanz verleihen?" oder frei übersetzt: "Was muß ein Bhikkhu vor anderen voraushaben, um dem Gosingawalde besonderen Glanz zu verleihen?"
Ānanda pries die Gelehrsamkeit, die gründliche Kenntnis des Buddhaworts, Revata die Meditation in leerem Gemach, Anuruddha das Hellsehen, das "himmlische Auge", Kassapa die strenge Askese des Waldeinsiedlers, Moggallāna das förderliche Zwiegespräch über die Buddhalehre, Sāriputta die Beherrschung des eigenen Denkens.
Als Buddha ihren Bericht gehört hatte, lobte er sie alle, fügte aber hinzu: "Besonderen Glanz würde dem Gosingawalde ein Bhikkhu verleihen, der sich nach dem Mahle in der Pallanka-positur, mit gekreuzten Beinen, den Körper gerade aufgerichtet, niedersetzt und ,die Achtsamkeit vor sich aufrichtet' mit dem festen Vorsatz, nicht eher aufzustehen, als bis er sich von allen weltlichen Einflüssen befreit und seinen Geist erlöst hat."
Die Achtsamkeit vor sich aufrichten - parimukham satim upatthāpeti - bedeutet: das Satipatthāna, die Hauptdenkübung, durchführen.
Diese anmutige Szene, die im 32. Sutta des Majjhima-Nikaya lebendig geschildert wird, zeigt deutlich, daß Buddha die Aufrichtung der Achtsamkeit, das Satipatthāna, höher schätzt als alle anderen, an sich auch rühmenswerten, Betätigungen.
Ein anderes zuverlässiges Zeugnis für die Wichtigkeit des Satipatthāna ist der Bericht über Ānandas Weg zur Arahaschaft im Cullavagga XI. Ānanda, der viele Jahre lang der ständige dienende Begleiter Buddhas gewesen war und bei der Gemeinde in hohem Ansehen stand, weil er ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis hatte und alle Lehrreden und Zwiegespräche Buddhas und seiner großen Jünger, die er mit angehört hatte, noch nach langer Zeit Wortgetreu rezitieren konnte, war von Kassapa, dem Einberufer und Leiter des bald nach dem Hinscheiden Buddhas in Rajagaha zusammentretenden Konzils, aufgefordert worden, die Lehrtexte auf diesem Konzil vorzutragen. Seine Referate bilden die Grundlage des Suttapitaka, so wie es später auf Palmblätter aufgeschrieben wurde und wie es uns heute gedruckt vorliegt. Obwohl Ānanda alles, was Buddha und seine großen Jünger dargelegt hatten, auswendig wußte, fehlte ihm damals doch noch die tiefe Einsicht in den Sinn der Lehre. Er wußte die Lehren wohl "auswendig", aber er hatte sie noch nicht "inwendig" geschaut, erlebt. Er war deshalb noch ein Sekha, ein Ringender, und kein Asekha, keiner, der mit dem Ringen fertig ist, kein Arahā, wie es alle anderen zum Konzil versammelten Theras - Ordensälteren - waren. Nun sagte er sich - so heißt es im Cullavagga - es gezieme sich für ihn nicht, in der Versammlung der Arahās zu reden, ohne selbst ein Arahā zu sein. Darum übte er eine ganze Nacht hindurch bis zum Morgengrauen die "Achtsamkeit in bezug auf den Körper" - kāyagatā sati - das heißt: den Teil des Satipatthāna, der die Betrachtungen über den Körper enthält. Dadurch "befreite er sich von den weltlichen Einflüssen und erlöste seinen Geist". Hier werden dieselben Worte gebraucht, die Buddha im Gosingawalde sprach: anupādāya āsavehi cittam vimucci. So wurde Ānanda ein Arahā.
Das Satipatthāna ist im Pali-Kanon zweimal überlief in D 22 und M 10, beide Male zum größten Teil gleichlautend, die Lesart im D enthält jedoch eine ins einzelne gehende Erklärung der vier edlen Wahrheiten, während diese in der Lesart des M kurz aufgezählt werden.
Das Wort Satipatthāna bedeutet übrigens nicht, wie K.E. Neumann und nach ihm andere übersetzt haben, "Pfeiler der Einsicht", sondern "Aufrichtung" oder "Bereithaltung der Achtsamkeit". Es ist zusammengesetzt aus sati + upatthāna, in Sanskrit: smrti + upasthāna, wie schon Childers in seinem Dictionary richtig bemerkt hat. Im buddhistischen Sanskrit lautet das Wort smrtyupasthāna. Ebenso deuten es auch Geiger (Pali-Literatur und Sprache, § 61) und Andersen (Pali Glossary). Daß das Wort so gebildet ist, ergibt sich zweifellos aus den im Sutta selbst vorkommenden Worten: parimukham satim upatthāpetva - "indem er die Achtsamkeit vor sich aufrichtet oder bereithält", denselben Worten, die Buddha im Gosingawalde sprach.
Der Darlegung des Satipatthāna schickt Buddha die Worte voraus: "ekāyano ayam maggo". Dies bedeutet nicht, wie bisher übersetzt wurde: "Dies ist der einzige Weg", sondern: "Diesen Weg muß jeder allein für sich gehen" ("ohne Weggenossen" fügt der Kommentar hinzu). Das Satipatthāna eignet sich, also nicht für eine gemeinsame Andacht, die Buddha überhaupt ablehnt.
Das Satipatthāna besteht aus 4 Hauptteilen:
1. Betrachtung über den Körper;
2. Betrachtung über die Gefühle;
3. Betrachtung über die Gedanken;
4. Betrachtung über die Gegenstände der Buddhalehre, die Dhammas.
Von diesen 4 Haupteilen ist der erste, die Betrachtung über den Körper, derjenige, den Buddha am höchsten schätzte; er ist es auch, der Ānanda zur Erlangung der Arahāschaft verhalf.
Die Betrachtung über den Körper ist aber nicht, wie es auf den ersten Blick scheint, eine einheitliche Anweisung zur Meditation, sondern sie setzt sich zusammen aus 6 verschiedenen Meditationsübungen, von denen die zweite und die dritte nicht mit den übrigen unmittelbar verbunden werden können. Es ist zu unterscheiden:
1. das achtsame Ein-und Ausatmen bei aufrechtem Sitzen;
2. das Sich-Bewußtwerden einer jeden Körperhaltung;
3. das Handeln mit Wissensklarheit bei allen Körperfunktionen;
4. die Betrachtung des anatomischen Baues des Körpers;
5. die Betrachtung der stofflichen Zusammensetzung des Körpers;
6. die Betrachtung der Auflösung des Körpers, die "Leichenbetrachtung".
Jede dieser Übungen wird abgeschlossen mit den Worten: "So sinnt der Bhikkhu dauernd über seinen Körper nach und betrachtet ihn von innen und außen und beiderseits - d.h. er betrachtet ihn für sich und in seinen Beziehungen zur Außenwelt - er sinnt darüber nach, wie Körper gesetzmäßig entstehen und vergehen, und verweilt dabei, indem er sich klarmacht, wie es der Erkenntnis und der Achtsamkeit entspricht - d.h. soweit jeweils seine Einsicht und der Grad seiner Aufmerksamkeit reicht -, daß es ein Körper ist - eben nur ein Körper, aber nicht sein Ich; er hält sich frei von Anhänglichkeit (an den Körper) und haftet an nichts in der Welt."
Schon die regelmäßige Wiederkehr dieses Abschlusses, der sich bei der Betrachtung über die Gefühle und bei der über die Gedanken nur je einmal findet, beweist, daß wir es bei der Körperbetrachtung mit sechs verschiedenen Übungen zu tun haben.
Bei der ersten Übung muß der Meditierende sitzen. Die zweite und dritte kann er im Sitzen überhaupt nicht vornehmen. Diese beiden sind auch nicht auf eine bestimmte Meditationszeit beschränkt, sondern sie dauern Tag und Nacht und beschäftigen den Meditierenden unausgesetzt. Die vierte, die fünfte und die sechste Übung können in jeder Körperlage angestellt werden, wenn auch der Pallanka-sitz mit gekreuzten Beinen bevorzugt wird; im Gegensatz zur zweiten und dritten sind sie ihrer Natur nach zeitlich begrenzt wie die erste.
Die Anweisung für die zweite Übung lautet: "Wenn ein Bhikkhu geht, so weiß er: ,Ich gehe', usw." Das heißt: er macht sich klar, was das bedeutet ,ich gehe'. Er fragt sich: "Wer geht?" und antwortet: "Es ist eine Bewegung, ein Vorgang, der ursächlich bedingt ist durch andere Vorgänge, durch Willensregungen, die ihrerseits wieder bedingt sind durch gewisse Gedanken oder Vorstellungen, und so fort, aber es ist kein Subjekt zu erkennen, es ist kein "Ich" dabei, das handelt. Entsprechende Betrachtungen stellt er auch bei allen anderen Bewegungen und Körperhaltungen an.
In der dritten Übung wird aus dem "pajānāti", dem einfachen "Wissen", ein "sampajānakārī hoti", ein "Handeln mit Wissensklarheit", und dieses erstreckt sich auf noch mehr Funktionen des Körpers, grundsätzlich wohl auf alle diejenigen, die im gewöhnlichen Leben unterhalb der Schwelle des Bewußtseins verlaufen. Als Beispiele für diese werden die Nahrungsaufnahme und die Entleerung der Verdauungsorgane sowie das Einschlafen und Aufwachen angeführt.
Von der zweiten zur dritten Übung finden wir ein ähnliches Fortschreiten wie innerhalb der ersten Übung, wo es heißt: "Wenn er lang einatmet, ist er sich bewußt, daß er lang einatmet, wenn er lang ausatmet, ist er sich bewußt, daß er lang ausatmet usw." Dies ist die erste Stufe, daß er sich der sonst unbewußt verlaufenden Funktion des Atmens bewußt wird. Die zweite ist, daß er diese Funktion nach seinem Willen regelt und sie dadurch zu beherrschen sucht: "Dann übt er sich - sikkhati - jeden Atemzug (oder: "den ganzen Körper" sabbakāya) voll empfindend ein- und auszuatmen, und er übt sich, so ein- und auszuatmen, daß er damit den körperlichen Prozeß - kayāsankhāra, womit auch gemeint sein kann: den Atem - besänftigt." Wir dürfen dafür wohl auch sagen: "daß er damit den Körper entspannt."
Der Steigerung, die hier im "sikkhati" gegenüber dem einfachen "pajānāti" liegt, entspricht in der dritten Übung die Steigerung "sampajānakārī hoti" gegenüber "pajānāti". Daraus ist zu schließen, daß das Eindringen des klaren Bewußtseins in die gewöhnlich unbewußt verlaufenden Funktionen auch zur Beherrschung dieser Funktionen führen soll, ebenso wie das Regulieren des Atems auf die Beherrschung der Atemtätigkeit abzielt.
Das Beherrschen der Körperfunktionen ist aber nicht der lerzte Zweck der Übungen. Dieser ergibt sich vielmehr aus der Stellung der Vorschriften innerhalb des satipatthāna suttas und ist angedeutet in den Sätzen, die jeden Abschnitt dieses Suttas abschließen. Das ganze Satipatthāna, die Hauptdenkübung, dient offensichtlich dazu, dem Meditierenden die anschauliche Erkenntnis zu verschaffen, daß das Körperliche und das Psychische, also sein empirsches Ich, seine Persönlichkeit in ihren beiden Erscheinungsweisen, nicht sein wahres Ich, daß sie "anattā" sind. Beim Körper soll dies dadurch erreicht werden, daß der eigene Körper in allen seinen Funktionen durchschaut wird. Damit wird er den anderen Körpern der physischen Welt gleichgestellt, und so wird die Gebundenheit an den Körper nach und nach gelockert und schließlich ganz gelöst.
Der Meditierende lernt den eigenen Körper kennen, behandeln und beherrschen wie einen beliebigen Gegenstand der physischen Welt. Dadurch wird ihm der eigene Körper innerlich entfremdet, er wird für ihn ein Werkzeug wie der Hammer, die Zange, der Federhalter oder die Schreibmaschine, wie das Fahrrad oder die Geige, und so hört er auf, an ihm zu haften. Darum heißt es: "Er sinnt darüber nach, wie Körper gesetzmäßig entstehen und vergehen, und verweilt dabei, indem er sich klar macht, wie es der Erkenntnis und der Achtsamkeit entspricht, daß es ein Körper ist (zu ergänzen: aber nicht sein Ich); er hält sich frei von Anhänglichkeit und haftet an nichts in der Welt."
Dies also ist der Sinn von sampajānakārī: mit Wissensklarheit in jede Körperfunktion so eindringen, daß für den Meditierenden der eigene Körper den gleichen Rang erhält wie die übrigen Körper, die wahrgenommen werden; daß der eigene Körper also seiner Vorzugsstellung entkleidet wird und daß dadurch die Gebundenheit zwischen ihm und seinem Körper mehr und mehr aufgehoben wird. Das Ziel ist die Ablösung oder Loslösung vom Leibe.
In genau der gleichen Weise lernt der Meditierende seine eigenen Gefühle und seine eigenen Gedanken den übrigen Dingen der psychischen Welt gleichzustellen, sie sich zu entfremden und sich von ihnen innerlich zu lösen.
Wenn nämlich der Meditierende sein eigenes Gefühl zum Gegenstand seiner Betrachtung macht, wenn er zunächst sich darüber klar wird, welcher Art sein Gefühl ist, ob es ein Lustgefühl oder ein Unlustgefühl oder ein neutrales Gefühl ist, ob es ein fleischliches oder ein nichtfleischliches Gefühl ist; wenn er darüber nachsinnt, aus welcher Ursache es entstanden ist, wie es zunimmt oder abnimmt, wie es zum Schwinden gebracht werden kann; wenn er es vergleicht mit Gefühlen, die er selbst früher einmal gehabt hat, und mit Gefühlen, die andere Wesen zu haben scheinen; dann rückt er damit das Gefühl von sich ab, das Gefühl hört dann mehr und mehr auf, sein eigenes Gcfühl zu sein, es kann sein Gemüt nicht mehr ausfüllen und beherrschen, sondern er selbst fängt an, das Gefühl zu beherrschen. Es steht ihm dann als etwas Fremdes gegenüber, er macht sich frei von ihm. Ebenso geschieht es bei der Betrachtung der Gedanken.
Auf diese Weise gelangt man zu der Einsicht, daß die eigenen Gefühle und Gedanken in der psychischen Welt die gleiche Stellung einnehmen wie der eigene Körper in der Körperwelt.
Wenn wir hier von der psychischen Welt und von psychischen Dingen reden, befinden wir uns in Übereinstimmung mit einer Anschauung, die in der abendländischen Wissenschaft zum ersten Mal im Jahre 1921 von Wilhelm Haas, damals Privatdozent an der Universität Köln, vertreten, aber wenig beachtet worden ist. Haas hat seine Theorie in seinen Schriften "Die psychische Dingwelt" 1921 und "Kraft und Erscheinung" 1922 (Verlag Friedrich Cohen in Bonn) begründet. Er sagt darin (Psych. Dingw. s. 42):
"So wie wir uns in der physischen Welt bewegen, sofern wir physische Wesen sind, ebenso bewegen wir uns in der psychischen Welt als psychische Wesen, und so wie wir in der physischen Welt bald uns selbst wahrnehmen, bald andere physische Dinge, so in der psychischen Welt bald unser eigenes Psychische, bald fremdes oder andere psychische Dinge. Wir sind im Psychischen, und nicht ist das Psychische in uns."
Über die Qualitäten der psychischen Dinge sagt Haas (1.c.S.51): "Jedes psychische Ding besteht aus Gedanken, Gefühl und Eindruckswert. So wie Farben, Tastqualitäten, Töne usw. die Seiten und Qualitäten des physischen Dinges sind und so wie dieses eben nur in ihnen und mit ihnen da ist, so auch setzen Gedanke, Gefühl und Eindruckswert das psychische Ding zusammen, und aus ihnen und mit ihnen besteht es."
Für Qualität schlägt Haas vor (S. 69), bei den psychischen Dingen zu sagen: Weisen, und er nennt deren drei: Gehalt (Gedankengehalt), Haltung (innere Haltung, Gefühl) und Charakter (Eindruckswert). Der Gehalt wird gedacht, die Haltung gefühlt, der Charakter oder Wert gesehen. Denken (des Gehalts), Fühlen (der Haltung) und Sehen (des Wertcharakters) sind "echte psychische Sinnesorgane" (S. 81).
Wir finden hier zum ersten Mal in der abendländischen Wissenschaft eine Anerkennung des sechsten Sinnesorgans der Inder, des Manas (vgl. oben Seite 40), mit dem die Dhammas, die psychischen Dinge, wahrgenommen werden; nur wird dieses Organ von Haas in drei Unterorgane zerlegt. Ob diese Teilung geboten und haltbar ist, mag dahingestellt bleiben. Richtig und wichtig ist jedenfalls die Erkenntnis, daß wir objektiv vorhandene psychische Dinge mit einem (oder mehreren) psychischen Sinnesorganen wahrnehmen.
Mit indischem Denken stimmt Haas weiter darin überein, daß er sagt, wir lebten in der psychischen Welt mit einem psychischen Leib genau so, wie wir in der physischen Welt mit einem physischen Leib leben. Beide sind fest ineinander gebunden, hauptsächlich durch die inneren Organempfindungen einschließlich der Muskel-, Gelenk- und Spannungsempfindungen. Er nennt hier an erster Stelle "die Empfindungen, die deutlich unterscheidbar, wenn auch meist unbeachtet, konstant uns begleiten, z.B. Atmung, Herzschlag, Beugungs- usw. -empfindungen der gewohnten Bewegungen" (S. 167). Es ist nun, sagt Haas, möglich, den psychischen Leib von dem physischen abzulösen (S. 178). Dann entsteht ein Zustand, bei dem "einzig das mit dem psychischen Leib des Ich nur noch ganz entfernt verbundene allgemeine, nicht individualisierte Psychische eine entfernte Beziehung zu dem quasi automatisch funktionierenden lebendigen Organismus des Leibes aufrecht erhält" (S. 179). Diesen Zustand weist Haas bei christlichen Heiligen nach - die buddhistischen kennt er anscheinend nicht - und sein Zustandekommen erklärt er so (S. 183):
"Wenn eine solche Organempfindung (wie die eben genannten) nicht einfach mit ihrer Bedeutung im Psychischen hingenommen wird, so daß in ihr die Zusammengehörigkeit des psychischen und physischen Leibes erfaßt wird, wenn sie vielmehr wie ein physisches Ding schlechthin betrachtet und beobachtet wird, dann verliert sie schließlich ihre ursprüngliche Funktion, das Zusammengehörigkeitsgefühl zieht sich von ihr zurück, und sie kann etwas ganz Fremdes werden, das ich nicht anders wahrnehme und auf das ich nicht anders reagiere wie auf ein physisches Datum der Außenwelt."
Dies ist genau dasselbe, was wir als den Sinn der dritten Übung des Satipatthāna erkannt haben.
Haas findet eine Bestätigung seiner deduktiv abgeleiteten Theorie in der Yogapraxis. Er verweist besonders auf den Hathayoga und sagt: "Es wird im Yoga zuerst und vor allem Wert darauf gelegt, einen möglichst reibungslosen Ablauf sämtlicher Funktionen des Körper zu erreichen. . . Mit einer ans Wunderbare grenzenden Vollständigkeit werden nun sämtliche irgendwie möglichen Empfindungsreize, der Leibesoberfläche und des Leibesinnern, ins Bewußtsein gezwungen und systematisch konzentrierter Beobachtung ausgesetzt. In den zahlreichen Posituren und Bewegungen entstehen alle möglichen Empfindungen der Gelenke, Muskeln, der inneren Organe, die Aufmerksamkeit folgt ihnen, besonders der im Vordergrunde des Interesses stehenden Regulierung des Atems, und in der immer wiederholten Durchführung der Übungen vollzieht sich dem Yogi von selbst die Ablösung vom Körper, der seine Bedeutung im psychischen verloren hat, die Unmittelbarkeit der Verbindung mit ihm ist aufgehoben, und er wird ihm wie ein Ding unter anderen physischen Dingen, vertraut und fremd wie diese." (S. 185)
Die Ablösung auch des psychischen Leibes vom Ich, die im 2. und 3. Hauptteil des Satipatthāna gelehrt wird, erwähnt Haas auch kurz, als Bestandteil des Yoga, er geht aber nicht näher darauf ein. Noch zwei Feststellungen, die Haas macht, sind hier hervorzuheben: "Wir haben es hier (bei der Ablösung des physischen und des psychischen Leibes vom Ich) nicbt mit anomalen und pathologischen Phänomenen zu tun" (S. 188) und: "In den erwähnten Fällen der Entwertung und Ablösung des Leibes findet auch niemals eine gewaltsame Beendigung des Lebens statt. Der Selbstmord in jeder Form beweist eben, daß die physische Existenz eine Bedeutung besitzt, und zwar die höchste negative; dagegen lebt der Leib, wo er zu wirklicher Wert- und Bedeutungslosigkeit herabgesunken ist, als nicht der Beachtung würdige ,leere Hülle' weiter" (S. 189). Auch diese beiden Feststellungen stimmen mit der buddhistischen Lehre überein.
Der 4. Hauptteil des Satipatthāna ist ganz anderer Art, als die ersten drei; er ist ein kleiner Katechismus der Buddhalehre, verbunden mit einer Anleitung zur Selbstbeobachtung, zur Selbstprüfung und dadurch zum rechten Lebenswandel. So ist im Satipatthāna alles enthalten, was erforderlich ist, um das höchste Ziel, das Nirvana, zu erreichen, und darum sagt Buddha, es sei der von jedem für sich allein zu gehende Weg zur Läuterung der Wesen, zur Überwindung von Sorge und Jammer, zur Vernichtung von Leid und Kummer, zur Erlangung des rechten Wandels, zur Verwirklichung des Nirvana.
Ein textkritischer Versuch
Das Vinaya- und das Sutta-Pitaka, die beiden älteren Teile des Tipitaka oder des Pali-Kanons, enthalten neben sehr alten, aus der Lebenszeit Gotamas und seiner unmittelbaren Jünger stammenden Berichten auch viele Zusätze aus späterer Zeit. Eine wissenschaftliche Untersuchung der Texte mit dem Ziel, diese späteren Zusätze vom echten, alten Stamm der Überlieferung zu scheiden, ist auf buddhistischer Seite noch kaum in Angriff genomnnen worden. Den ersten Anlauf dazu hat die englische Forscherin Caroline Rhys Davids unternommen, aber sie ist, ähnlich wie es bei der Bibelkritik im Anfang geschah, zu radikal vorgegangen und hat von der ganzen Masse der überlieferten Schriften fast nichts als echt bestehen lassen. Es ist jedoch nicht zu bestreiten - und ein Vergleich des Pali-Kanons mit den bisher bekannt gewordenen Stücken des Sanskrit-Kanons, die in allem wesentlichen übereinstimmen, beweist es - daß die Bhikkhus, die unsere Texte Wort für Wort im Gedächtnis bewahrten und durch mündlichen Vortrag von Generation zu Generation weitergaben, im allgemeinen dabei sehr zuverlässig und gewissenhaft verfuhren. Man würde ihnen unrecht tun und zu falschen Ergebnissen gelangen, wenn man nicht grundsätzlich alle jene Berichte als echt gelten lassen wollte, die nicht mit Sicherheit oder mit großer Wahrscheinlichkeit als spätere Zutat zu erkennen sind. [9]
Aber auch innerhalb dessen, was als echt anzuerkennen ist, wird man einen Unterschied machen müssen zwischen dem, was von Buddha selbst stammt, und dem, was seine Jünger hinzugefügt haben. Nicht überall wird eine solche Unterscheidung möglich (und nötig) sein, aber es finden sich doch in den alten Texten Stellen genug, bei denen unschwer zu erkennen ist, daß ihr Ursprung nicht bei Buddha selbst, sondern in den Kreisen seiner Jünger zu suchen ist.
Es ist z.B. sicher, daß Buddha alle übertriebene Askese auf Grund seiner eigenen Erfahrung verworfen hat, weil sie ebensowenig wie die Hingabe an die Genüsse der Sinne zur Befreiung führt (Rede von Benares, Samyutta-Nikaya LVI, 11); andererseits lebten Mahākassapa, Bakkula und andere Jünger als Waldeinsiedler, mit Lumpen bekleidet, und waren Asketen strengster Observanz. Innerhalb des Buddha-Ordens gab es schon in ältester Zeit Bhikkhus, die solche übertriebene Askese für wichtig und wertvoll hielten und auf die anderen, die sie nicht befolgten, mit Geringschätzung herabsahen. [Mit Stolz kann man keine Befreiung erlangen!]. In manchen Texten kommt diese Auffassung deutlich zum Ausdruck. Buddha aber hat - wie andere Texte unzweifelhaft beweisen - diese Wertschätzung der strengen Askese nicht gebilligt; er hat zwar die Askese der Waldeinsiedler nicht verboten oder getadelt, aber er hat erklärt, daß sie für das Fortschreiten auf dem achtfachen Pfad unwesentlich ist.
Ein anderes Beispiel ist die Erkenntniskritik des Mahākaccāna im Majjhima-Nikaya 18 (siehe oben Seite 34 flg.!). Man braucht nicht zu bezweifeln, daß Buddha die Darlegung Kaccānas gebilligt hat, aber es findet sich m. W. keine Stelle, wo Buddha selbst sich zur Frage der Erkenntniskritik ausführlich ausgesprochen hätte. Es scheint, daß er sie als nicht erforderlich für die Erreichung des Nirvana erachtet hat, zumal da sie für philosophisch weniger vorgebildete Bhikkhus schwer verständlich ist. Diese Lehrrede über die Erkenntniskritik gehört also zwar zum ältesten Bestand der Überlieferung, sie ist altbuddhistisch, aber sie ist kein Buddha-Wort im engeren Sinn.
Dieselbe Unterscheidung zwischen echter, alter Überlieferung einerseits und eigentlichem Buddha-Wort andererseits ist auch zu machen bei der Beurteilung derjenigen Jhānas oder Versenkungen, die später "arupajjhānā" oder "abstrakte Versenkungen" genannt wurden. Heiler meint in seiner Schrift "Die buddhistische Versenkung" (S. 45 flg.), sie seien erst später aus der Yoga-Praxis in den Buddhismus eingedrungen, was Seidenstücker in der Abhandlung "Zur Heilslehre des Frühbuddhismus", Schluß-Kapitel, mit dem Hinweis darauf bestreitet, daß das "Gebiet des Nichts" (die 3. Stufe der arūpajjhānā) schon in dem sehr alten Suttanipāta (976, 1070 flg., 1115) erwähnt wird. Die Frage bedarf einer eingehenden Untersuchung.
Gotama erlernte nach seiner eigenen Angabe (Majjhima-Nikaya 26) die ersten drei Stufen der abstrakten Versenkungen bei dem Yoga-Meister Alāra Kālāma. Dieser zeigte ihm, wie man denkend alle sinnlich wahrnehmbaren Dinge und damit die Mannigfaltigkeit, die Vielheit der Gegenstände, aus seinem Geist entfernt, so daß die reine Form der Anschauung, die Raumvorstellung, übrig bleibt. Nachdem der Meditierende eine Weile diese abstrakte Raumvorstellung, die Vorstellung des unendlichen Raums, festgehalten hat, läßt er sie schwinden, und so entsteht in ihm die Vorstellung von der Grenzenlosigkeit seines Bewußtseins oder Wahrnehmungsvermögens. Ist auch diese Vorstellung verblaßt, als Denkgebilde erkannt und überwunden worden, so hat das Denken überhaupt kein Objekt mehr; der Meditierende befindet sich geistig in dem Gebiet, wo überhaupt nichts ist, oder im Gebiet des Nichts (ākincannyāyatana). Gotama fand dieses Ergebnis ungenügend, wandte sich davon ab (nibbijja) und ging fort.
Dann erlernte er bei Uddaka Rāmaputta, einem anderen Yoga-Meister, noch eine weitere Stufe dieser abstrakten Versenkungen; er kam über das Gebiet des Nichts hinweg zu dem Gebiet, wo weder Wahrnehmung noch Wahrnehmungslosigkeit ist, zum Grenzgebiet von Wahrnehmung und Wahrnehmungslosigkeit. Gemeint ist wahrscheinlich ein geistiger Zustand, bei dem zwar noch das Wahrnehmungsvermögen vorhanden ist, aber keine Wahrnehmung mehr stattfindet, weil sie kein Objekt hat. Auch dies genügte Gotama nicht, und er gab diese ganze Methode der abstrakten Versenkungen nun endgültig auf.
Obwohl hiernach unzweifelhaft feststeht, daß Buddha die abstrakten Versenkungen nach gründlichem Studium als unzweckmäßig abgelehnt hat, werden sie doch an vielen Stellen des Sutta-Pitaka, immer mit denselben Worten, beschrieben und an manchen Stellen noch um eine Stufe weitergeführt bis zur Aufhebung von Wahrnehmung und Empfindung (sannyāvedayitanirodha, M 25) oder zur "gegenstandslosen" oder "merkmallosen" Geistessammlung (animittacetosamādhi, M 121) oder zum Aufhören des Bewußtseins (nirodha, D IX, 17), womit wahrscheinlich immer das gleiche gemeint ist, eben Aufhören des Bewußtseins. Wenn diese Stufe in manchen Textstellen, z.B. M 121, dem Nirvana gleichgestellt wird, so entspricht dies sicherlich nicht dem, was Buddha über das Nirvana gelehrt hat.
Von ganz anderer Art sind die Jhānas, die Buddha selbst entdeckt, erprobt und immer wieder seinen Jüngern empfohlen hat. Wie er dazu kam, hat er im Majjhima-Nikaya 36 wiederum selbst berichtet:
Nachdem Gotama die Askese aufs äußerste betrieben und ihre Nutzlosigkeit eingesehen hatte, erinnerte er sich an ein glückliches Jugenderlebnis: Als sein Vater mit Feldarbeit beschäftigt war und Gotama (damals noch Siddhattha genannt) im kühlen Schatten eines Rosenapfelbaums saß, vergaß er alle Wünsche und Sorgen des Alltags und gelangte spontan in die mit Nachdenken und Überlegen verbundene erste Stufe der Versenkung. Jetzt wurde ihm klar, daß dies die bessere, die richtige Art der Versenkung ist, und er übte sie weiter, so daß er nach und nach bis zur vierten Stufe der Versenkung gelangte.
Vergleichen wir diese, von Buddha unzählige Male beschriebenen und gepriesenen vier Stufen der Versenkung mit jenen abstrakten Versenkungen, welche die Yoga-Meister lehrten, so wird der fundamentale Unterschied klar: Die abstrakten Versenkungen, die ich Yoga-Jhānas zu nennen vorschlage, beschäftigen nur die Vernunft, das Denken; sie operieren nur mit abstrakten Begriffen, sie lassen die mit den Sinnen gewonnene Anschauung ganz beiseite, berühren das Fühlen und Wollen des Menschen überhaupt nicht. Dagegen geht die von Gotama entdeckte neue Art der Versenkung von der lebendigen Anschauung aus; hier beginnt die erste Stufe mit einer Meditation über einen konkreten Gegenstand: entweder über den Körper, über die Gefühle, über die Gedanken (als ganz bestimmte, konkrete eigene Erlebnisse) oder mit der Erweckung von selbstloser Liebe, Mitleid, Mitfreude und Gleichmut gegenüber allen Wesen, wobei auch immer die Wesen einzeln oder gruppenweise anschaulich vorgestellt werden, oder über verwesende und zerfallende Leichen oder über einen anderen geeigneten Meditationsgegenstand.
Die Meditation bezieht sich jedenfalls nicht auf abstrakte Begriffe, sondern immer auf konkrete Einzeldinge, wozu auch die eigenen seelischen Erlebnisse, die "psychischen Dinge" zu rechnen sind, und ist stets begleitet von Gefühlsregungen und Strebungen. Während der Meditation müssen alle auf die eigene Person direkt oder indirekt bezüglichen Wünsche und alle Gehässigkeiten, alles Übelwollen gegen andere Wesen vollständig beiseite gelegt, abgetan, vergessen werden. Dies ist der Sinn der immer wiederkehrenden Formel "vivicc'eva kāmehi vivicca akusalehi dhammehi". Bei dieser Meditation stellt sich Freude und Wohlbehagen ein (wovon bei den Yoga-Jhānas nie die Rede ist!).
Allmählich kommt das Meditieren und Nachdenken zur Ruhe, und der Geist richtet sich auf nur einen Gegenstand; die Freude und das Wohlbehagen halten an. Dies ist die zweite Stufe. Dann verblaßt die Freude; der sich Versenkende wird gleichmütig und fühlt sich dabei glücklich. Dies ist die dritte Stufe.
Dann schwindet auch die Erinnerung an frühere erfreuliche und unerfreuliche Erlebnisse, der Gleichmut überwiegt mehr und mehr, und schließlich befindet sich der sich versenkende in vollkommen reinem Gleichmut, bei ganz klarem Geist. Dies ist die vierte Stufe.
Hierbei kann der Geist einen Zustand erreichen, der weit höher liegt als das Wachbewußtsein, und zwar so, daß er von dem Zwange der Anschauungsformen Zeit und Raum befreit ist. In diesem überwachen Zustand sind dem sich Versenkenden alle Dinge, die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen, die nahen und die fernen, in gleicher Weisc gegenwärtig, sofern er von ihnen Kenntnis nehmen will. Von ihm heißt es: er besitzt das dreifache Wissen. Er überblickt seine eigenen früheren Lebensläufe bis in frühere Weltperioden zurück - nur die eigenen; denn die der anderen Wesen will er gar nicht kennen lernen -; er überblickt das künftige Schicksal anderer Menschen - sein eigenes nicht, da er ja weiß, daß das jetzige Leben sein letztes ist - und er kann die Denkweise, die Gefühle, den Charakter anderer Menschen durchschauen. Damit werden ihm auch die vier edlen Wahrheiten ein inneres Erlebnis.
So hat es Buddha nach seinem eigenen Zeugnis in Majjhima-Nikaya 36 selbst erlebt, und so wird es auch von seinen zur Heiligkeit gelangten Jüngern berichtet.
Diese Art der Versenkungen, die ich Buddha-Jhānas nennen möchte, wurde später - niemals in den kanonischen Texten - rūpajjhāna genannt, weil sie dem rūpaloka oder rūpadhātu, der Welt [10] des Gestalthaften oder der Formsphäre, entsprechen. Das bedeutet: der sich Versenrkende hat geistig die Welt des Begehrens nach Genüssen der Sinne, den kāmaloka, überwunden und befindet sich in einem Zustand, in dem er die Dinge, welche Objekte seiner sinnlichen Wahrnehmung sein können, ohne jegliche Zuneigung oder Abneigung betrachtet; er ist in wunschlose Betrachtung versunken. Gegenstand der Betrachtung sind immer konkrete Dinge, wozu außer den räumlich ausgedehnten, sichtbaren und tastbaren Dingen auch Töne, Düfte, Säfte und auch die eigenen seelischen Vorgänge, die "psychischen Dinge", zu rechnen sind.
Dagegen wird in den abstrakten Versenkungen, die von den Yoga-Meistern gelehrt wurden und die ich daher die Yoga-Jhānas nenne, nichts Konkretes betrachtet, sondern das Denken richtet sich hier nur auf Abstraktes, auf abgezogene Begriffe, auf Nichtgestalthaftes, "arūpa". Wer die abstrakten Versenkungen übt, lebt im arūpaloka oder arūpadhātu, in der Welt [11]des Nichtgestalthaften oder in der formfreien Sphäre. (Das "Nichtgestalthafte" ist nicht zu verwechseln mit dem "Nichtgestalteten", asankhata, einem Attribut des Nirvana!)
Buddha hat also, wie zuverlässig berichtet wird, die Yoga-Jhānas, die er bei Alāra Kālāma und Uddaka Rāmaputta erlernt hatte, als ungenügend verworfen, dann die Buddha-Jhānas entdeckt, erlebt und immer wieder empfohlen. Kann man hiernach glauben, was im Majjhima-Nikaya 121 berichtet wird? Dort heißt es, Ānanda habe Buddha einst gefragt, ob es richtig sei, daß er, Buddha, früher einmal gesagt habe, er verweile gern in der "Leerheit", sunnyatā. Buddha habe diese Frage bejaht und dann eine Anleitung gegeben, wie man die Yoga-Jhānas üben könne, dieselben Yoga-Jhānas, die er nach dem unverdächtigen Zeugnis von M 26 als ungenügend und unbefriedigend verworfen hat! Mir scheint das ein Widerspruch zu sein, der sich nur dadurch lösen läßt, daß man M 121 für unecht erklärt.
Der Verfasser dieses Sutta scheint selbst das Gefühl gehabt zu haben, daß die Sache mindestens zweifelhaft ist; denn er läßt Ānanda fragen, ob er richtig gehört habe und das Gehörte richtig behalten habe. Wahrscheinlich hat Ānanda nie so gefragt, und Buddha hat nie so geantwortet, sondern das Sutta M 121 ist eine spätere Einschaltung.
Das unmittelbar folgende Sutta M 122 scheint, wenn man es mit M 121 zusammen betrachtet, eine Erwiderung einer anderen Gruppe von Buddha-Jüngern zu sein, eine Berichtigung von M 121, denn hier wird unter demselben Stichwort "Leerheit", sunnyatā, erklärt, daß die Leerheit durch die vier Stufen der Buddha-Jhānas, nicht durch die Yoga-Jhānas, erlebt werden kann. Die Yoga-Jhānas werden hier überhaupt nicht erwähnt.
Auch diese Gegenüberstellung verstärkt den Verdacht, daß M 121 nicht zum ursprünglichen Bestand der Überlieferung gehört. 'Totzdem ist aber M 121 für das Verständnis der Yoga-Jhānas wichtig; denn es lehrt, wie diese ohne den Umweg über die Buddha-Jhānas unmittelbar vom gewöhnlichen Denken aus zugänglich sind.
Die Darstellung der Yoga-Jhānas in M 121 ist jedenfalls sachgemäßer und richtiger als die Anfügung der Yoga-Jhānas an die vierte Stufe der Buddha-Jhānas, wie wir sie an mehreren Stellen des Digha-, des Majjhima- und des Anguttara-Nikaya finden. Das Normale ist nämlich, daß mit der vierten Stufe der Buddha-Jhānas das "dreifache Wissen" erreicht wird und daß damit die Versenkung abschließt. Die Anfügung der Yoga-Jhānas an die vierte Stufe der Buddha-Jhānas ist, wie auch Seidenstücker a.a.O. sagt, die Ausnahme, und diese Ausnahmen müssen spätere Zusätze sein.
Es ist m. E. nicht zu bezweifeln, daß die Redaktoren des Tipitaka, die für die jetzt bestehende Fassung verantwortlich sind, niemals die vier Stufen der Buddha-Jhānas erlangt haben und daß sie sich die Buddha-Jhānas nicht einmal psychologisch erklären konnten; denn andernfalls hätten sie nicht die Yoga-Jhānas an die Buddha-Jhānas anhängen können, da beide ganz verschiedene Geistesverfassungen voraussetzen. In den Buddha-Jhānas wird das Bewußtsein gesteigert bis zu einem überwachen Zustande; in den Yoga-Jhānas wird es immer mehr abgeschwächt, bis es schließlich ganz dahinschwindet.
Ganz unglaubwürdig ist auch die Stelle in D XVI, 6, 8-9, wo gesagt wird, vor dem Parinirvana habe Buddha sich zunächst in die Buddha-Jhānas, dann in die Yoga-Jhānas bis zur fünften Stufe, Aufhebung von Wahrnehmung und Empfindung, versenkt, dann habe er die Yoga-Jhānas und die Buddha-Jhānas rückwärts durchlaufen bis zur ersten Stufe, von dieser sei er wieder bis zur vierten Stufe der Buddha-Jhānas aufgestiegen und von hier aus in das Parinirvana eingegangen.
In diese Darstellung eingeschoben ist eine kurze Wechselrede zwischen Ānanda und Anuruddha. Ānanda soll, als Buddha bei der Aufhebung von Wahrnehmung und Empfindung angelangt war, gemeint haben, nun sei er vollkommen erloschen; Anuruddha aber soll ihm erwidert haben, Buddha sei nur zur Aufhebung von Wahrnehmung und Empfindung gelangt. Diese Wechselrede ist, worauf schon Otto Franke in seiner Digha-Nikaya-Übersetzung aufmerksam gemacht hat, wahrscheinlich erfunden worden, um ein erstes Beispiel zu geben für die angeblich von Buddha kurz vor seinem Hinscheiden angeordnete neue Anredeform der Bhikkhus. Ānanda redet hier nämlich zum ersten Mal Anuruddha mit "bhante" an und dieser erwidert mit "āvuso". Man sieht hier deutlich, wie eine solche spätere Einschaltung die andere nach sich zieht. Wer den Sinn und die Bedeutung der verschiedenen Jhānas verstanden hat, kann unmöglich annehmen, daß der Bericht von D XVI, 6 zutrifft.
Die Yoga-Jhānas werden nun aber im Sutta-Pitaka so häufig aufgezählt und beschrieben, daß man annehmen muß, sie seien schon in sehr alter Zeit, wahrscheinlich schon zu Lebzeiten Gotamas, von vielen Bhikkhus geübt worden. Das ist ebenso zu erklären wie die Askese der Waldeinsiedler unter den Buddha-Jüngern. Wir wissen, daß viele von ihnen, darunter Sāriputta, Moggallāna, Vacchagotta, Subhadda und andere, bevor sie in den Buddha-Orden aufgenommen wurden, anderen Philosophenschulen angehört hatten. Dort werden sie beim Yoga-Studium auch die Yoga-Jhānas erlernt haben, die sie dann als Buddha-Jünger beibehielten, wie andere ehemalige Yogins ihre grobe Askese beibehielten. Der Buddha wird das eine wie das andere geduldet, aber sicherlich nicht empfohlen haben.
Ebenso verhält es sich mit den Kasina-Übungen, den Vimokhas und den Abhibhāyatanas. Ich kenne keine Stelle, in der gesagt wird, Buddha habe sich mit solchen Übungen abgegeben. Nirgends werden sie als Bestandteile des achtfachen Pfades bezeichnet. Sie sind es sicherlich nicht, sondern nur zugelassene, aber nicht von Buddha gelehrte Meditationsmethoden. Sie sind, wie die Yoga-Jhānas, alt, älter wahrscheinlich als der Buddhismus, aber nicht eigentlich buddhistisch.
Bemerkungen zu einem Buch von Mrs. Rhys Davids
Frau Dr. Rhys Davids, dic Präsidentin der Pali Text Society, Indologin von internationalem Ruf, unterzog in ihrem Buch "The Birth of Indian Psychology and its Development in Buddhism" (London 1936) den Pali-Kanon, die buddhistische Bibel, nach dem Vorbild der Bibelkritik einer historisch-kritischen Untersuchung und stellte sich damit eine Aufgabe, die von der Wissenschaft bisher noch kaum in Angriff genommen worden ist. (Siehe jedoch "Buddha-Jhāna und Yoga-Jhāna", "Buddha und die Frauen" und "Geschichte und Legende" im Mahāparinibbānasutta in diesem Buch!) Sie prüft zunächst, wie in den Veden und den älteren Upanischaden versucht worden ist, das Ich-Problem, das Problem des ātman, des "Selbst", zu lösen. Hier findet sie Ansätze zu einer Psychologie, die allerdings mit metaphysischen Spekulationen vermengt sind. Der ātman, das Selbst, die Seele, wird als immanent (diesseitig) gedacht und zu einem transzendenten (jenseitigen) Welt-ātman in Beziehung gesetzt. Diesen immanenten ātman vermißt Frau Rhys Davids im buddhistischen Pali-Kanon, dem der Hauptteil ihres Buches gewidmet ist; sie meint hier eine Leugnung des Ich oder Selbst zu finden, und sagt, dies könne unmöglich der ursprüngliche Sinn der Buddhalehre gewesen sein; folglich sei die Überlieferung fehlerhaft, und sie versucht nun, hinter dem überlieferten Text die vermeintliche alte, ursprüngliche Fassung zu entdecken, in der noch der "immanente ātman" der Upanischaden vorkommen müsse.
Diese Annahme und der Rekonstruktionsversuch beruhen jedoch auf einem Mißverständnis, für das die mittelalterlichen, viele Jahrhunderte nach Buddha entstandenen Kommentare zum Pali-Kanon verantwortlich zu machen sind. Offenbar unter dem Einfluß dieser Kommentare, die allerdings das Negative, das Nichtvorhandensein eines unvergänglichen Ich in der Persönlichkeit des Menschen, stark betonen, hat die Verfasserin übersehen, daß dies nur die eine Seite der Sache ist und daß im Pali-Kanon auch die andere Seite durchaus zu ihrem Recht kommt. Allerdings nicht in der Weise, wie sie meint, daß Buddha den "immanenten ātman" der älteren Upanischaden übernommen hätte. Wenn er das getan hätte, dann wäre der überwältigende Eindruck nicht zu erklären, den seine neue Lehre gerade auf die in der Upanischadenlehre bewanderten Brahmanen seiner Zeit gemacht hat.
Seine Lehre muß grundsätzlich anders gewesen sein als die der Veden, der Upanischaden und des Sankhya. In der Tat bezeugen die Suttas des Pali-Kanons, daß Buddha etwas ganz Neues lehrte. Er hat als erster das Ich-Problem als ein transzendental-philosophisches erkannt und gelöst, und zwar genau so, wie in unserer Zeit Kant, der nichts von Buddha wußte. (Vgl. "Die Leerheit der Welt" und "Buddhistisches bei Kant" in diesem Buch!) Wie Kant in der "Kritik der reinen Vernunft" auf Seite 404 der Originalausgabe sagt: Das Ich ist "eine an Inhalt gänzlich leere Vorstellung, von der man nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei. . . Durch dieses Ich wird nichts weiter als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, . . . wovon wir niemals den mindesten Begriff haben können", - so lehrt Buddha, daß ein Ich, ein attā oder ātman, in der Persönlichkeit nicht zu finden ist, die ihrerseits durch die fünf Gruppen des Ergreifens zustande kommt. Die Verfasserin irrt, wenn sie meint (S. 186), der Mensch, das Ich, das Selbst, sei im Pali-Kanon nach und nach nichts weiter geworden als ein Komplex jener fünf Gruppen; vielmehr sagt Buddha nach den Berichten des Pali-Kanons jedesmal, wenn von den Gruppen die Rede ist, ausdrücklich: "Das ist nicht zu mir gehörig, ich bin das nicht, das ist nicht das Wesentliche (attā = ātman) an mir."
Ist das nicht genau das Gegenteil einer Leugnung des Ich? Wird darin nicht vielmehr das Ich vorausgesetzt, allerdings nicht als immanent, wie in den Upanischaden, sondern als transzendent?
An anderen Stellen wird die Transzendenz gleichnishaft, aber doch ganz unzweideutig betont, wenn Buddha vom Ich sagt, es sei "tief, unergründlich wie das große Meer".
Dies ist gerade das wesentlich Neue gegenüber der ganzen älteren indischen Philosophie und geradezu der Kern der Buddhalehre. Mit Psychologie hat das allerdings nichts zu tun, und da Frau Rhys Davids hier Psychologie suchte, so konnte sie nichts finden. Aus demselben Grunde mußte sie auch fehlgehen in der Beurteilung des Begriffs des Arahā, des buddhistischen Heiligen (S. 350 ff.), an dem sie beanstandet, daß ein lebender, also notwendig unvollkommener Mensch als ein idealer Vollendeter hingestellt werde.
Genau das Gegenteil ist die Lehre Buddhas! So heißt es beispielsweise im 22. Sutta des Majjhima-Nikaya: "Einen Bhikkhu, dessen Geist erlöst ist (d.h. einen Arahā), können selbst die Götter nicht auffinden; denn ein Vollendeter ist in der Erscheinungswelt (ditthe dhamme) nicht aufzufinden." Ein Arahā ist also nicht der empirische Mensch, sondern das transzendente Ich des Erlösten. Es ist erstaunlich, daß die gelehrte Verfasserin bei ihrer großen Kenntnis des Pali-Kanons dies übersehen konnte, erstaunlich, aber erklärlich, weil sie ihn nur als Philologin und als Psychologin las, aber mit erkenntniskritischem Denken offenbar nicht vertraut war. Um so wertvoller sind diejenigen Teile ihres Buchs, in denen es sich wirklich um Psychologie handelt, besonders ihre sehr aufschlußreichen Deutungen der schwierigen Begriffe Jhāna, Iddhi und Abhinnyā, die gewöhnlich mit "Versenkungen", "magische Kräfte" und "höheres Wissen" übersetzt werden.
Im ganzen ist zu sagen, daß das Buch ein wichtiger Beitrag zur abendländischen Literatur über den Buddhismus ist, in seinem Hauptteil aber mit großen Vorbehalten gelesen werden muß. Der Versuch einer historischen Kritik des Pali-Kanons geht teilweise von irrigen Voraussetzungen aus und schießt deshalb über das Ziel hinaus.
Wenige wissen, wie viel man wissen muß,
um zu wissen, wie wenig man weiß.
Buddha sprach: "Körperlichkeit, Empfindung, Wahrnehmung, Geistesregungen und Bewußtsein sollte man, der Wirklichkeit gemäß, in rechter Weisheit also betrachten: dies ist nicht mein, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein Ich."
Auf die Fragen Vacchagottas: "Gibt es ein Ich? Gibt es kein Ich?" verweigerte Buddha die Antwort und erklärte nachher Ānanda: "Hätte ich die erste Frage bejaht, wäre das wohl ein Mittel gewesen, um den Fragenden davon zu überzeugen, daß alle Daseinsfaktoren nicht unser Ich sind? Und hätte ich die zweite Frage bejaht, so würde dies dem verworrenen Vacchagotta nur noch mehr Verwirrung eingetragen haben." (S 44, 10).
Buddha hat also ausdrücklich abgelehnt zu sagen, daß es ein Ich nicht gebe, hat aber immer vermieden, über das Ich zu reden.
Warum hat er das vermieden? In meinem Buch "Buddhas Lehre" habe ich gesagt, er habe offenbar deshalb vermieden, vom Ich zu reden, "weil vom Ich schlechterdings nichts ausgesagt werden kann und weil, wenn vom Ich geredet wird, die Gefahr besteht, daß der Hörende sich unter dem Wore Ich etwas denken will. ,Ich' ist aber ein völlig leerer Begriff, bei dem sich nichts denken läßt. Wer das erkannt hat, wird überhaupt nicht versuchen, bei dem Wort Ich etwas zu denken. Für das Denken ist Ich soviel wie nichts. Man kann statt dessen auch sagen: Das Ich ist transzendent, d.h. es ist jenseits der Möglichkeit des Erkennens; womit aber keineswegs gesagt ist, daß es nicht existiere."
Als ich dies schrieb, war ich mir bewußt, mich streng an die von den Theravadins im Pali-Kanon überlieferte Lehre Buddhas gehalten zu haben, ohne etwas hinzuzufügen und, nach dem Vorbild Subhūtis, des Streitlosen, ohne die Vertreter einer anderen Auffassung zu tadeln. Durch diese Zurückhaltung wollte ich mich gerade von Grimm und Seidenstücker unterscheiden, die mit anders denkenden Buddhisten darüber gestritten haben. [12]
Trotzdem schrieb mir ein angesehener Buddhist über mein Buch: "Ich lese mit Freude immer wiederum darin, weil es sehr anschaulich und klar geschrieben ist und oft mit wenigen Worten sonst schwer Verständliches überzeugend darlegt. Schade ist nur, daß Sie immer noch an der geradezu unbuddhistischen Grimm - Seidenstückerschen Interpretation des Anattā-Gedankens festhalten und damit den Lesern Ihres Werks ein widerspruchsvolles Bild eines der wichtigsten Lehrsätze des Pali-Kanons vermitteln."
Und ein gelehrter Kritiker schrieb in einer Besprechung: ,Schmidts Interpretation dieser Lehre, welche das Ich in einen Strom von in funktioneller Abhängigkeit voneinander entstehenden Dharmas (Daseinsfaktoren) auflöst, entspricht jedoch, wie er selbst betont (Seite 160), nicht derjenigen, welche alle maßgebenden Schulen des kleinen wie des großen Fahrzeugs übereinstimmend vertreten. Nach Schmidt soll der Buddha selbst verkündet haben, daß das Ich eine transzendente Größe sei, und die späteren Dogmatiker sollen dies mißverstanden haben. Für dieses von Georg Grimm und anderen behauptete Abgehen der gesamten buddhistischen Tradition von einer angeblichen buddhistischen Urlehre läßt sich aber kein Beweis erbringen."
Dieser Einwand bezieht sich auf folgende Stelle meines Buches:
"Der Buddha hatte gelehrt ,Was unbeständig ist, das ist unbefriedigend; was unbefriedigend ist, das hat man der Wirklichkeit gemäß so anzusehen: das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Ich.' Damit ist gesagt, daß die ganze Individualität, die in den fünf Gruppen besteht, ein Komplex von uns wesensfremden Beilegungen ist, von denen wir uns gänzlich loslösen können und sollen, weil wir in unserm tiefsten Wesen jenseits der Welt, transzendent, sind. Unser Ich ist in der Welt nicht zu finden, es ist unerkennbar, unergründlich wie das große Weltmeer. Demgegenüber legen viele Mönche in Südasien heute die Lehre so aus: ,In den fünf Gruppen, in denen die Persönlichkeit des Menschen besteht, ist keine unzerstörbare Wesensheit, kein Ich, zu finden. Was wir fälschlich für unser Ich halten, ist nichts als das Karma, das Wirken, das von Augenblick zu Augenblick wechselt. Ein Ich gibt es in Wirklichkeit nicht, es ist nur eine Täuschung, die bei der Erreichung des Nirvana verschwindet'."
Sind die Mönche, welche die Lehre so auslegen, "maßgebend"? Maßgebend für die Auslegung der Buddha-Lehre ist m. E. nicht, was manche Mönche sagen, sondern was, der Überlieferung zufolge, die auch diese Mönche anerkennen, Buddha selbst gesagt hat. Und Buddha sprach: "Anattā bedeutet: ,Dies ist nicht mein, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein Ich.' So muß man das der Wirklichkeit gemäß in rechter Weisheit betrachten." (S IV,1??).
Wie ist das zu erklären, daß diese beiden verschiedenen Auffassungen bei Kennern der Buddha-Worte nebeneinander bestehen?
Der Grund scheint mir darin zu liegen, daß die einen das menschliche Erkenntnisvermögen für begrenzt, die anderen es aber für unbegrenzt halten.
Wer überzeugt ist, daß unser Wissen eine unübersteigbare Grenze hat, der kann nicht behaupten, daß jenseits dieser Grenze nichts sei. Er weiß, daß wir nicht wissen und niemals wissen können, was jenseits der Grenze ist; aber gerade darum kann er auch nicht sagen, daß jenseits der Grenze nichts sei. Denn wenn er wüßte, daß jenseits der Grenze nichts ist, dann gäbe es ja nichts Unerkennbares; dann wäre das menschliche Wissen nicht begrenzt. Mit anderen Worten: Wer sich der Begrenztheit unseres Wissens bewußt ist; wer weiß, wie wenig wir wissen, der muß für möglich halten, daß es etwas gibt, was wir niemals wissen können; der kann also nicht zugeben, daß es nichts Unerkennbares, nichts Undenkbares, gebe.
Die anderen aber, die meinen, es gebe nichts Unerkennbares, nichts Transzendentes, die bekennen sich damit - bewußt oder unbewußt - zu der Auffassung, daß das menschliche Wissen prinzipiell unbegrenzt sei.
Soweit sie nun die Buddha-Lehre anerkennen, stimmen beide Gruppen darin überein, daß innerhalb des Erkennbaren, insbesondere innerhalb der menschlichen Individualität, nichts immerwährend Beharrendes, keine unsterbliche Seele oder kein Ich zu finden ist. Diese Übereinstimmung genügt vollkommen für den Regelfall, daß der Strom der Daseinsfaktoren, der Strom des Lebens, weitergeht. Innerhalb des Sansāra, der Welt der Wiedergeburten, gibt es keine Seele oder kein Ich, das wiedergeboren wird, sondern nur einen Strom von immer wechselnden Daseinsfaktoren, der uns ein Ich vortäuscht. Diese Selbsttäuschung muß überwunden werden, damit der Mensch sich immer mehr der Selbstlosigkeit und damit der Heiligkeit und dem Nirvana nähert. Soweit gibt es keine Meinungsverschiedenheit unter den Buddhisten.
Der Unterschied wird erst aktuell, wenn das letzte Ziel, das Nirvana, erreicht werden soll. Die Täuschung, daß die Persönlichkeit das Ich sei, ist dann vollständig verschwunden, Begierde und Haß, auch in ihren feinsten Regungen, haben gänzlich aufgehört. Was ist dann das Nirvana?
Die einen sagen: nichts, ein Negativum, ein Ausfallswert. Manche gelehrte Bhikkhus in Ceylon sagen: nothing, andere gelehrte Bhikkhus auf Ceylon sagen: bliss unspeakable, unaussprechliche Glückseligkeit, das höchste Glück. (H. v. Glasenapp, "Die Weisheit des Buddha, Seite 120.)
Diejenigen, die das Nirvana für ein Nichts, für einen Ausfallswert halten, glauben, daß das menschliche Wissen unbegrenzt sei, daß es nichts jenseits der Erkenntnisgrenze gebe. Darum sagen sie: Das Nirvana ist nichts. Die anderen, die es für den Zustand unaussprechlicher Glückseligkeit erklären, sind diejenigen, die sich der Begrenztheit unseres Wissens bewußt und daher überzeugt sind, daß es jenseits der menschlichen Erkenntnisgrenze etwas geben kann. Für sie ist das Nirvana etwas Wirkliches, etwas Positives.
Der Unterschied der beiden Auffassungen hat sogar den überlieferten Text des Pali-Kanons beeinflußt und läßt sich darin nachweisen:
Die oft vorkommenden Worte, mit denen beschrieben wird, wie ein Bhikkhu die Befreiung und damit das Nirvana erreicht, werden in einigen Handschriften so wiedergegeben "vimuttasmim vimuttam iti nyānam hoti", in anderen Handschriften aber so: "vimuttasmim vimutt'amhī ti nyānam hoti". Gesprochen klingen beide Lesearten fast gleich, aber in der Schrift sieht man einen wichtigen Unterschied. Die erstere Lesart bedeutet: "In dem Befreiten ist ein Befreites, dieses Wissen entsteht." Die andere: "In dem Befreiten entsteht das Wissen: ich bin befreit."
Nach den Sprachgesetzen des Pali ist die erste Lesart falsch; anstatt "vimuttam iti" müßte es heißen: "vimuttan ti". Die andere Lesart ist sprachlich korrekt.
Kann man glauben, daß Buddha oder, vorsichtiger ausgedrückt, der Verfasser oder die Verfasser des Suttapitaka den grammatischen Fehler gemacht haben, zu sagen: "vimuttam iti"? Einer, der das Pali als lebendige Umgangssprache sprach, kann nur gesagt haben: "vimutt'amhī ti." Erst als das Pali eine tote Sprache geworden war, mehrere Jahrhunderte nach Buddha, etwa um 500 n. Chr., konnte es vorkommen, daß ein Abschreiber, dem das alte Pali nicht mehr geläufig war, fehlerhaft schrieb: "vimuttam iti", und zwar deshalb, weil ihm das "ich" in "amhi" (= "ich bin") anstößig war, da es nicht mehr zu seiner Anattā-Auffassung paßte. Die Sprache selbst ist hier ein Zeuge dafür, daß die Auffassung: "Es gibt kein Ich" erst mehrere Jahrhunderte nach Buddha entstanden sein kann.
"Vimutt'amhi - bin befreit" - so darf mit vollem Recht der befreite Heilige sagen; denn bei ihm ist es ausgeschlossen, daß er die fünf Gruppen der Daseinsfaktoren für sein Ich hielte; für ihn gilt, was Sāriputta dem Yamaka erklärte (S XXII, 85): "Schon in dieser sichtbaren Erscheinung ist der Heilige wahrheitsgemäß und sicher nicht aufzufinden."
Wenn Buddha feierlich sagt: "Es gibt - atthi, nicht bhavati! - ein Nichtgeborenes, Nichtgewordenes, Nichtgeschaffenes, Nichtaufgebautes. Gäbe es dies nicht, so könnte auch nicht ein Ausweg aus dem Geborenen, Gewordenen, Geschaffenen, Aufgebauten erkannt werden", - spricht er damit nicht aus, daß es jenseits des Erkennbaren noch etwas gibt und daß die ganze Erlösungslehre keinen Sinn hätte, wenn es das nicht gäbe?
Wie die Erfahrung lehrt, stehen aber viele, Bhikkhus und Laien, auf dem Standpunkt, daß sie meinen, es gebe nichts jenseits der Erkenntnisgrenze, d.h. das menschliche Wissen sei prinzipiell unbegrenzt, grenzenlos. Mit der Tatsache, daß diese Auffassung besteht, müssen wir uns abfinden. Wer dieser Ansicht ist, der ist nicht zu überzeugen, daß das Ich transzendent und das Nirvana Glückseligkeit ist. Aber ebensowenig kann der, welcher weiß, wie wenig wir wissen, überzeugt werden, daß es für den Menschengeist nichts Unerkennbares gebe, daß der erlöste Heilige einfach vor dem Nichts, vor einem Ausfallswert, stehe und daB Buddha solches gelehrt habe. Diese beiden Auffassungen sind unüberbrückbar; ein Streiten zwischen beiden Lagern ist töricht und sinnlos. Jeder mag seine Auffassung vom Anattā behalten. Einig können und sollen sie sein in der Befolgung des Buddha-Weges. Zuletzt, am Ziel angelangt, wird jeder an sich selbst erfahren, wie es Buddha gemeint hat.
Als der Erhabene einst in Savatthi eine Ansprache an die Bhikkhus gehalten hatte, fragte einer der Bhikkhus namens Moliya Phagguna:
"Wer ist es, der berührt?" Darauf erwiderte der Erhabene:
"Die Frage ist nicht richtig. Ich sage nicht: ,Er berührt.' Wenn ich so spräche, wäre die Frage richtig. Da ich aber nicht so spreche, müßte man richtig fragen: ,Aus welcher Ursache geht Berührung hervor?' oder: ,Wodurch entsteht Berührung?' und darauf wäre richtig zu antworten: ,Aus den sechs Zugängen (oder Sinnesbereichen) geht Berührung hervor,' oder: ,Wenn Zugänge (Sinnesbereiche) vorhanden sind, kann Berührung entstehen, und wenn Berührung vorhanden ist, kann Empfindung entstehen!'
Der Bhikkhu fragte weiter: "Wer ist es, der empfindet?" und wieder erklärte der Erhabene: "Die Frage ist nicht richtig. Ich sage nicht: ,Er empfindet.'" Dann fragte der Bhikkhu: "Wer dürstet?" und immer erwiderte Buddha: "Die Frage ist nicht richtig. Da ich nicht so spreche, müßte man richtig fragen: ,Wodurch entsteht Empfindung, Durst, Ergreifen usw.'" (S 12.12).
Wie sollen wir das verstehen? Muß nicht, wenn herührt, empfunden, gedürstet, ergriffen wird, immer ein Subjekt da sein, das berührt, empfindet, dürstet, ergreift? Das scheint uns eine Denknotwendigkeit zu sein. Und nicht nur uns scheint es so, sondern auch, wie aus dieser und anderen Stellen des Pali-Kanons hervorgeht, den Indern zu Lebzeiten Gotamas schien es eine Denknotwendigkeit zu sein, daß, wo etwas getan wird, ein Täter da sein müsse.
Buddha aber lehrt: In Wirklichkeit gibt es nur ein Tun und keinen Täter, Und wenn wir die Wirklichkeit genau betrachten, können wir uns davon überzeugen, daß es tatsächlich so ist.
Als ein besonders wirksames Mittel zur Erkenntnis der Wirklichkeit hat Buddha immer wieder die Betrachtung über den Körper empfohlen. Wenn man diese Betrachtung richtig durchführt, betrachtet man nicht nur den Körper, wie er augenblicklich ist, sondern - und dies ist das wichtigste - "wie Körper gesetzmäßig entstehen und vergehen". Erinnern wir uns, wie unser Körper war: unmittelbar nach der Zeugung, dann bei der Geburt, dann nach 7 Jahren, dann nach 14, 21 Jahren und so fort bis zum heutigen Tag! Und stellen wir uns deutlich vor, wie er künftig sein wird: in hohem Alter, beim Sterben und nach dem Tode! Wie hat sich der Körper fortwährend verändert und wie wird er sich weiter verändern! Er verändert sich aber nicht in Sprüngen, sondern ganz allmählich; er ist anders beim Erwachen als beim Einschlafen, anders vor der Arbeit als nach der Arbeit, anders vor der Mahlzeit als nach der Mahlzeit; ja, er verändert sich von Augenblick zu Augenblick, mit jedem Atemzug, mit jedem Herzschlag. Nicht in zwei aufeinanderfolgenden Augenblicken ist er völlig der gleiche. Weil aber die Veränderung allmählich vor sich geht, bemerken wir sie gewöhnlich nicht und verbinden unwillkürlich die einzelnen Momente miteinander zu einer Einheit, die in Wirklichkeit nicht existiert. So entsteht der trügerische Schein, daß der Körper etwas Bleibendes, Verharrendes, ein "Ding" sei, gleichwie wir im Kino glauben, die Bilder bewegten sich, während wir doch wissen, daß es nur sehr viele, in rascher Folge wechselnde, aber in jedem Augenblick andere Bilder sind, die uns vorgeführt werden.
Wenn wir glauben, dieser Körper täte etwas, so ist das offenbar eine Täuschung; denn ein Körper, der etwas tun könnte, ist überhaupt nicht vorhanden. Was wir in Wirklichkeit beobachten, ist nur ein ständiges Sichverändern, ein Tun.
Genau das gleiche gilt für die geistig-seelische Komponente der Persönlichkeit, das Fühlen, Denken und Wollen. Betrachten wir, "wie Gefühle und Gedanken gesetzmäßig entstehen und vergehen", so zeigt sich, daß auch hier kein Subjekt zu finden ist, das fühlt und denkt und will, sondern nur ein ständiges Kommen und Gehen, ein Fließen von Gefühlen, Gedanken und Willensregungen.
Hat man sich auf solche Weise überzeugt, daß tatsächlich ein Subjekt nicht vorhanden ist, so drängt sich die Frage auf: Woher kommt es, daß wir jedes Tun mit einem Täter verbinden und glauben, es könne nicht anders sein? Warum denken wir immer in der Form: Subjekt, Prädikat, Objekt? Zum Beispiel: Der Schmied schlägt das Eisen. Offenbar, weil wir es von Jugend auf so gewöhnt sind. Sobald ein Kind sprechen lernt, bildet es Sätze in der Form: Subjekt, Prädikat, Objekt. Es muß so sprechen, weil unsere Sprache seit unvordenklichen Zeiten diese Form der Satzbildung vorschreibt. Und diese Form hat sich gebildet, weil unsere Vorfahren in grauer Vorzeit sie als bequemes Verfahren erfanden, ihre Wahrnehmungen in geordneter Form sprachlich auszudrücken. Weil sich diese Form von Geschlecht zu Geschlecht vererbte, glauben wir heute, es gebe keine andere Form des Denkens und diese Art des Denkens entspreche der Wirklichkeit.
Sprachvergleichung aber lehrt uns, daß diese Denkform Subjekt-Prädikat-Objekt eine Eigentümlichkeit der indo-europäischen Sprachenfamilie ist, zu der das Deutsche ebenso gehört wie das Pali und das Sanskrit. Andere Sprachen jedoch haben andere Denkformen ausgebildet, die der Wirklichkeit besser entsprechen als die unsrige, z.B. das Tibetische.
Der Tibeter sagt und denkt nicht: Der Schmied schlägt das Eisen, sondern er sagt und denkt: "Das Eisen schlagen durch den Schmied, oder, umständlicher übersetzt: Es findet statt "das Eisen schlagen" durch den Schmied. Hier ist der Schmied nicht das Subjekt, sondern gewissermaßen das Werkzeug, das Instrument, mit dem geschlagen wird. Tatsächlich ist nur ein Schlagen da, eine Tätigkeit, ein Tun, aber kein Täter.
Von der unpersönlichen Redeweise, die im Tibetischen allein möglich ist, finden sich übrigens auch in anderen Sprachen noch Reste, z.B. im Deutschen: es freut mich, es schmerzt mich, es ärgert mich, es jammert mich; im Lateinischen: piget, paenitet, taedet, miseret me; im Französischen: il faut; im Englischen: it suits; im Russischen: mniä nushen. Vielleicht sind das Spuren einer älteren Denkweise, die sich im Tibetischen erhalten hat.
Buddha hat jedoch keineswegs immer "unpersönlich" gesprochem. Ein anderes Mal - es war auch in Savatthi - sagte er:
"Die Last will ich euch zeigen und den Lastträger, das Aufnehmen und das Ablegen der Last. Die Last sind die fünf Gruppen des Ergreifens, nämlich Körperlichkeit, Empfindung, Wahrnehmung, unbewußte Tätigkeiten und Bewußtsein; der Lastträger ist die Person (puggala) so und so mit Vor- und Familiennamen; das Aufnehmen der Last ist der Daseinsdrang, der zur Wiedergeburt führt; das Ablegen der Last ist die vollständige Aufhebung und Vernichtung dieses Daseinsdranges." (S 22.22).
Hermann Oldenberg knüpft an dieses Textstück die Bemerkung, hier trete ausnahmsweise eine andere Auffassung hervor, daß es außer der Last auch ein Subjekt, einen Lastträger, gebe. Tatsächlich, ist dies aber keine Ausnahme, sondern die Regel; denn Buddha hat sehr oft, ja gewöhnlich, in der uns und den arischen Indern geläufigen Redeweise Subjekt-Prädikat-Objekt geredet und auch das Wort puggala = Person oder Individuum in diesem Sinne gebraucht; dieses z.B. in Majjhima-Nikaya 12 für den Menschen, der nach dem Tode in einer der 5 gatis oder Lebensumstände wieder erscheint, als höllisches Wesen, als Tier, als Gespenst, als Mensch, als Himmelswesen; in Anguttara-Nikaya I, 19 und Samyutta-Nikaya 55.1, für den Vollendeten; in Itivuttaka 84 für den Vollendeten, den Heiligen und den zum Nirvana Strebenden. Im gewöhnlichen Umgang sagte Buddha wie wir: "Ich bin müde" oder "Ich habe Durst". (D 16, 4), Buddha verschmähte also durchaus nicht, sich der üblichen Redeweise zu bedienen, außer wenn er die Lehre über die wirklichen Zusammenhänge, über die Kette der Abhängigkeitsverhältnisse, darlegte. Und so mögen auch wir weiterhin sagen: "Ich bin müde" oder "Ich, habe Durst" oder "Der Lastträger nimmt die Last auf und legt sie ab", aber wir sollten, von Buddha belehrt, uns stets darüber klar sein, daß wir "konventionell" und ungenau reden und daß in Wirklichkeit ein Subjekt, ein Täter, nicht zu finden ist.
Um einem Mißverständnis vorzubeugen, muß noch hinzugefügt werden: Diese Erkenntnis "Ein Tun und kein Täter" hat nichts mit der Anattā-Lehre zu tun! Die Anattā-Lehre gibt die Antwort auf die Frage nach dem Attā, dem Atman der Upanischaden, dem wahren Ich oder der "unsterblichen Seele". Die Antwort besagt: Alles, was wir mit den Sinnen und dem Verstande erkennen können, ist nicht der Attā, nicht das wahre Ich. Über den Attā läßt sich nichts aussagen, weder daß er ist, noch daß er nicht ist; denn die Frage nach dem Attā überschreitet die Möglichkeit der Erkenntnis, sie ist transzendent. Attā ist überhaupt kein "Begriff", sondern nur ein Hinweis auf etwas nicht zu Begreifendes. Hier aber, bei der Lehre "Ein Tun und kein Täter", handelt es sich dagegen um die richtige Erkenntnis des mit unseren Sinnen und unserem Verstande Erkennbaren. Die Frage nach dem unerkennbaren, unbegreifbaren Attā wird hier gar nicht berührt, nicht einmal die Frage nach den Grenzen der Erkenntnis, sondern wir befinden uns hierbei ganz innerhalb der erkennbaren, der uns vertrauten, alltäglichen Welt und lernen, genau hinzuschauen und zu prüfen, was wirklich da ist, mit dem Ergebnis, daß wir einsehen, es gibt nur Bewegungen, Zustandsänderungen, Tätigkeiten, aber keine Beweger, keine Täter.
In dem obigen Zitat aus Samyutta-Nikaya 12.12 habe ich das Wort āyatana, das gewöhnlich mit "Gebiet" oder "Bereich" (der sechs Sinne) übersetzt wird, durch "Zugang" wiedergegeben. Ich folge damit dem Beispiel der chinesischen Buddhisten, die āyatana mit "yu" = "hineingehen, eindringen, Zugang" übersetzen. Die buddhistische Terminologie der Chinesen stammt von den indischen Bhikkhus, die einst die Buddha-Lehre nach China brachten; sie konnten durch die den Sinn verkörpernden chinesischen Schriftzeichen besser deutlich machen, was durch Pali- oder Sanskrit-Worte ausgedrückt werden soll, als es nur durch Worte einer anderen Sprache möglich ist. Wenn sie nun in diesem Falle das Hineingehen, Eindringen durch das Schriftbild andeuten, so entspricht dies auch genau dem Pali-Wort, sofern es von der Wurzel "yat" abzuleiten ist, und es trifft den Sinn besser als "Bereich" oder "Gebiet". Das Pali-Wort sankhāra geben die Chinesen durch "hsing" = "handeln, Tätigkeit". Auch dies ist treffend, und ich folge ihnen, indem ich für sankhāra "unbewußte Tätigkeiten" sage.
Unter der Überschrift "Die drei Welten" lesen wir in Karl Seidenstückers "Pali-Buddhismus in Übersetzungen" folgendes Zitat aus D XXXIII, 1, 10:
"Es gibt drei Regionen: Region der Sinnenlust, Region der Formen, Nichtformregion."
In einer großen Tabelle hat Seidenstücker "Die Welten und die Wesen" aufgezählt: 3 Welten, 5 Wege der Wiedergeburt (gati), 26 Himmel, 31 Wesensklassen.
Aus M 12 sind uns diese 5 Gatis bekannt, aus A IX, 24 einige der Götterklassen, die auch an anderen Stellen, wie im Kevaddha-Sutta D XI und in D XV, genannt werden. Wo aber steht im Pali-Kanon etwas über die drei Welten? Nirgends! Weder im Vinaya noch im Sutta noch (soweit mir bekannt) im Abhidhamma. Die Worte kāmaloka, rūpaloka, arūpaloka (Welt der Sinnenlust, Welt der Formen, Welt der Nichtform) und auch tiloka (Dreiwelt) kommen im Pali-Kanon überhaupt nicht vor.
Es gibt aber drei Stellen, an denen kāma-bhava, rūpa-bhava und arūpa-bhava genannt werden; auf Deutsch: "werden" oder besser "leben" in Sinnenlust, leben im Sichtbaren, Anschaulichen und leben im Unsichtbaren, in abstrakten Begriffen, und zwar D XV, 5, D XXXIII, 1, 10 und S 12.2. Außerdem finden sich an zwei Stellen die Ausdrücke kāma-dhātu, rūpa-dhātu und arūpa-dhātu, und zwar D XXXIII, 1,10 und D XXXIV, 1, 4. Dhātu eutspricht hier dem bhava und ist deshalb am besten mit "Zustand" zu übersetzen.
In D XV, wo die Kette der Abhängigkeitsverhältnisse (paticcasamuppāda) erklärt wird, werden die drei Bhavas beiläufig als Beispiele zur Erläuterung des Begriffs "bhava" erwähnt; sie werden hier anscheinend als bekannt vorausgesetzt, bilden aber keinen wesentlichen Bestandteil der Lehrrede und sind wahrscheinlich eine spätere Einfügung.
D XXXIII ist das Sangīti-Suttanta, in welchem berichtet wird, Sāriputta habe eine Übersicht über die ganze Buddhalehre gegeben in Form einer Aufzählung aller Lehrsätze und Lehrgegenstände, geordnet in Gruppen von 1 bis 10 nach der Methode, die dem Anguttara-Nikaya zugrunde liegt. Der Stil dieses Sutta läßt erkennen, daß es erst später - lange nach Sariputtas Tode - verfaßt worden ist, zu einer Zeit, als man das Bedürfnis empfand, eine Art Katechismus der Buddhalehre zu schaffen, um sich mit anderen Schulen auseinanderzusetzen, eine Vorarbeit für den Abhidhamma. Ein ähnliches, auch dem Sāriputta (fälschlich) zugeschriebenes Spätwerk ist D XXXIV.
In den ältesten Teilen des Kanons findet sich keine Spur der Dreiteilung in kāma, rūpa und arūpa, sondern nur eine Zweiteilung in rūpa und arūpa, aber auch diese nur an vier Stellen: M 60, Sn 754, Itivuttaka 62 und Udana I, 10.
rūpa hat im Vinaya und im Sutta immer die Bedeutung "Objekt des Gesichtssinns, sichtbarer Gegenstand". rūpa gehört als Objekt zum Sehen, wie der Ton zum Hören, der Duft zum Riechen, der Saft zum Schmecken und das Tastobjekt zum Tastsinn. Demgemäß können die Ausdrücke in M 60 "devā rūpino" und "devā arūpino" nur bedeuten: "sichtbare Devas" und "unsichtbare Devas". Die ersteren werden hier als manomayā, die letzteren als sannyāmayā charakterisiert; "manomaya" bedeutet: "durch Denken, durch Geisteskraft hervorgebracht" oder "aus Geist bestehend"; die Bedeutung von sannyāmaya ist unsicher. Sannyā kann hier nicht "sinnliche Wahrnehmung" sein, denn was keine Gestalt hat, was unsichtbar ist, kann nicht durch die Sinne wahrgenommen werden, sondern vielleicht, wie an manchen anderen Stellen, "Bewußtsein". Dann wäre sannyāmaya = "nur als Vorstellung im Bewußtsein existierend", und der Unterschied zwischen manomaya und sannyāmaya wäre etwa der zwischen Vision und Halluzination.
ln demselben Sutta M 60 heißt es weiter: rūpādhikaranam dandādāna . . . musāvādā, "infolge von Sichtbarem (oder: wegen sichtbarer Dinge) gibt es Gewalttätigkeit . . . und Lüge"; n'atthi kho pan'etam sabbaso arūpe, "wo nichts Sichtbares ist, gibt es dieses überhaupt nicht". - Von "Welten" ist hier nicht die Rede.
In Sn 754 und Itivuttaka 62 heißt es: rūp˙pagā sattā āruppatthāyino, "Wesen, die in sichtbare Gestalt eingetreten sind, und die in der Unsichtbarkeit verweilenden" (āruppa ist Neutrum zu arūpa, entstanden aus a-rūpya - das Dasein ohne sichtbare Gestalt, die Unsichtbarkeit.)
In Udana I, 10: atha rūpā arūpā ca sukhadukkhā pamuccati = "dann ist er befreit von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Glück und Leid". Dies ist m. W. die einzige Stelle, wo man rūpa und arūpa zutreffend mit "Welten" übersetzen kann: "er ist befreit von der sichtbaren und unsichtbaren Welt, von Glück und Leid"; aber auch hier bedeutet dann "Welt" so viel wie "Bewußtseinszustand", und eine sichere Erklärung dafür, was hier unter rūpa und arūpa zu verstehen ist, findet sich nirgends.
Wir können jedoch einen Hinweis aus M 41 entnehmen, wo folgende vier Devaklassen erwähnt werden: ākāsānancāyatan˙pagā, vinnyānancāyatan˙pagā, ākincannyāyatan˙pagā, nevasannyānāsannyāyatan˙pagā = "Devas, die das Gebiet der Raumunendlichkeit erreichen, Devas, die das Gebiet der Bewußtseinsunendlichkeit erreichen, Devas, die das Gebiet des Nichts erreichen, Devas, die das Gebiet von Weder-Wahrnehmung-noch-Nichtwahrnehmung erreichen". Wenn man annimmt, daß diese Devas dieselben sind, die in M 60 als arūpino bezeichnet werden, dann existieren diese Devas in denjenigen Jhānas, die - nicht im Kanon, sondern erst von späteren Kommentatoren - arūpajjhānā genannt werden, also in den abstrakten Versenkungen. Unter der Voraussetzung, daß diese Annahme zutrifft, bedeutet das Wort arūpa in dem zitierten Udāna den Zustand oder "die Welt" dessen, der sich in den abstrakten Versenkungen befindet.
Das Ergebnis unserer Untersuchung läßt sich dahin zusammenfassen:
Im ältesten Buddhismus, zu Lebzeiten Gotamas, kannte man nur die Zweiteilung: rūpa und arūpa; rūpa ist das Sichtbare, arūpa das Unsichtbare. Auf den Bewußtseinsinhalt bezogen, ist rūpa das Anschauliche, Konkrete, arūpa der unanschauliche, abstrakte Begriff. rūpa, das Anschauliche, ist das Vorstellungsobjekt in den vier Versenkungsstufen, durch welche Gotama zur Bodhi gelangte; arūpa, der abstrakte Begriff (wie Raumunendlichkeit usw.) ist das Vorstellungsobjekt in jenen anderen Versenkungen, die Gotama vorher bei Aara Kālāma und Uddaka Rāmaputta kennen gelernt und als unbefriedigend, weil nicht zum Nirvana führend, aufgegeben hatte. In einer späteren Periode, in der die Suttas D 33 und 34 verfaßt und andere, wie D 4 und S 12, überarbeitet wurden, fügte man als dritte Abteilung kāma hinzu und redete von bhava ("werden" oder "leben") in Sinnenlust, in (reiner) Anschauung und im Abstrakten; und von dhātu ("Zustand") der Sinnenlust, des Anschauens und des abstrakten Begriffs. Von drei Welten (loka) ist auch in dieser Periode nicht die Rede.
Noch später, als nach und nach die Bücher des Abhidhamma entstanden, kam in diesem Zusammenhang ein neues Wort auf: avacara = "lebend in oder mit, sich bewegend in" und als Neutrum = "Sphäre, Gebiet, Bereich", und man sprach von kāmāvacara, rūpāvacara und arūpāvacara, also vom "Gebiet der Sinnenlust, Gebiet des Anschaulichen, Gebiet des Abstrakten". Kāmāvacara kommt einmal auch in D 1, 3, 11 vor, wodurch sich dieses Brahmajālasutta als später entstanden oder wenigstens später überarbeitet erweist (vgl. Herbert Günther, "Das Seelenproblem im älteren Buddhismus", S. 136f).
Diese Ausdrücke finden sich auch in dem noch jüngeren Abhidhammatthasangaha, wo gelehrt wird, daß es im kāmāvacara 8 Klassen des heilsamen (kusala) Bewußtseins gibt, im rūpāvacara 5 Jhānas (man hatte zwischen die 2. und die 3. Stufe der Versenkung eine weitere eingeschoben) und im arūpāvacara 4 Jhānas. Hinzu kommt hier als 4. Gebiet der lokuttaramagga, der überweltliche Weg, der aus den 4 Stufen der Heiligkeit besteht. Von "drei Welten" (tiloka) weiß aber selbst der Abhidhammatthasangaha noch nichts! Die avacarā werden hier deutlich als Bewußtseinsgebiete gekennzeichnet.
Das Wort kāmaloka, Welt der Sinnenlust, kommt m. W. zum ersten Mal im Visuddhimagga Buddhaghosas vor, rund tausend Jahre nach Buddha, und der Ausdruck tiloka, drei Welten oder Dreiwelt, tritt zum ersten Mal auf im Saddhammopāyana (JPTS 1887, Seite 35f), einer Dichtung, deren Verfasser und Entstehungszeit unbekannt sind; Geiger (in "Pali, Literatur und Sprache") stellt sie zwischen das 14. und das 15. Jahrhundert nach Chr.
Für die Behauptung, es gebe drei Welten, nämlich
1. die Sinnenwelt oder Welt der fünf Sinne,
2. die feinmaterielle Welt, entsprechend den 4 (ersten) Stufen der Versenkung, außer daß es dort noch Sehen und Hören gibt, und
3. die immaterielle Welt, entsprechend den immateriellen Versenkungen -
für diese Behauptung in Nyānatilokas "Buddhist Dictionary" gibt es im Pali-Kanon keine Grundlage. Weder Buddha noch seine ersten Jünger noch die späteren Verfasser des Abhidhamma haben jemals von drei Welten geredet.
Buddhalehre und Theosophie
"Die Buddhalehre enthält keine Spur von Mystik", sagt Georg Grimm im "Buddhistischen Weltspiegel" II, 212 (1921); Bernardus Jasink dagegen vertritt in seinem Buch "Die Mystik des Buddhismus" (Leipzig 1922) die Ansicht, der Buddhismus sei seinem Wesen nach Mystik. Das eine scheint das andere auszuschließen, und doch können beide Behauptungen nebeneinander zu Recht bestehen; denn das Wort Mystik ist mehrdeutig. Grimm versteht unter Mystik eine innere Erleuchtung, die der ganzen Art nach von der normalen Wahrnehmung verschieden sein und demgemäß auch durchaus anders gerichtete Erkenntnisresultate zeitigen soll. Er weist nach, daß dieser Begriff der Mystik dem Buddhismus fremd ist. Für Jasink ist Mystik etwas ganz anderes, nämlich eine Unterart der Religion. Er sagt, es gebe eine dynamische Auffassung der Religion, die es zur Pflicht mache, alle Kraft anzuspannen, um zur Vereinigung mit Gott zu kommen, und eine statische, die den Glauben als das einzig Erforderliche betrachte. Diese sei bei uns im Westen allmählich zur einzigen Religion geworden, während jene mit dem Namen Mystik bezeichnet werde. Von dieser Definition aus mußte Jasink zu einem andern Ergebnis kommen als Grimm.
Es scheint im Wesen der allumfassenden Buddhalehre zu liegen, daß sich die Menschen, die sich um ihre Auslegung bemühen, je nach ihren Anlagen und ihrer geistigen Entwicklung, mit der sie an die Lehre herantreten, in verschiedene Lager spalten müssen. Wie sich schon in der ältesten Zeit, wahrscheinlich schon zu Lebzeiten Gotamas, verschiedene Sekten im Buddhismus bildeten, so entstehen auch jetzt, bei der Wiedergeburt des Buddhismus im Abendlande, fortwährend neue Richtungen unter seinen Anhängern. Die von der modernen Naturwissenschaft Ausgehenden sammeln sich um die Siamesische Schule, der in Deutschland die von Dahlke gegründete neubuddhistische Richtung entspricht; auf dem Boden des amerikanischen Pragmatismus erwuchs der eklektische Buddhismus des Deutsch-Amerikaners Paul Carus; vom Studium des Yoga aus gelangte Hermann Beckh zu der Auffassung, daß das Wesen des Buddhismus in der Versenkung, im Jhāna, liege; die strenge Schulung des Denkens durch Kant und Schopenhauer befähigte Georg Grimm, die Buddhalehre als die Religion der Vernunft zu erfassen; und theosophische Vorbildung führte Jasink zu seiner "Mystik des Buddhismus".
Auch Jasink hat manches Wertvolle zum Verständnis des Buddhismus beigesteuert, und es verlohnt sich, sein Buch ohne Voreingenommenheit zu prüfen. Als Maßstab hat dabei die im Vinaya- und Sutta-Pitaka niedergelegte Überlieferung zu gelten, die trotz mancher ihr anhaftenden Mängel doch zweifellos die ursprüngliche Buddhalehre am reinsten von allen uns bis jetzt bekannten Quellen darstellt.
Jasink kommt von der Theosophie der Frau Blavatzky. Es ist hier nicht zu untersuchen, welchen Wahrheitsgehalt die Theosophie hat. Titthatu - "das mag dahingestellt bleiben" - würde Buddha sagen. In einem Buch über Buddhismus, das Jasink schreiben wollte, hat sie nur soweit Berechtigung, als sie mit der Lehre Buddhas in Einklang steht. Abzulehnen sind darum Behauptungen wie diese: "Nirvana ist die Welt der Ursachen" (S. 125) und: "In dem Nirwana scheinen die Konstituenten des menschlichen Seelenlebens, Denken, Fühlen, Wollen, fortzubestehen und sogar in gesteigerter Form" (S. 117). In Udāna VIII, 1-4 ist deutlich gesagt, daß das Nirvana jenseits der Kausalität liegt, und in Anguttara-Nikaya IX, 34, daß im Nirvana keine Empfindung und keine Wahrnehmung vorhanden ist.
Verfehlt ist vor allem die Gleichsetzung der drei Welten des Buddhismus - Kāma-, rūpa-, Arūpa-Welt - mit den drei Ebenen oder Welten der Theosophie - Außen-, Astral-, Mental-Welt. Diese Gleichsetzung ist schon methodisch verfehlt: man kann Unbekanntes nicht dadurch erklären, daß man es auf ein anderes Unbekannte zurückführt. Mögen auch die theosophischen Ebenen für Jasink als Theosophen feststehende Tatsache sein, für andere sind sie durchaus problematisch.
Die Gleichsetzung ist aber auch sachlich verfehlt; denn erstens gibt es im älteren Buddhismus keine "drei Welten" (siehe S. 90f), und zweitens decken sich die drei Welten des späteren Buddhismus keineswegs mit den drei Ebenen der Theosophie. Die drei Arten des Selbst aber, die im Potthapādasutta (D IX) erwähnt werden und die sich vielleicht mit den drei Ebenen vergleichen lassen, sind nicht buddhistisch. In D IX, 24 sagt Buddha ausdrücklich, daß Potthapāda, der von den drei Arten des Selbst redet, auf dem Boden einer anderen Lehre steht. In D IX, 21-23 erklärt Buddha, er lasse es dahingestellt sein - titthatu - ob es die drei Arten des Selbst gebe. In D IX, 39 gibt er zwar eine Begriffsbestimmung der drei Arten des Selbst, aber offenbar nur, um auf die Denkweise des Potthapada einzugehen und ihm den Weg zur Erlösung zu zeigen. In 43-46 sagt er ausdrücklich, daß es sich bei der Annahme der drei Arten des Selbst nur um eine Fiktion des Potthapāda und seiner Gesinnungsgenossen handelt. Jasink scheint das übersehen zu haben. Wenigstens stellt er es auf Seite 150 so dar, als ob die drei Arten des Selbst, "die selbstverständlich mit den drei Welten korrespondieren", buddhistisch seien. Zehn Seiten vorher hatte er ganz richtig betont, daß im Potthapādasutta von "drei falschen, nur so angenommenen Selbsten" die Rede ist. Er meint aber, daß Buddha nur das Identifizieren des eigentlichen Selbst mit jenen falschen abgelehnt habe, und hält die Theorie von den drei Arten des Selbst an sich für buddhistisch.
Ebensowenig wie in diesen Zusammenhang gehören die drei Ebenen der Theosophie in die Lehre vom achtfachen Weg, wo sie Jasink auch wiederzufinden glaubt; auch zur Erklärung der Erinnerung an frühere Geburten sind sie nicht zu verwenden, wie es Jasink auf S. 239 tut, indem er sagt: "Vergessen wir nicht, daß die ganze Entwicklung des Heilsweges auf Bewußtwerdung abzielt und daß die Innenwelt die Außenwelt sozusagen übergreift; das menschliche ,Selbst' dieser Innenwelt überdauert die Geburten in der Sinnenwelt, und mit der Bewußtwerdung der Innenwelt, d.h. mit der Identifikation mit dem zu dieser Innenwelt gehörigen Selbst, erhält der Jünger das Gedächtnis des Selbstes, das sich über den ganzen Sansāra erstreckt."
Da die drei Ebenen mit der Lehre Buddhas nun einmal nichts zu tun haben, so können sie auch nichts beitragen zur Aufhellung des Paticcasamuppāda, der "Kette der Abhängigkeitsverhältnisse", bei deren Auslegung Jasink sich im wesentlichen Hermann Beckh anschließt.
Soviel von der Vermischung der Theosophie mit dem Buddhismus, die sich wie ein roter Faden durch das ganze Werk hindurchzieht. Die theosophische Einstellung hat aber - und das verdient Anerkennung - Jasink nicht gehindert, tief in den Geist der Buddhalehre einzudringen. Besonders wertvoll ist, daß er die große Bedeutung des achtfachen Weges richtig erkannt hat und ihn, wie vor ihm schon Beckh, zur eigentlichen Grundlage der ganzen Darstellung des Buddhismus gemacht hat. Darin befindet er sich ohne Zweifel in Übereinstimmung mit Buddha selbst, der nach dem Bericht des Mahāparinibbānasutta seinem letzten unmittelbaren Jünger Subhadda gegenüber den edlen achtfachen Weg als das Entscheidende für die rechte Lehre bezeichnet hat.
Außerdem finden sich in Jasinks Werk auch treffliche Ausführungen allgemeiner Art über das Wesen der Religion, die an manchen Stellen geradezu epigrammatische Gestalt annehmen, wie beispielsweise dieser Satz (S. 339): "Die Religion ist - negativ gesehen - das Vermögen der Verzichtleistung auf das weltliche Leben, weil sie - positiv gesehen - die Besitzergreifung des Überweltlichen bedeutet."
Zusammenfassend ist zu sagen: Jasinks Werk ist eine achtbare selbständige Leistung, ein auf umfassender Kenntnis der Übersetzungsliteratur beruhender Versuch, den Geist der Buddhalehre in ihrer Tiefe zu erfassen. Die Hereinziehung theosophischer Vorstellungen verdunkelt zwar hier und da das Verständnis, statt es aufzuhellen, aber die Abirrungen, die dadurch bedingt werden, sind nicht von entscheidender Bedeutung, ebensowenig wie die Bezeichnung des Buddhismus als Mystik, unter der Jasink nichts anderes versteht als - im Anschluß an Heiler, aber über dessen Definition hinausgehend - den Gegensatz zur Offenbarungsreligion.
Gotama, der Buddha, war auch in der Redekunst Meister. Seine Zeitgenossen sagten von ihm, seine Rede sei inhaltreich, klar und bestimmt, ihrem Gegenstand angemessen und gelegentlich mit Gleichnissen geschmückt; er spreche gut, seine Sprache sei fein und elegant, fließend, klangvoll und deutlich (D I,1,9 und IV, 6). Daß er, wo es am Platz war, auch mit Ironie und Humor redete, wird zwar nichlt ausdrücklich bezeugt, aber wir dürfen es im voraus als sicher annehmen, denn das "Ridendo dicere verum" kann einem so großen Meister der Redekunst, wie Gotama war, nicht fehlen, und es finden sich in den überlieferten Reden Gotamas in der Tat mehrere Stellen, in denen Ironie und Humor deutlich zutage treten.
Seidenstücker hat einmal, im "Buddhistischen Weltspiegel" III, Seite 34 vom Juli 1921, die Frage aufgeworfen, ob wir überhaupt mit Sicherheit sagen können, daß Buddha mit Humor geredet habe, und ob nicht vielleicht "etwas, was wir heute fraglos als Humor ansprechen, unter anderen Zeit- und Kulturverhältnissen und bei einer Hörerschaft, deren geistiger Werdegang auf wesentlich anderen Voraussetzungen, als es bei uns in der Gegenwart der Fall ist, sich aufbaut, gar nicht als Humor, sondern möglicherweise als tiefer Ernst aufgefaßt und aufgenommen wird." Diese Möglichkeit ist nicht ohne weiters von der Hand zu weisen, aber es gibt doch gewisse Kriterien für Ironie und Humor, die in der Natur der Sache begründet und deshalb von den Zeitumständen unabhängig sind, also für alle Zeiten gelten.
Diese Kriterien hat Schopenhauer im 2. Bande seines Hauptwerks, 1. Buch, 8. Kapitel, klar formuliert, indem er sagt:
"Das absichtlich Lächerliche ist der Scherz: er ist das Bestreben, zwischen den Begriffen des anderen und der Realität, durch Verschieben des einen dieser beiden, eine Diskrepanz zuwege zu bringen; während sein Gegenteil der Ernst in der wenigstens angestrebten genauen Angemessenheit beider zueinander besteht.
"Versteckt nun aber der Scherz sich hinter den Ernst, so entsteht die Ironie: z.B. wenn wir auf die Meinungen des anderen, welche das Gegenteil der unsrigen sind, mit scheinbarem Ernst eingehen und sie mit ihm zu teilen simulieren; bis endlich das Resultat ihn an uns und ihnen irre macht.
"So verhielt sich Sokrates dem Hippias, Protagoras, Gorgias und anderen Sophisten, überhaupt seinem Kollokutor gegenüber.
"Das Umgekehrte der Ironie wäre demnach der hinter den Scherz versteckte Ernst, und dies ist der Humor. . .
"Die Ironie ist objektiv, nämlich auf den anderen berechnet; der Humor aber ist subjektiv, nämlich zunächst nur für das eigene Selbst da. Demgemäß finden die Meisterstücke der Ironie sich bei den Alten, die des Humors bei den Neueren. Denn näher betrachtet, beruht der Humor auf einer subjektiven, aber ernsten und erhabenen Stimmung, welche unwillkürlich in Konflikt gerät mit einer ihr sehr heterogenen, gemeinen Außenwelt, der sie weder ausweichen noch sich selbst aufgeben kann, daher sie, zur Vermittlung, versucht, ihre eigene Ansicht und jene Außenwelt durch dieselben Begriffe zu denken, welche hierdurch eine doppelte, bald auf dieser, bald auf der anderen Seite liegende Inkongruenz zu dem dadurch gedachten Realen erhalten,wodurch der Eindruck des absichtlich Lächerlichen, also des Scherzes entsteht, hinterwelchem jedoch der tiefste Ernst versteckt ist und durchscheint."
Wenn wir uns an diese Begriffsbestimmung Schopenhauers halten, haben wir einen sicheren Maßstab, um zu beurteilen, ob wir berechtigt sind, Äußerungen Gotamas als Ironie oder Humor aufzufassen. Wenden wir also, um ein Beispiel zu geben, Schopenhauers Definition auf das Devadahasutta, M 101, an! Es ist die Rede, die Gotama in dem Marktflecken Devadaha hielt. (Neumann übersetzt den Ortsnamen mit "Götterlache"; man könnte ihn vielleicht besser mit "Engelsteich" oder "Geisterweiher" verdeutschen, läßt ihn aber am besten unübersetzt.)
Um diese Rede recht zu verstehen, muß man sich daran erinnern, daß der Hauptkonkurrent, mit dem der Buddha-Orden zu kämpfen hatte, der noch heute in Indien wirkende Mönchsorden der Jinisten war. Sie nannten sich selbst Niganthas, die Fessellosen, und ihr Meister war Nāthaputta, der den Titel Mahāvīra, der große Held, und Jina, der Sieger, führte - wie Gotama der Buddha, der Erwachte, genannt wurde. Nach dem "Jina" werden sie Jinisten genannt. (Meist nennt man sie in der indischen Form "Jainas", aber dann müßte man konsequenterweise die Buddhisten "Bauddhas" nennen; da wir aber nach deutscher, überhaupt nach europäisaher Sprechweise "Buddhisten' sagen, sollten wir ebenso jene als "Jinisten" bezeichnen.)
Die Jinisten-Mönche unterzogen sich und unterziehen sich noch heute einer qualvollen Askese, durch die sie sich von den Folgen ihres früheren Karmas reinigen zu können glauben. Wie aus vielen Stellen des Pali-Kanons zu ersehen ist, hat Buddha öfter vergeblich, versucht, ihnen klar zu machen, daß ihre Selbstquälerei auf einer irrigen Voraussetzung beruht und zwecklos ist. Die irrige Voraussetzung ist ihre Auffassung der Karmalehre. Gotama fragte sie, woher sie denn wüßten, daß sie in einem früheren Leben diese oder jene böse Tat getan haben, die sie jetzt durch ihre Selbstkasteiung abbüßen müssen; und ferner, woher sie denn wüßten, daß man nach Belieben die Folgen früherer böser Taten durch ein bestimmtes Verhalten im gegenwärtigen Leben erledigen könne. Die Jinisten wußten darauf keine Antwort zu geben und beriefen sich einfach auf das Wort ihres Meisters, des Jina, der sich selbst und den sie für allwissend hielten. Buddha aber lehrte, daß man über das Reifen der Taten -kammavipāka - in Anwendung auf den Einzelfall überhaupt nichts wissen kann und daß alles Grübeln darüber nur zu Wahnsinn und Geistesverwirrung führt. (A IV, 77.)
Nachdem nun Gotama wiederholt beobachtet hatte, daß die Jinisten unbelehrbar und von ihrer Selbstquälerei nicht abzubringen waren, sagte er in jenem Marktflecken Devadaha - nicht zu ihnen, sondern zu seinen eigenen Bhikkhus, denen er über seine vergeblichen Unterredungen mit den Jinisten berichtete:
"Wenn die Qualen, die ein Wesen jetzt erleidet, durch bestimmte böse Taten in einem früheren Leben verursacht sind, dann müssen die Jinisten in ihrem früheren Leben große Übeltäter gewesen sein, da sie jetzt so schlimme Qualen erdulden."
Schon dieser Satz ist sicherlich ironisch gemeint; denn Gotama geht mit scheinbarem Ernst auf die Theorie der Jinisten ein und zeigt, zu welchem lächerlichen Resultat sie führt. Um aber die Ironie noch greifbarer zu machen, fährt Gotama fort:
"Wenn aber ein Weltschöpfer darüber entscheidet, ob die Wesen ein glückliches oder ein qualvolles Leben führen, dann müssen die Jinisten von einem bösen Schöpfer geschaffen worden sein, da sie jetzt so schlimme Qualen erdulden." Und ferner:
"Wenn der Zufall darüber entscheidet, dann haben die Jinisten durch Zufall ein schlechtes Los gezogen; wenn die Geburt in einer bestimmten Kaste darüber entscheidet, dann sind die Jinisten in einer schlechten Kaste geboren worden; und wenn schließlich das Verhalten im gegenwärtigen Leben darüber entscheidet, dann müssen sie sich in ihrem gegenwärtigen Leben recht übel benommen haben. Welche Theorie man auch zugrunde legt: die Theodizee, den Fatalismus, die Kastenordnung oder den Glauben an eine immanente Gerechtigkeit - in jedem Falle ist das Resultat für die Jinisten unsinnig."
Die vier letzten Theorien werden von den Jinisten gar nicht vertreten; man könnte sie nur für die Selbstquälerei zur Begründung heranziehen, und manche Asketen begründeten ihre Kasteiungen tatsächlich mit der einen oder anderen dieser Theorien und tun es noch heute in Indien. Daß Gotama sie alle nacheinander anführte, um jedesmal die Lächerlichkeit des Resultats deutlich zu machen, ist ein sicheres Merkmal dafür, daß diese ganze Aufzählung ironisch gemeint ist.
Bekannter als das Devadahasutta ist das Kevattasutta, D XI, mit seiner feinen, zugleich vernichtenden Iron: Dem Bürger Kevatta oder Kevaddha, der gewünscht hatte, daß ein Bhikkhu ein Wunder verrichtete, um den Glauben an den Buddha-Orden zu stärken, erwiderte Gotama, er halte nichts von den gewöhnlichen Wundertaten, die auf magischen Fähigkeiten oder auf Gedanken-lesen beruhen, sondern empfehle nur das Wunder der Lehre. Die Bhikkhus sollen nur die wahre Lehre verbreiten, das sei das einzige Wunder, das Wert habe. Da erzählte er dem Bürger Kevatta folgende Geschichte:
Ein Bhikkhu, der gern wissen wollte, wo die vier Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft restlos verschwinden, wandte sich mit dieser Frage an die himmlischen Wesen, die Devas, erhielt aber keine Antwort und wurde von einer Devaklasse immer an eine höhere verwiesen, bis er schließlich seine Frage den höchsten, den Brahma-Göttern, vorlegte. Aber auch diese erklärten sich für unfähig, die Frage zu beantworten, und sagten ihm: Da ist doch noch der große Brahma, der Allwissende, der Schöpfer und Lenker der Welt, der wird es wohl wissen. Endlich erscheint Brahma, und der Bhikkhu sagt zu ihm: "Lieber Freund, wo finden die vier Elemente restlos ihr Ende?" Brahma antwortet: "Ich bin Brahma, der große Brahma, der Allmächtige, der Unübertroffene, der Allwissende, der Herr der Welt, der Meister, der Schöpfer, der höchste Herrscher, der Lenker der Geschicke, der Vater alles Gewordenen und Zukünftigen." Der Bhikkhu aber spricht: "Lieber Freund, ich frage dich, ja nicht nach allen deinen Eigenschaften und Ehrennamen, sondern ich frage dich, wo die vier Elemente vergehen." Brahma sagt nun wiederum alle seine Titel her. Da fragt ihn der Bhikkhu zum dritten Mal, und nun faßt ihn Brahma am Arm, führt ihn beiseite und sagt "Bhikkhu, hier diese Götter der Brahma-Welt denken, es gebe nichts, was Brahma nicht sehe und wisse, und nichts, was ihm nicht offenbar wäre. Auch ich weiß nicht, wo die vier Elemente vergehen, ohne einen Rest zurückzulassen. Darum ist es falsch und nicht wohlgetan von dir, daß du den Erhabenen umgingst und woanders eine Lösung dieser Frage suchtest. Gehe zum Erhabenen, lege ihm deine Frage vor und halte dich an das, was er dir antwortet!" Der Bhikkhu geht dann zu Buddha, und dieser erklärt ihm, daß die Frage falsch gestellt ist, wie sie richtig gestellt werden muß und wie sie zu beantworten ist.
Mit scheinbarem Ernst geht Gotama hier auf den Gottesglauben des Volkes ein, jedoch so, daß zum Schluß der Zuhörer selbst über seinen höchsten Gott Brahma lachen muß. Insoweit finden wir hier Ironie. Dann aber kehrt sich das Verhältnis von Scherz und Ernst um: schon die respektlose, vertrauliche Anrede "lieber Freund", die sich der Bhikkhu dem großen Brahma gegenüber erlaubt, wirkt auf den Zuhörer erheiternd. Vollends scherzhaft aber wird die Situation, wo Brahma den Bhikkhu am Arm aus der Nähe der Brahmagötter wegführt, um ihm unter vier Augen zu gestehen, daß er in Wirklichkeit nicht allwissend ist, wie die Götter und Menschen glauben, und Buddha den Vorrang einzuräumen. Hier verbirgt sich hinter dem Scherz der tiefe Ernst: der richtige Gebrauch der menschlichen Vernunft, so wie ihn Buddha lehrt, übertrifft alles Wissen der Götter. Liegt darin nicht, nach Schopenhauers Definition, unverkennbar Humor?
Dann die Erzählung von der Hausfrau Vedehika in Sāvatthī im Kakacūpamasutta, M 21: Es war da ein Bhikkhu, der leicht in Zorn geriet. Buddha ließ ihn kommen, wies ihn zurecht und erzählte darauf seinen Bhikkhus folgende Geschichte:
In Sāvatthī lebte einst eine Hausfrau namens Vedehikā, die als sanft und friedfertig bekannt war. Sie hatte eine fleißige und tüchtige Magd namens Kālī, die Schwarze. Diese hatte den Einfall, ihre Herrin einmal auf die Probe zu stellen, ob sie wirklich so sanft und friedfertig sei, wie man allgemein glaubte. Deshalb schlief sie bis in den hellen Tag hinein und vernachlässigte ihre Arbeit, um die Frau Vedehikā zu reizen. So gelang es ihr wirklich, ihre Herrin zu erzürnen. Zuerst machte Vedehikā ihr nur Vorwürfe wegen ihrer Nachlässigkeit. Die Magd wurde aber immer träger und widerspenstiger und brachte es dahin, daß Frau Vedehikā schrie und schimpfte und ihr schließlich einen spitzen Türriegel an den Kopf warf und sie schwer verwundete. Nun lief die Magd mit blutendem Kopf zu den Nachbarinnen und rief: "Seht, das hat die angeblich so sanfte und friedfertige Frau Vedehikā getan!" Dadurch kam die Frau in den schlechten Ruf, heftig und jähzornig zu sein.
Diesem humoristischen Gleichnis ließ Buddha noch weitere, aber ernste Gleichnisse folgen, deren letztes, das von der Säge, dem Sutta den Namen gab: "Selbst wenn euch Mörder mit einer Säge Glied für Glied vom Leibe trennten, würde der, welcher darüber in Zorn geriete, nicht nach meiner Weisung handeln. Ihr müßt euch vielmehr auch in solchem Falle so üben: Nicht soll unser Gemüt voll Unmut werden, kein böses Wort wollen wir ausstoßen, freundlich und gütig wollen wir bleiben, liebevoll gesinnt, ohne heimlichen Haß, und diesen Menschen wollen wir mit gütigem Geiste durchdringen, und von ihm ausgehend die ganze Welt durchdringen mit gütigem, unermeßlichem, von Feindseligkeit und Übelwollen freiem Geist!"
Hier ist die Wirkung des Humors noch gesteigert durch den Kontrast zwischen der lächerlichen, auf ihren guten Ruf bedachten und doch so reizbaren Bürgersfrau und der ernsten Mahnung zur Friedfertigkeit auch unter Mörderhänden.
Auch mythologische Stoffe benutzte Gotama gelegentlich zu humoristischen Darstellungen. So wird in S XI, 3, 2 berichtet, daß er folgende Geschichte erzählt habe: Einst hatte sich ein häßlicher, verwachsener Dämon auf den Thron des Götterkönigs Sakka (oder Indra) gesetzt. Die Devas gerieten darüber in Aufregung und Zorn. Je mehr sie aber zürnten, um so schöner und stattlicher wurde der Dämon, der sich von dem Zorn anderer Wesen mästete. Darauf riefen sie Indra herbei, und dieser trat vor den Dämon, beugte vor ihm das Knie, legte die Hände zusammen, neigte sein Haupt und sprach: Gnädiger Herr, ich der Götterkönig Indra, bin dein untertänigster Diener. Das wiederholte er mehrmals, und jedesmal wurde der Dämon kleiner und häßlicher, bis er schließlich ganz verschwand. Indra empfahl darauf in zwei Strophen den Devas Sanftmut, Nachgiebigkeit und Milde; sie lauten:
"Nicht leicht reg' ich mich auf,
gerate nicht in Wut;
Doch zürn' ich euch einmal,
bald bin ich wieder gut.
Im Zorne schimpf' ich nicht
und nehm' den Mund nicht voll;
Ich halte mich im Zaum.
Mein Heil bedenk' ich wohl."
Für uns heutige sind Indra und der Dämon ferne und blasse mythologische Gestalten; für Gotama aber und seine Zuhörer waren Devas und Dämonen Realitäten, die ihnen leibhaftig vor Augen standen. Darum war der vor dem Dämon demütig kniende Götterkönig Indra für sie ein viel lächerlicheres Bild als für uns. Und wenn Seidenstücker recht hat, daß die Entscheidung darüber, ob etwas als Humor oder als Ernst aufzufassen ist, von den Zeit- und Kulturverhältnissen abhängt, so muß in diesem Fall die humoristische Wirkung des Gleichnisses, als Gotama es vortrug, viel stärker gewesen sein, als es uns heute erscheint. Gerade dieses Beispiel scheint mir noch besser als die anderen zu beweisen, daß Gotama die Wirkung des lächerlichen beabsichtigt und wohl berechnet hat, um den dahinter versteckten Ernst, die Mahnung zu Sanftmut und Nachgiebigkeit, um so eindringlicher darzustellen.
Wenn Gotama seine Jünger ermahnte, sich nicht mit leerem Geschwätz abzugeben, pflegte er die Gesprächsgegenstände, die eines Edlen unwürdig sind, in einer immer wiederkehrenden, festen Reihenfolge aufzuzählen, um diese Reihenfolge begann so: "Könige, Gauner, Minister, Kriegsheere, Gefahren, Krieg, Speisen, Getränke usw." Die Zusammenstellung "Könige, Gauner (oder: Diebe, Räuber), Minister" kann auch vor 2500 Jahren nur ironisch gemeint und als Ironie verstanden worden sein. Im Zweifel kann man wohl nur darüber sein, ob hier die Albernheit der politischen Kannegießerei ironisiert werden sollte oder ob sich die Ironie gegen den Geltungsanspruch der oft moralisch minderwertigen Machthaber - Könige und Minister - richtete, die mit den illegitimen Machthabern, den Räubern und Dieben, sozusagen auf eine Stufe gestellt werden. Vielleicht war beides zugleich beabsichtigt; mit einem Schlage wird das politische Gcschwätz und sein vornehmster Gegenstand lächerlicht gemacht.
"Tiefen Humor" glaubte Karl Eugen Neumann im Abschluß des Suttas M 123 zu sehen, in dem Ausspruch Buddhas:
"Ānanda, dies merke dir als eine erstaunliche und wunderbare Eigenschaft eines Vollendeten: einem Vollendeten entstehen die Empfindungen bewußt, bewußt bleiben sie, bewußt verschwinden sie; bewußt entstehen ihm die Wahrnehmungen und die Begriffsbildungen, bewußt bleiben sie, bewußt verschwinden sie. Dies merke dir als eine erstaunliche und wunderbare Eigenschaft eines Vollendeten."
Was ist hieran scherzhaft? Wenn man bedenkt, daß Empfindungen, Wahrnehmungen und Begriffsbildungen beim Menschen sonst immer unterhalb der Schwelle des Bewußtseins auftreten, da sind und verschwinden und daß sonst immer nur ihr Resultat als fertige, mehr oder weniger klare Begriffe im Bewußtsein erscheint, so wird man nicht bestreiten können, daß die Fähigkeit, das Zustandekommen, Vorhandensein und Dahinschwinden der Empfindungen, Wahrnehmungen und Begriffsbildungen bei sich selbst zu beobachten, erstaunlich und wunderbar ist. Buddha bekundete hier, daß er einen psychologischen Scharfblick und Tiefblick besaß, wie kein anderer Mensch. Diese Eigenschaft ist in der Tat erstaunlicher und wunderbarer als alle die legendarischen Wundergeschichten, die Ānanda vorher von der Geburt Gotamas erzählt hatte.
Der übrige Inhalt von M 123 ist nämlich legendarische Dichtung. Einige Bhikkhus hatten sich, so wird hier berichtet, über die erstaunlichen geistigen Fähigkeiten Buddhas unterhalten, als Gotama zu ihnen kam und sich nach ihrem Gespräch erkundigte. Darauf trug Ānanda die Legende von der wunderbaren Geburt Gotamas vor, indem er 19mal, bei jeder Einzelheit, versicherte, er habe dies alles aus dem eigenen Munde des Erhabenen gehört. Schon die immer wiederholte Berufung auf Aussprüche Gotamas läßt erkennen, daß der Verfasser dieses Suttas eine Anzweiflung seiner Legende befürchtete.
Soll man glauben, daß diese Legende sich schon zu Gotamas Lebzeiten gebildet hat und daß Gotama selbst sie, vielleicht lächelnd, mitanhörte? Dann wäre es allerdings verständlich, daß Gotama, als Ānanda seine Wundergeschichten beendet hatte, zu ihm sagte: "Als wirklich erstaunlich und wunderbar merke dir lieber, daß ich als ein Vollelldeter die Empfindungen, Wahrnehmungen und Begriffsbildungen bewußt bei mir kommen, bleiben und vergehen sehe." Womit er, ohne Ānanda zu verletzen, seine fromme Dichtung als unwesentlich beiseite geschoben hätte. Aber auch in diesem Fall kann ich hier keine Spur von Humor entdecken, sondern höchstens Ironie. Seinem Inhalt nach ist der Ausspruch durchaus ernst, aber in seiner Stellung als Abschluß der Legendenerzählung Ānandas liegt eine Kontrastwirkung, die - um Schopenhauers Worte zu gebrauchen - als Resultat Ānanda an Gotama und an seiner eigenen Legendenerzählung irre macht. Dies alles unter der, allerdings unwahrscheinlichen, Voraussetzung, daß das Sutta echt und nicht vielmehr eine spätere Dichtung ist mit dem Zweck, die inzwischen entstandene Legende durch Eingliederung in das Suttapitaka nachträglich zu beglaubigen. Ist es aber eine spätere Dichtung, so macht der wirkungsvolle ironische Abschluß der Kunst des Verfassers alle Ehre.
Ein unechtes Buddha-Wort
Buddha soll kurz vor seinem Hinscheiden auf die Frage seines dienenden Begleiters Ānanda, wie sich die buddhistischen Mönche, die Bhikkhus, den Frauen gegenüber verhalten sollen, geantwortet haben: "Nicht anschauen!" Auf die weitere Frage, wie sie sich verhalten sollten, wenn es doch zum Blickewechseln gekommen sei, soll er geantwortet haben: "Keine Unterhaltung beginnen!" Und auf die dritte Frage, was sie tun sollten, wenn es doch zu einem Gespräch gekommen sei: "Besonnenheit bewahren!"
So steht es im Mahāparinibbānasutta, dem großen Bericht über die letzte Lebenszeit und den Tod Buddhas. Die Stelle ist unecht, eine Einschiebung aus einer viel späteren Zeit. Das läßt sich beweisen.
Verdächtig ist zunächst der Platz, an dem die Worte stehen. Unmittelbar vorher wird berichtet, wie Buddha auf die Klage Ānandas, daß die Bhikkhus nach dem Parinirvana, dem Hinscheiden, des Vollendeten keinen Sammelpunkt mehr haben würden, die vier Wallfahrtsstätten bezeichnet, an denen fromme Pilger später zusammenströmen werden - seine Geburtsstätte, der Bodhi - Baum, unter dem er zum Erwachen gelangt ist, der Gazellenhain Isipatana bei Benares, wo er seine erste Rede hielt, und der Salawald bei Kusinārā wo er zum Parinirvana einging - und unmittelbar nachher wird berichtet, wie Buddha seine Jünger bittet, sich um die Bestattungsfeier für ihn keine Sorge zu machen, sondern sie den Laien zu überlassen. Diese beiden Gedankenreihen schließen sich zwanglos aneinander, die Anweisung über den Umgang mit Frauen stört den Zusammenhang. Schon dies macht es wahrscheinlich, daß die Stelle nachträglich eingefügt worden ist.
Solche späteren Einschaltungen finden sich gerade im Mahāparinibbānasutta mehrere. (Vgl. "Geschichte und Legende im MPNS" in diesem Buch!) Es wäre also nicht weiter auffällig, wenn auch die Worte über den Umgang mit Frauen späterer Zusatz wären. Daß sie es tatsächlich sind, ergibt sich zweifelsfrei aus einer Untersuchung des Textes. Er lautet:
Katham mayam bhante mātugāme patipajjāmāti. Adassanam ānandā ti. Dassane bhagavā sati katham patipajjitabbanti. Anālāpo ānandāti. ālapantena pana bhante katham patipajjitabbanti. Sati ānanda upatthāpetabbāti.
1. Die Stelle beginnt mit den Worten: "Katham mayam bhante". Mit den gleichen Worten beginnt aber auch der nachfolgende Absatz, in dem der Gedankengang des Vorhergehenden fortgesetzt wird. Ein solcher Gleichklang ist immer verdächtig; er ist so zu erklären, daß in den Zeiten, da der Kanon noch mündlich vom Lehrer auf den Schüler überliefert wurde, ein Thera, ein älterer Bhikkhu, der den Text seinen Schülern zum Auswendiglernen vortrug, durch den Gleichklang verführt, einen ihm von woanders her geläufigen Satz mit den gleichen Anfangsworten wie der richtige hersagte; inzwischen fiel ihm der richtige Satz ein, und er ließ ihn folgen. Die Schüler aber sprachen den nicht an die Stelle passenden Satz nach, behielten alles so im Gedächtnis und trugen es so später, wenn sie selbst Theras geworden waren, ihren Schülern vor. Auf solche Weise können die Worte irrtümlich an diese Stelle geraten sein. Es ist aber auch möglich, daß ein Thera, der, wie z.B. Kassapa, auf übertrieben strenge Ordenszucht hielt, die Worte absichtlich eingeschaltet hat, um sie als Ausspruch Buddhas erscheinen zu lassen und ihnen dadurch höhere Autorität zu verleihen.
2. Wenn sonst Ānanda Buddha eine Frage vorlegt, heißt es im MPNS regelmäßig: "Atha kho āyasmā ānando bhagavantam etad avoca" - "Da sprach der ehrwürdige Ānanda zum Erhabenen alsoî. Dieser Einleitungssatz fehlt hier.
3. patipajjāma ist auffällig. Als Präsens gibt es keinen Sinn, als Imperativ paßt es nicht in den Fragesatz. Es müßte mindestens das Futurum sein: patipajjissāma, richtiger aber wäre das Verbaladjektiv patipajjitabbam, wie in den folgenden Sätzen. Dazu hätte freilich das mayam nicht gepaßt, und ohne das mayam hätte man das Stück nicht so leicht hier einschieben können.
4. Ānanda redet Buddha im MPNS stets mit bhante "Herr" an, hier aber findet sich der Vocativ bhagavā "Erhabener". Diese Anrede kommt sonst im ganzen MPNS nicht vor!
5. ālapantena ist Instrumentalis, während hier ein Locativ stehen müßte. Die Verwechslung des Instrumentalis mit dem Locativ ist im jüngeren Pali sehr häufig, aber in der älteren Sprache, in der das MPNS abgefaßt ist, äußerst selten.
6. ālapantena gehört auch seiner Flexion nach der jüngeren Sprache an. Die Beugung der Partizipien präsentis nach der a-Deklination kommt zwar auch im Kanon schon vor, aber m. W. nur im Nominativ und Accusativ. Im MPNS müßte man hier jedenfalls erwarten: ālapatā (Instr.) oder besser ālapati (Loc.).
Wenn nur eines dieser Verdachtsmomente allein vorkäme, könnte man es auf ein Versehen in der Überlieferung zurückführen und darüber hinwegsehen, in ihrer Gesamtheit aber reichen sie vollauf hin, um die an Gewißheit grenzende Wahrscheinlidhkeit zu begründen, daß die Stelle unecht ist. Sie ist von einem Anhänger einer weiberfeindlichen, extrem asketischen Sekte eingeschmuggelt worden, und zwar erst ziemlich lange nach der ursprünglichen Redaktion des MPNS, zu einer Zeit, als sich die Sprache schon gewandelt hatte.
Buddha hat nie so gesprochen. Wie er von dem weiblichen Geschlecht wirklich redete, ist sehr schön in dem nicht zum Pali-Kanon gehörenden sanskritischen Sutra der 42 Teile überliefert, das Karl Seidenstücker nach der chinesischen Version in seinen "suddhistischen Evangelien" mitteilt. Der Ausspruch lautet dort:
"Redet ihr mit einer Frau, so tut es in Herzensreinheit. Sprecht zu euch selbst: ,In diese sündige Welt gestellt, will ich der fleckenlosen Lilie gleichen, die unberührt bleibt von dem Morast, in dem sie wächst.' Ist die Frau alt, betrachtet sie als eure Mutter. Ist sie eine würdige Matrone, betrachtet sie als eure Schwester. Ist sie von niedriger Herkunft, betrachtet sie als eure jüngere Schwester. Ist sie ein Kind, behandelt sie fein und höflich."
Das ist, wenn vielleicht auch nicht genau dem Buchstaben nach, so doch gewiß dem Geiste nach, echtes Buddhawort.
[Auch wenn dieser Text laut Kurt Schmidt nachträglich eingefügt worden sein soll, was ja auch nur eine Vermutung ist, so ist er dennoch absolut zutreffend. Die Reize einer Frau stellen eine Gefahr für einen Mönch dar, wie es so schön in der ersten Rede im Anguttara Nikaya (A.I.1) geschildert wird. Deshalb wollte der Buddha ursprünglich keinen Nonnen Orden gründen und erst auf mehrmaliges Bitten von Ānanda liess er sich dazu erweichen.]
In frühbuddhistischer Zeit, in der der Pali-Kanon entstand, trat im Denken der Buddhisten die Person des Meisters hinter seiner Lehre zurück. Was im Pali-Kanon über Buddha mitgeteilt wird, reicht gerade aus, um eine Vorstellung von dem Charakter und der geistigen Bedeutung des großen Weisen zu geben, um seine Heimat, seinen Wirkungskreis und seine Umgebung erkennen zu lassen; der äußere Verlauf seines Lebens aber wird nur in zwei, allerdings in den beiden wichtigsten Perioden geschildert: in der Zeit von der Bodhi bis zur Gründung der Gemeinde und in den letzten Monaten vor seinem Tode.
Der erste Bericht findet sich im Vinaya-Pitaka, der zweite im Sutta-Pitaka, im 16. Stück des Dīgha-Nikaya, das den Namen Mahāparinibbānasutta (MPNS) führt.
Wenn dieses, wie die Überlieferung behauptet, bald nach dem Hinscheiden Buddhas verfaßt, das heißt: in mündlichem Vortrag festgestellt und von den Schülern auswendig gelernt worden ist, so muß es die verhältnismäßig zuverlässige Kunde von den letzten Lebensabschnitten Buddhas, von den Vorgängen bei seinem Tode und von seiner Bestattung bewahrt haben. In der Tat besteht kein Grund, daran zu zweifeln, daß das MPNS geschichtliche Wahrheit enthält. Zutreffend sagt Geiger (Pali Literatur und Sprache, Seite 8): "Man kann doch z.B. das MPNS nicht lesen ohne den Eindruck, daß hier wirkliche Erinnerungen an die letzten Tage des Meisters vorliegen." Es ist aber ebenso gewiß, daß vieles im MPNS Dichtung, Legende, jüngere Zutat ist. In der Gestalt, in der das MPNS dem Pali-Kanon einverleibt worden ist und uns jetzt vorliegt, ist es ein Werk, an dem mehrere Generationen, vielleicht mehrere Jahrhunderte gearbeitet haben. Neben ganz alten, schlichten und nüchternen Berichten, die den Stempel der Ursprünglichkeit tragen, stehen unvermittelt allerlei Wundergeschichten und Mythen, die zwar alt sein mögen, aber Erzeugnisse der Phantasie sind, sowie Lehrsätze und Vorschriften, die erst nach dem Tode Buddhas entstanden sein können und die man Buddha in den Mund legte, um dadurch ihre Autorität zu erhöhen. Endlich begegnet man hier einigen Textstücken, die in anderen Teilen des Kanons vorkommen und die, sei es irrtürmlich, sei es aus Gründen des literarischen Geschmacks, in das MPNS hinübergenommen worden sind.
Nicht immer läßt sich sicher entscheiden, welcher dieser Gruppen die einzelnen Abschnitte zuzuzählen sind, im großen Ganzen aber ist es doch möglich, den geschichtlichen Kern aus dem Rankenwerk der Legende und der sonstigen Beigaben herauszulösen.
Wertvolle Hilfe kann hierbei das Buddhacarita (BC) des Asvagosha leisten. Von diesem Epos ist zwar gerade der Teil, der dem MPNS entspricht, bis jetzt nicht in seinem Sanskrit-Urtext, sondern nur in der chinesischen Übersetzung "Fo so hsing t'san ching" (1) des Dharmaraksha aus dem 5. Jahrhundert nach Chr. bekannt, aber auch in dieser Gestalt zeigt es so viel Übereinstimmung mit der Pali-Tradition, daß eine Vergleichung beider gute Dienste leisten kann.
Im BC (deutsche Übersetzung von Th. Schultze, "Buddhas Leben und Wirken", Leipzig, Reclam) ist deutlich zu erkennen, daß mit dem 22. Kapitel die dichterische Umgestaltung eines älteren Werkes beginnt, das eine frühere Form des MPNS gewesen zu sein scheint. Im ersten Vers dieses Kapitels tritt zum ersten Mal das Wort 'nieh p'an (2) = Nirvāna im Sinne des Parinibbāna unseres Pali-Textes auf, und der Bericht beginnt mit der Wanderung Buddhas von 'wang shÈ ch'Èng' (3) = Stadt Königshausen - was die wörtliche Übersetzung von Rājagaha (Pali) und Rājagrha (Sanskrit) ist - nach 'pa lien fu i' (4) = Pātaliputra, dem im MPNS das Dorf Pātaligāma entspricht. In beiden Werken wird übereinstimmend die Erinnerung daran festgehalten, daß dieser Ort gerade damals, in den letzten Lebenstagen Buddhas, durch Beauftragte des Königs von Magadha zu einer befestigten Grenzstadt (dem späteren Pātaliputta oder Pātaliputra, von den Griechen Palibothra genannt, heute Patna) ausgebaut wurde und daß Buddha die künftige Größe der Stadt mit dem Hinweis darauf, daß Geister den Ort beschützten, voraussagte; ferner daß das Stadttor, durch das Buddha die Stadt betrat, den Namen Gotama-Tor = Chü t'an mÈn (5) und die Furt, auf der er den Ganges überschritt, den Namen Gotama-Furt = Chü t'an chin (6) erhielten. Beide Werke berichten hier auch über eine Wundertat Buddhas, die Überschreitung des Flusses ohne Boot und Floß. Asvagosha bemerkt hierzu, dies sei ein Sinnbild der Überfahrt im Boot der Weisheit über den Strom des Daseins, während das MPNS hier ein Udāna, einen Ausspruch Buddhas bewahrt hat:
"Die Flut, die wogende, zu überschreiten,
Erbaut man Dämme, Sümpfe einzukreisen,
Wogegen andre sich ein Floß bereiten.
Hinüber kommen ohne dies die Weisen."
Wenn der Sinn dieses dunklen Spruchs der ist, daß der Weise keiner äußeren Hilfsmittel bedarf, um die Fluten des Samsāra zu kreuzen und zum Nirvana zu gelangen, so lag es nahe, das Wort umzudeuten in die Wundertat der leiblichen Überschreitung des Ganges, und man stieß sich nicht an dem Widerspruch, der darin liegt, daß unmittelbar vorher von einer Furt (tittha, chinesisch = chin (7) die Rede ist, auf welcher Buddha ohne Boot und Floß das andere Ufer erreichen konnte.
Im MPNS werden der auch aus anderen Stellen des Pali-Kanons bekannte Name des damaligen Königs von Magadha, Ajātasattu Vedehiputta, und die Namen seiner die Festung Pātaliputta bauenden Minister Sunīdha und Vassakāra genannt. Die Namen fehlen in der chinesischen Fassung des BC. Das MPNS ist hier auch insofern genauer als das BC, als es den Anlaß zur Befestigung jener Grenzstadt andeutet: Es besteht eine politische Spannung zwischen Magadha und dem Staat der Vajjī, der bei Pātaligāma an Magadha grenzt. König Ajāasattu trägt sich mit der Absicht, einen Krieg gegen die Vajjī zu führen, und läßt durch seinen Minister Vassakāra Buddha um seine Meinung über die Aussichten eines solchen Krieges befragen. Diese Befragung, mit der das MPNS beginnt, soll auf dem Geierberg bei Rājagaha stattgefunden haben, bevor Buddha seine letzte Wanderung antrat. Asvagosha erwähnt hiervon nichts. Trotzdem könnte das MPNS hier eine geschichtliche Tatsache festgehalten haben. Dagegen sprechen aber zwei Umstände: einmal die auffällige Wiederkehr des Namens Vassakāra bei der Unterredung auf dem Geierberg und bei dem Festungsbau bei Pātaligāma. Wenn wirklich derselbe Minister Vassakāra, der Buddha um Rat gefragt hatte, nachher in Pātaligāma wieder auftaucht, so muß man bei der sonstigen Ausführlichkeit und Umständlichkeit des Berichts erwarten, daß wenigstens mit einigen Worten erwähnt wird, wie er dort hingekommen ist. Es kommt im MPNS mehrmals vor, daß je zwei Personen, die den gleichen Namen führen, kurz nacheinander auftreten: Cunda der Schmied und Cunda der Bhikkhu, Subhadda der letzte Jünger und Subbhada der Abtrünnige. Solche Wiederholungen legen immer den Verdacht nahe, daß Gedächtnisfehler unterlaufen seien. Vielleicht war Vassakāra nicht ein Minister, sondern der Bote des Königs von Magadha, der nach Asvagoshas Bericht dem Verwalter des Bezirks Pātaligāma den Befehl zur Befestigung des Ortes überbringt, und vielleicht war vorher derselbe Bote zu Buddha geschickt worden.
Ein zweiter Umstand, der die Geschichtlichkeit des Besichts über die Befragung Buddhas zweifelhaft erscheinen läßt, ist die eigentümliche Verknüpfung der Antwort mit einer langen Rede Buddhas an seine Jünger über fünfmal sieben und sechs "aparihāniyā dhammā", "Bedingungen für das Gedeihen der Gemeinde", genauer "Bedingungen für die Verhütung eines Niedergangs". Für sich allein betrachtet, würde es nicht unwahrscheinlich sein, daß Buddha, nachdem er sieben Gründe angeführt hatte, weshalb ein Krieg gegen die Vajjī keinen Erfolg verspreche, im Anschluß hieran eine gleichfalls in Gruppen von je sieben Ermahnungen geteilte Lehrrede an seine Jünger hielt. Da wir aber im MPNS öfter solchen Anknüpfungen leicht erkennen läßt, daß es sich hierbei um spätere Zusätze handelt, so werden wir annehmen müssen, daß dies die literarische Manier eines späteren Überarbeiters war, und auch diese Häufung von je sieben, zuletzt sechs, aparihāniyā dhammā auf die Rechnung jenes Erweiterers zu setzen haben. (Die ganze Rede findet sich auch in A VII, 20-30.)
Wenn die Antwort Buddhas und seine Rede an die Jünger in der älteren Fassung enthalten gewesen wären, würde sich Asvagosha, der es liebte, sein Epos mit eingelegten Reden Buddhas zu schmücken, diese gewiß nicht haben entgehen lassen. Daraus folgt jedoch nur, daß die Rede ursprünglich nicht im MPNS stand, nicht, daß sie nicht trotzdem echtes Buddhawort sei. Sie mag gut überliefert sein, aber sie ist an einen falschen Platz geraten.
Ebenso verhält es sich mit dem Bekenntnis Sāriputtas, das im MPNS nach drei kurzen, formelhaften Absätzen auf die aparihāniyā folgt. Daß dieses Stück in dem gleichen Wortlaut und mit der gleichen Ortsangabe - bei Nālandā im Pāvārika-Mangowald - in D XVIII noch einmal vorkommt, braucht für sich allein noch keinen Verdacht der späteren Einfügung zu erwecken. Es drängt sich aber die Frage auf: Wo bleibt Sāriputta, der doch neben Mahāmoggallāna als der vornehmste Jünger Buddhas gilt, im weiteren Verlauf der letzten Wanderung des Meisters? Kann man glauben, daß er plötzlich die Fühlung mit dem greisen Buddha so vollständig verliert, daß er von dessen späterer Erkrankung nichts erfährt und beim Parinirvana nicht zugegen ist? Wenn er sein Bekenntnis zu jener Zeit abgelegt hätte, von der das MPNS handelt, so müßte er einen triftigen Grund gehabt haben, um sich fortan dauernd von Buddha fernzuhalten, und der Berichterstatter würde gewiß nicht unterlassen haben, diesen Grund zu nennen. Nun, wir kennen den Grund, weshalb Sāriputta im MPNS nicht weiter erwähnt wird: er war schon gestorben, bevor Buddha die letzte Wanderung antrat. In S 47.13 wird berichtet, daß er in Nālagāmaka im Lande Magadha starb, während sich Buddha im Jetahain bei Sāvatthī aufhielt. (Vgl. "Buddhistische Heilige", S. 34.) Freilich ist die Zeitangabe so unbestimmt wie nur denkbar, und auch mit der Ortsangabe ist nicht viel anzufangen. Mögen sie nun richtig oder falsch sein, die Tatsache scheint doch in der Erinnerung der alten Gemeinde festgestanden zu haben, daß Buddha seine beiden vornehmsten Jünger überlebt hat. Da aber ein für die Gemeinde so wichtiges Ereignis wie der Tod Sāriputtas sicherlich im MPNS erwähnt worden wäre, wenn es in die Berichtszeit gefallen wäre, so folgt daraus mit Sicherheit, daß das Bekenntnis Sāriputtas hier am unrechten Platz steht.
Zur Verlängerung und Ausschmückung des Berichts ist wahrscheinlich auch die Rede an die Bürger von Pātaligāma über die fünffachen Folgen sittlichen und unsittlichen Lebenswandels später eingefügt worden. Ihre Echtheit als Ausspruch Buddhas soll damit nicht bezweifelt werden. Sie findet sich im gleichen Wortlaut auch in A V, 213, wohin sie offenbar gehört, und ist eigentlich gar keine Rede, sondern eine Disposition für eine Rede oder eine Sammlung von Denksprüchen.
Von dem ersten Kapitel des MPNS bleibt hiernach an geschichtlichem Stoff nichts weiter übrig, als was den 1735. bis 1746. Vers des BC entspricht.
Eine kurze Bemerkung verdient jedoch noch die Gāthā "Yasmim padese", mit welcher Buddha den Ministern Sunīdha und Vassakāra für die Bewirtung gedankt haben soll. Sie lautet:
"An seinem Wohnort nehm' ein kluger Mann
Sich aller Sittenreinen, Frommen an
Und opfre auch den Geistern, die dort wohnen!
Sie werden ihn zum Dank dafür belohnen
Und lieben, wie nur eine Mutter lieben kann.
Wen Geister lieben, dem gelingt sein Plan."
R O. Franke gleitet (in seinem Dighanikaya, Seite 192) leicht darüber hinweg mit der Bemerkung: "Es wäre naiv, in solchen den Götterkult empfehlenden Versen echtes Buddhawort sehen zu wollen." So einfach ist die Sache nicht abzutun. Auch die von Dutoit gebilligte Erklärung Rhys Davids', mit den Gottheiten oder Geistern seien eben die Heiligen, die sich selbst Bezwingenden, gemeint, scheint mir nicht das Richtige zu treffen. Ist es denn überhaupt wahr, daß Buddha die Verehrung der Götter und Geister schlechthin verworfen hat? An welcher Stelle des Kanons findet sich ein Wort Buddhas, das diesen Sinn hat?
Abgelehnt und verworfen hat Buddha nur den Glauben, daß Götterverehrung zur Erlösung vom Leiden des Samsāra, zur Erreichung des Nirvana etwas beitragen könne. Im übrigen aber hat er die Pflege alter frommer Bräuche, die Darbringung von Spenden und Opfern für Gottheiten und für Verstorbene nicht nur nicht verboten, sondern ausdrücklich empfohlen, so in D XXXI, 28 (Singālovādasutta) und im MPNS selbst, I, 4, bei den sieben Bedingungen für das Gedeihen der Vajjī. Für den Buddha waren die Devas, die Gottheiten oder Geister, die den Engeln der Christen, Juden und Moslem entsprechen, ebenso real wie die Menschen. In Pātaligāma, wo seine Gastgeber die Festungswerke errichteten, hatte er sie gesehen. Wir dürfen annehmen, daß die Bauaufseher nicht minder von der Existenz der Devas überzeugt waren, wie auch davon, daß es in der Hand dieser Wesen liege, den Bau zu fördern oder zu hindern. Was lag also näher, als daß Buddha den Bauaufsehern empfahl, nachdem sie ihn und seine Gemeinde gespeist hatten, auch den Devas eine Gabe darzubringen? Es handelt sich hier ja nicht um ihr eigenes Heil, sondern um das Gelingen eines Bauwerks. Ich sehe hiernach keinen Grund, die Echtheit der Gāthā anzuzweifeln.
Auch das zweite Kapitel des MPNS findet sich Punkt für Punkt im BC wieder: Buddha wandert nach Kotigāma, dem Dorf Koti, wofür in der chinesischen Übersetzung des BC Chiu-li (8) steht, hält hier eine Rede über die vier edlen Wahrheiten - die Rede wird auch im BC erwähnt, aber nicht ihr Inhalt -, gelangt dann nach Nādikā - im BC Na-t'i (9) -, wo er auf Befragen Auskunft gibt über das jenseitige Schicksal der dort verstorbenen Bhikkhus und Laienanhänger. Von dort zieht er weiter nach Vesālī - im BC Ping-shÈ-li (10) -zum Mangohain der Hetäre Ambapālī - im BC Anlo (11). Bei der Begegnung Buddhas mit der Ambapālī benutzt Asvagosha die Gelegenheit, um ihn eine lange Rede über die Gefahren der Frauenschönheit halten zu lassen, die im MPNS fehlt. Sie ist wahrscheinlich ein von Asvagosha frei erfundenes Zierstück seines Gedichts, ebenso wie die Ansprache an die Ambapālī, die im MPNS nur mit einer stereotypen Formel erwähnt wird. Im BC schenkt Ambapālī Buddha ihren Mangohain bei dieser Begegnung, während sie ihn im MPNS erst mit den Bhikkhus auf den folgenden Tag zum Mahl einladet und ihm dort den Hain zum Geschenk macht. Daß Buddha ihre Einladung annahm und deswegen die etwas später kommende Einladung der Licchavī, der Ratsherren von Vesālī, ablehnte, die darüber ungehalten waren, wie in beiden Berichten im wesentlichen übereinstimmend erzählt wird, darf als geschichtliche Tatsache betrachtet werden. Beide Texte haben auch die Erinnerung daran festgehalten, daß Buddha nun die dreimonatige Regenzeit bei Beluva - P'i-niu (12) - hielt und darauf noch einmal nach Vesālī zurückkehrte. Das MPNS berichtet hier noch, daß Buddha in Beluva erkrankte und Ānanda ihn nach seiner Wiedergenesung um eine letzte Anordnung für die Bhikkhugemeinde, den Mönchsorden, bat, die Buddha ablehnte, indem er er klärte, er habe nichts aufgespart oder geheimgehalten, habe deshalb nichts mehr anzuordnen; wenn er gestorben sein werde, sollten die Bhikkhus sich selbst Rettung und Zuflucht sein oder die Lehre als ihre Rettung und Zuflucht betrachten.
Im BC fehlt die Erkrankung und das Gespräch mit Ānanda. Diese Abweichung könnte einen besonderen Grund haben. Man weiß, daß sich die Vertreter des Theravāda, zu denen vor allem die Hüter der Pali-Tradition gehören, gerade auf diesen Ausspruch Buddhas berufen, um zu beweisen, daß es keine Geheimlehre, keinen esoterischen Buddhismus gebe, während die Mahāyanisten, auf deren Seite Asvagosha steht, das Gegenteil behaupten. Ihm muß also daran liegen, das fragliche Gespräch zu verschweigen, auch wenn es in der ihm vorliegenden Fassung des Berichts enthalten war, wie umgekehrt auch_ mit der Möglichkeit gerechnet werden muß, daß die Stelle in den Pali-Bericht später eingefügt wurde, um die These des Theravāda zu stützen. Aus dem Schweigen Asvagoshas kann also ebensowenig gefolgert werden, daß die Stelle unecht sein müsse, wie ihr Vorhandensein im MPNS ohne weiteres ihre Echtheit beweist. Wer aber den Pali-Bericht ohne Voreingenommenheit liest, wird sich kaum dem Eindruck entziehen können, daß hier ein wirklichles Geschehnis erzählt wird. Die Krankheit des Meisters, die Besorgtheit seines treuen Ānanda um ihn, dessen Frage und die Antwort Buddhas reihen sich ungezwungen aneinander, und das Ganze paßt gut in das Gesamtbild, während solche Stellen, die wir als spätere Zusätze erkannt haben oder noch erkennen werden, den Fortgang der Erzählung hemmen und wie Fremdkörper lose eingefügt sind. Man wird darum diese Episode unbedenklich als geschichtlich gelten lassen und annehmen dürfen, daß Asvagosha sie verschwiegen hat.
Zu dem umgekehrten Ergebnis führt eine Untersuchung des Abschnitts über den "Spiegel der Lehre" (Dhammādāsa), der im MPNS hinter der Auskunft Buddhas über das jenseitige Schicksal der verstorbenen Anhänger in Nādikā steht und im BC fehlt. Schon die Umständlichkeit, mit der im MPNS gerade zwölf Namen von Verstorbenen genannt und für jeden einzelnen das Fazit seines Wandels gezogen wird, deutet auf jüngeren Ursprung hin. Der Dhammādāsa selbst macht vollends den Eindruck einer von der Bhikkhugemeinde und nicht von Buddha aufgestellten Bekenntnisformel. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß Buddha selbst die Huldigungsworte vorgeschrieben habe, mit denen seine Anhänger seiner gedenken sollten. Außerdem werden in dieser Formel zwei grundverschiedene Begriffe einander gleichgesetzt: der Sāvakasangha als die unsichtbare, im Geistigen liegende "Gemeinschaft der Heiligen" und die sichtbare, auf gläubige Anerkennung und Verpflegung durch die Laienanhänger angewiesene Bhikkhugemeinde. Daß Buddha diesen logischen Schnitzer begangen haben sollte, wird niemand im Ernst glauben. Dagegen lag es für die Bhikkhus sehr nahe, ihm diesen Ausspruch anzudichten, um die Laien zu eifrigem Spenden anzuspornen.
Im dritten Kapitel gelangen wir zu der Versuchung Buddhas durch Māra, die mit dem Verzicht Buddhas auf weitere Lebensdauer endet. Im BC wird diese Geschichte in wenigen Versen einfach und klar erzählt, während Sie im MPNS außerordentlich weitschweifig und mit allerlei nicht hierher gehörigen Einlagen in die Länge gezogen ist.
Schon Windisch hat in seinem Werk "Mara und Buddha" (Leipzig 1895) darauf hingewiesen, daß die Abschnitte über die acht Stufen der Erlösung "unverkennbar spätere Zusätze" sind (Seite 87). Die Aufzählung der acht Versammlungen findet sich mit denselben Worten im D XXXIII, wo auch die acht Stufen des Überwindens und die acht Stufen der Erlösung darauf folgen. In diesem Sutta, in dem eine Art Inventur der Buddhalehre nach der Reihenfolge der Multiplikatoren aufgemacht wird - z.B. drei Wurzeln des Bösen, vier Aufrichtungen der Achtsamkeit, fünf Hemmnisse, sechs Bewußtseinsgebiete, sieben Vorstufen zum Erwachen, acht Stufen des Überwindens usw. - sind diese Aufzählungen am rechten Platz, im MPNS aber wirken sie fremdartig. Man hat den Eindruck, daß der rezitierende Mönch, als das Stichwort "acht" fiel, irrtümlich in das andere Sutta hineingeriet und nun mechanisch fortfuhr mit dem, was er für jene Stelle auswendig gelernt hatte. Stand aber, wie wir annehmen müssen, das Sutta D XXXIII in seiner heutigen Form damals schon fest, als diese Abschnitte mit den acht Gegenständen in das MPNS abglitten, so muß die weitere Ausschmückung der "acht Versammlungen" im MPNS, übrigens ein ziemlich plumper Versuch zur Verherrlichung Buddhas, eine noch jüngere Beigabe sein, denn sie fehlt in der Parallelstelle.
Daß auch die vorhergehende Māra-Geschichte in der Form, in der wir sie im MPNS finden, nicht ursprünglich ist, hat Windisch gleichfalls wahrscheinlich gemacht. Er vergleicht sie mit den entsprechenden Sanskritversionen im Divyāvadāna und im Lalitavistara und kommt dabei zu folgendem Ergebnis: "Auch den Wiederholungen gegenüber . . . scheint mir der Sanskrittext wenigstens teilweise ein älteres Verfahren wiederzugeben . . . Ich kann nicht glauben, daß diese verwirrende Umständlichkeit schon in der ersten Form dieser Geschichte vorhanden gewesen ist, und möchte vermuten, daß das Divyāvadāna hier den einfacheren Stil einer älteren Textform gewahrt hat. Das ist um so wahrscheinlicher, als auch der Lalitavistara an der entsprechenden Stelle . . . diese Wiederholungen nicht hat."
Nimmt man mit Windisch an, daß die Māra-Geschichte in der vorliegenden Form erst in späterer Zeit entstanden ist, so bleibt noch zu untersuchen, ob ihr nicht ein geschichtlicher Vorgang zugrunde liegt und welcher Art dieser gewesen sein mag. Dabei ist von der wohlbegründeten Ansicht Windischs auszugehen, daß sich Buddha einer poetischen Ausdrucksweise bediente, indem er den Tod personifizierte und von Māro Pāpimā sprach, und daß nach Buddhas Tode solche Sätze und Verse wörtlich genommen und zu Legenden verwendet wurden. "Da Buddha in seiner Lehre oft so gesprochen hat, an vielen Orten, so wurden daraus Zurückweisungen von wiederholten Angriffen Māras." (Windisch, Seite 213)
Hiernach wird man das Richtige treffen, wenn man den Anfang der Begebenheit, die im dritten Kapitel des MPNS erzählt wird, im 34. Absatz sucht: Der Buddha teilt Ānanda mit, daß er beim Cāpāla-Cetiya den Entschluß gefaßt hat, den Lebens-Sankhāra, das heißt die den Lebensprozeß bewirkende organisierende Vorstellung, aufzugeben, und zwar kleidet er diese Mitteilung in die Form einer Māra-Erzählung. Māra der Böse habe ihn aufgefordert, jetzt aus dem Leben zu scheiden, nachdem er sein Lebenswerk zu Ende geführt habe, und er, Buddha, habe jenem erwidert, daß er in drei Monaten scheiden werde. Jetzt bittet Ānanda Buddha, doch länger am Leben zu bleiben. Daß er diese Bitte sehr nachdrücklich vorbringt, wird, wie dies gewöhnlich im Kanon geschieht, durch dreimalige Wiederholung ausgedrückt. Buddba weist ihn ab mit der Frage, ob er an die Bodhi, das Erwachen, des Vollendeten glaube. Der Sinn ist wohl der, daß Buddha, weil im Besitz der Bodhi, kein Verlangen nach Verlängerung des Lebens haben könne. Darauf begrundet Ānanda seine Bitte mit dem von früher her bekannten Ausspruch Buddhas (der in D XXVI, 28 aufbewahrt ist), daß, wer im Besitz übersinnlicher Kräfte sei, sein Leben über ein Weltalter erstrecken könne. Was hat Buddha darauf erwidert? Sicherlich nicht das, was an dieser Stelle im MPNS überliefert wird: "So ist es eben dein Fehler, Ānanda, dein Versehen, daß du den Vollendeten nicht batest, ein Weltalter lang am Leben zu bleiben. . . Diese Antwort mit ihren maßlos gehäuften Wiederholungen ist ebenso wie der an die vorhergehende Erwähnung des Erdbebens anknüpfende angebliche Ausspruch Buddhas über die acht Ursachen von Erdbeben mönchische Zutat aus jüngerer Zeit. Das Erdbeben selbst, das heißt die Feststellung, daß in dem Augenblick, da Buddha den Lebens-Sankhāra aufgab, die Erde furchtbar bebte und der Donner rollte, scheint zum alten gestande der Überlieferung zu gehören; denn sie findet sich auch im BC. Dieses Erdbeben ist offenbar ein innerer Vorgang: für Buddha, in seinem Bewußtsein, bebte die Erde. Erst spätere Überarbeiter haben daraus einen äußeren Vorgang gemacht, ein für andere wahrnehmbares Erdbeben, indem sie erzählten, daß Ānanda sich über das Erdbeben gewundert und Buddha nach dessen Ursache gefragt habe.
Lassen wir diese lange Einschiebung weg, so gelangen wir zu der wirklichen Antwort Buddhas. "Na nu evam Ānanda. . ." "Habe ich nicht früher schon erklärt, daß man von allem, was einem lieb und angenehm ist, sich einmal trennen und Abschied nehmen muß? . . ." Dieser Ausspruch (der nicht etwa so aufzufassen ist, daß Buddha noch etwas "lieb und angenehm" sei, sondern so, daß Ānanda sich mit der Trennung von dem, was ihm lieb und angenehm ist, abfinden müsse) würde sich durchaus sinngemäß an Ānandas Begründung seiner Bitte anschließen. In BC ist der Hergang insofern noch einfacher, als dort der Hinweis Ānandas auf die übersinnlichen Kräfte fehlt. Dafür entfaltet Asvagosha seine Kunst in der rhetorischen Ausschmückung der Worte Ānandas und Buddhas.
Bei der hier vorkommenden Gāthā, die übrigens mit dem ganzen vorhergehenden Bericht auch in Udāna VI, 1 steht, zeigt sich wieder, daß Asvagosha eine ältere und offenbar bessere Fassung kannte als die Pali-Tradition, und zwar hier dieselbe, die im Divyāvadāna (208) überliefert ist. Der Pali-Text enthält hier wahrscheinlich einen Fehler, auf den schon Windisch (Māra und Buddha, S. 37) aufmerksam gemacht hat. Nach dem MPNS besagen die Verse:
"Verzichtet hat der Weise auf das Leben
Von jeder Art und auf den Lebenstrieb;
Gesammelt, freudig hat er's aufgegeben.
Als ob er einen Panzerrock zerhieb."
Dagegen heißt es im Divyāvadāna:
"Verzichtet hat der Weise auf das Leben
Von jeder Art und auf den Lebenswillen;
Gesammelt, freudig hat er's aufgegeben,
Gleichwie das Hühnchen bricht des Eies Hüllen."
(Im Pali: "kavacam iv'attasambhavam" = wie einen Panzer das Dasein, das Werden des Selbst; im Sanskrit: "kosam iv'āndasambhavaha = wie der im Ei Entstandene - d.h. der Vogel - die Eischale. Diesem entspricht Wort für Wort die chinesische Übersetzung des BC: "ju niao po luan shÈng". (13)
Nach dem letzten Blick Buddhas auf Vesālī, den auch Asvagosha verzeichnet, findet sich in beiden Werken eine Rede Buddhas über den Prüfstein der echten Überlieferung, und zwar im wesentlichen gleichlautend. Daraus folgt, daß diese Rede schon in der älteren Fassung enthalten gewesen sein muß, und man braucht nicht zu bezweifeln, daß sie in ihrem wesentlichen Inhalt echt ist. Merkwürdigerweise enthält sie aber sowohl im MPNS als auch im BC zwei Worte, die unmöglich von Buddha in diesem Zusammenhang gesprochen worden sein können - im Pali: Vinaya und Sutta, in der chinesischen Übersetzung des BC: shÈn lü i (14) und hsiu to lo (15) = Vinaya und sūtra -; denn sie setzen das Vorhandensein eines abgeschlossenen Kanons voraus, der zu Lebzeiten Buddhas noch nicht bestanden haben kann. Die ältere Fassung des Berichts, die den beiden Werken zugrunde liegt, kann also nicht unmittelbar nach dem Tode Buddhas festgestellt worden sein, sondern frühestens nach jenem Konzil, auf dem der Kanon wenigstens in seinen Grundzügen geordnet wurde. Gerade die Übereinstimmung des MPNS mit dem BC in diesem Punkt ist ein wichtiger Beweisgrund dafür, daß die fromme Fälschung schon sehr früh begonnen hat.
Während in der Māra-Geschichte die Tendenz erkennbar ist, Ānanda anzuklagen, verrät das nächste Kapitel bei der Geschichte vom letzten Mahl Buddhas deutlich das Bestreben, den Schmied Cunda von dem Vorwurf, den Tod Buddhas verschuldet zu haben, zu entlasten. Diesem Zweck dient zunächst der Buddha in den Mund gelegte Satz: "Yan te cunda s˙karamaddavam. . ." "Das Eberweich setze mir vor, den Bhikkhus aber die anderen Speisen." Dadurch wird dem Schmied Cunda die Verantwortung abgenommen und zugleich die einer späteren Generation anstößige Schlußfolgerung abgeschnitten, der "allwissende" Buddha hätte eine giftige Speise genossen, ohne diesen Charakter der Speise vorher erkannt zu haben. Es ist aber schlechterdings nicht einzusehen, warum Buddha, wenn er die Gefährlichkeit der Speise erkannt hatte und seine Bhikkhus vor deren Genuß bewahren wollte, sich selbst wissentlich der Gefahr der Vergiftung ausgesetzt haben sollte. Oder soll man annehmen, daß er sie nicht zurückweisen wollte, weil sie ihm in frommer Absicht dargereicht wurde? Ist aber dieser Ausspruch, wie mir scheint, unecht, so ist damit auch dem Folgenden bis zum Schluß des Absatzes der Boden entzogen. Als geschichtliche Tatsache bleibt hiernach nur übrig, daß Buddha sein letztes Mahl vom Schmied Cunda erhielt, daß sich unter den dargebotenen Speisen auch s˙kara-maddava befand (was nach Seidenstücker, "Udāna", Seite 128, vermutlich ein Mischgericht, eine Art Ragout, war) und daß Buddha nach dem Genuß dieser Speise erkrankte, sich aber schnell wieder ein wenig erholte und seine Wanderung nach Kusinārā fortsetzte. Mit anderen Worten: der wirkliche Hergang war so, wie ihn die dem Prosabericht eingefügten Verse kurz und drastisch darstellen:
"Nach dem Mahl - so hab' ich sagen hören -,
Das ihm Cunda gab, der Schmied,
erkrankte Schwer der Weise,
Schmerzen mußt' er leiden,
Und es schien, als sei das Ende nahe.
Weil er das Eberweich aß,
Überfiel schwere Krankheit den Meister,
Abführend noch rief er aus:
Geh'n wir zur Stadt Kusinār!"
Am Schluß des Kapitels wird noch einmal auf die Sache zurückgegriffen und berichtet, Ānanda habe von Buddha selbst die Weisung erhalten, für Cundas Unschuld zu zeugen. Eine solche Weisung, die allerdings im BC fehlt, mag Buddha wohl gegeben haben, aber gewiß nicht mit den Worten, die das MPNS überliefert hat. Daß Ānanda selbst der Verfasser dieses Absatzes sei, ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil darin ein Verstoß gegen die Etikette vorkommt, der dem korrekten Ānanda nicht zuzutrauen ist. Der Schmied Cunda wird hier nämlich sechsmal hintereinander āyasmā "Ehrwürden" genannt, als ob er ein Bhikkhu wäre. Er wird also mit dem Bhikkhu Cunda oder Cundaka verwechselt, von dem kurz vorher die Rede ist. Bei den Augenzeugen ist solche Verwechslung ausgeschlossen, sie lag aber sehr nahe bei einer späteren Generation, die mit den Namen keine anschauliche Erinnerung mehr verknüpfen konnte.
Zwischen die beiden Stellen, die vom Schmied Cunda handeln, schieben sich mehrere Episoden ein, die deutlich als Legendendichtung zu erkennen sind und im BC fehlen: Buddha rastet und bittet Ānanda, ihm Trinkwasser zu holen. Ānanda weigert sich, weil das in der Nähe befindliche Flüßchen durch eine Wagenkarawane, die soeben vorbeigekommen war, getrübt sei, und fordert Buddha auf, an den nicht weit entfernten Fluß Kakutthā zu gehen um dort zu trinken und zu baden. Da Buddha aber auf seiner Bitte beharrt, entschließt sich Ānanda doch, aus dem kleinen Flüßchen Wasser zu holen, und siehe da: es ist jetzt ganz klar. Darin erkennt Ānanda die Wundermacht des Erhabenen.
Das Stichwort "Wagenkarawane" aus dem "Wasserwunder" ruft sogleich eine zweite Legende hervor, die in Form eines Zwiegesprächs zwisthen Buddha und dem Malla Pukkusa erzählt wird. Pukkusa, ein Anhänger des Alāra Kālāma, wandert von Kusināra nach Pāva und sieht Buddha unter einem Baum sitzen. Dabei erinnert er sich seines Lehrers Alāra Kālāma, der auch einmal unter einem Baum saß und so tief in Meditation versunken war, daß er von einer vorüberziehenden Wagenkarawane nichts hörte und sah. Das erzählt Pukkusa Buddha, und dieser erwidert ihm, er selbst habe sich noch viel tiefer versenkt, so daß er sogar von einem Blitzschlag nichts merkte, der in seiner Nähe zwei Bauern und vier Ochsen tötete. (Das Erlebnis Buddhas, das dieser Erzählung zugrunde liegt, braucht nicht bezweifelt zu werden. Es ist wohl möglich, daß es seinen Jüngern bekannt war. Soll man aber glauben, daß Buddha es in dieser Situation dem Pukkusa erzählte, um dadurch Alāra Kālāma zu übertrumpfen? Auf Pukkusa macht diese Erzählung einen so tiefen Eindruck, daß er den Glauben an Alāra Kālāma aufgibt, sich zu Buddha bekennt und ihm zwei prächtige Gewänder schenkt. Während das Gespräch erdichtet ist, hat die Schenkung wahrscheinlich stattgefunden, denn sie ist in schlichten, altertümlichen Versen festgehalten worden, die wie die oben erwähnten zu dem ältesten Bestande des Berichts zu gehören scheinen. Sie lauten:
"Goldig glänzende Tücher ein Paar ließ Pukkusa bringen.
In dies Gewand dann gehüllt, strahlte der Meister wie Gold."
Die Tatsache, daß Buddha kurz vor seinem Parinirvana von Pukkusa ein Paar wie Gold glänzende Gewänder geschenkt wurden, gab Anlaß zu einer weiteren kleinen Legende, die auf einer Mißdeutung des zweiten Verses zu beruhen scheint. Der ursprüngliche Sinn ist doch wohl der, daß Buddha in diesem Gewand prächtig aussah. Die Legende deutet das aber so, daß der Leib des Erhabenen nun zu glänzen anfing und den Glanz des Gewandes überstrahlte. So kommt ein neues Wunder zustande, über das Ānanda in der üblichen Weise sein Erstaunen ausspricht, worauf ihm Buddha erklärt haben soll, daß die Hautfarbe eines Vollendeten zu zwei Zeitpunkten überaus hell und strahlend werde, nämlich in der Nacht, in der er zum höchsten Erwachen gelangt, und in der Nacht, in der er zum "erdenrestfreien Nirvanazustand" dahinscheidet.
Man sieht hier deutlich, wie ein einfacher Vorgang durch Umdeutung ins Wunderbare gehoben und zur Legende ausgestaltet wird, die übrigens, wie manche andere Legende, einen Wahrheitskern hat. Es liegt nahe, daß das Parinirvana ganz besonders hehr und verklärt aussah und daß dieselbe Erscheinung auftrat, als er das höcbste Erwachen erlangte. Auch Asvagosha erwähnt, daß Buddhas Leib damals, vor dem Parinirvana, "wie ein Berg Gold erglänzte" - shÍn jo chÍn chin shan (16). Das hat aber sicherlich nichts mit den von Pukkusa geschenkten Tüchern zu tun und wird kaum den Gegenstand eines Gesprächs zwischen Buddha und Ānanda gebildet haben.
Im Anschluß daran soll dann Buddha vorausgesagt haben, daß er im letzten Drittel der kommenden Nacht sterben werde. Hier folgt im Bericht der oben angeführte Doppelvers - auch ein Zeichen dafür, daß das Vorhergehende jüngere Einschaltung ist - und an die Verse schließt sich weiter ein kleines Stück echter Geschichte: Buddha geht mit seinem Gefolge zum Fluß Kakutthā, badet und trinkt, steigt an das andere Ufer und betritt dort einen Mangowald, in dem er sich auf ein ihm von dem Bhikkhu Cundaka bereitetes Lager zur Ruhe niederlegt.
Dieser geschichtliche Teil wird wiederum durch Verse bestätigt:
"Als Buddha zum Kakutthāfluß gelangt war,
Dess' Wasser frisch und rein und klar dahinfließt,
Da stieg der Meister müde in die Fluten,
Tathāgata, dem in der Welt nichts gleichkommt.
Er badete und trank und schritt hindurch,
Umgeben vom Gefolge seiner Jünger.
Der Meister, der Erhabene, der Lehrer
Gelangte dann zum Mangohain, der Seher.
Dort sprach er zu dem Bhikkhu Cundaka:
Leg' mein Gewand zum Lager viergefaltet.
Der legte auf des Selbstbeherrschten Bitte [13]
Geschwind das Kleid vierfach gefaltet nieder.
Der Meister ließ sich müd' auf's Lager sinken,
Und Cunda setzte sich an seine Seite."
Des Versmaßes wegen wird der Bhikkhu Cundaka zum Schluß Cunda genannt. Dadurch wurde beim Rezitieren die Erinnerung an den Schmied Cunda geweckt, und so war der Anlaß zur Einschaltung der schon besprochenen Entschuldigung für den Schmied Cunda gegeben, der im weiteren Verlauf des Gesprächs wiederum mit dem Bhikkhu Cunda verwechselt und āyasmā, "Ehrwürden", tituliert wird.
Den Schluß des vierten Kapitels bildet ein Udānā, ein Ausspruch Buddhas, der echtes Buddhawort sein kann, aber ebenso gut bei irgendeiner anderen Gelegenheit gesprochen sein mag und nichts für die Echtheit des vorhergehenden Dialogs beweist:
"Dem Geber wächst Verdienst allmählich,
Wer sich beherrscht, hört auf zu hassen,
Der Gute wird vom Bösen lassen,
Wer Gier, Haß, Wahn besiegt, wird selig."
Je näher der Bericht dem Parinirvana kommt, um so üppiger entfaltet sich die Legendendichtung, in der die Verehrung der Jünger für den Meister poetischen Ausdruck findet. Da stehen, am Beginn des fünften Kapitels, die Zwillings-Sālabäume in dem Sālawald Upavattana, unter denen sich Buddha zum Sterben niederlegt, in voller Blüte, obwohl es nicht ihre Blütezeit ist, sie überschütten ihn mit Blüten, aus der Luft regnet es himmlische Blumen und himmlisches Sandelpulver, und himmlische Musik ertönt zu Ehren des Vollendeten. Dieses schöne, in der buddhistischen Kunst oft dargestellte Bild wird dadurch noch lebendiger gestaltet, daß Buddha redend eingeführt wird. Er beobachtet das Wunder und knüpft daran die Mahnung für seine Jünger, den rechten Pfad zu wandeln; das sei eine bessere Huldigung für den Vollendeten als jenes Wunder.
Auch die Geister der zehn Welten kommen fast vollzählig heran, um Buddha vor seinem Erlöschen noch einmal zu sehen. Für Ānanda und wahrscheinlich auch für die übrigen Anwesenden sind sie unsichtbar, nur Buddha erkennt sie. Der Bericht erhebt sich hier zu dramatischer Gestaltung. Vor dem liegenden Buddha steht der Bhikkhu Upavāna, der an anderen Stellen des Kanons als einer der dienenden Begleiter Buddhas genannt wird, im MPNS aber sonst nicht vorkommt, und fächelt ihm. Der Meister weist ihn weg. Darüber wundert sich Ānanda und fragt Buddha, warum er Upavāna weggewiesen habe. So bietet sich Buddha ein Anlaß, von den Geistern zu reden, die herbeigeeilt seien und nun murrten, weil der mächtige Bhikkhu vor dem Erhabenen stehe und ihnen die Aussicht versperre.
Asvagosha erwähnt zwar in diesem Zusammenhang die Geister auch, aber nur flüchtig. Wenn ihm die Szene mit Upavāna vorgelegen hätte, würde er sie gewiß in seinem Gedicht mit verwandt haben. Danach scheint es, daß die Anwesenheit der Geister zwar ein Bestandteil der alten Überlieferung war, das Gespräch mit Upavāna aber später hinzugefügt worden ist. Für diese Vermutung spricht auch die Ähnlichkeit der Namen Upavāna und Upavattana. Der Klang Upavattana dürfte einen späteren Überarbeiter verleitet haben, den ihm aus anderen Berichten bekannten Bhikkhu Upavāna hier gewissermaßen als Statisten einzuführen. Die feine, kunstgerechte Art, wie er ihn benutzt hat, um die Anwesenheit der Geister anschaulich darzustellen, zeugt mehr für sein literarisches Geschick als für die geschichtliche Wahrheit der Szene.
Nun verzeichnet das MPNS eine Reihe von Anweisungen, die Buddha für die Zeit nach seinem Parinirvana gegeben habe. Im BC fehlen sie. Die Vermutung liegt nahe, daß man später manches, was sich im Leben des Ordens und der Laienanhänger als frommer Brauch oder als Lehrmeinung herausbildete, hier zusammengestellt hat, um es auf die Autorität Buddhas zu stützen, indem man es dem Meister zuschrieb. Ein Teil dieser Anweisungen mag zwar echtes Buddhawort sein, wenn auch vielleicht nicht zu dem Zeitpunkt gesprochen, bei dem der Bericht hier verweilt.
Die Mahnung, nach den vier im Leben Buddhas wichtigsten Orten zu wallfahrten, und die Verheißung himmlischer Seligkeit für den, der auf solcher Wallfahrt stirbt, stehen zum mindesten nicht im Widerspruch zum Geist der Buddhalehre. Die Aufzählung der vier Wallfahrtsorte findet sich in dem gleichen Wortlaut auch in A IV, 118; und in M 23 am Schluß [sind dort nicht zu finden] verheißt Buddha allen, die Vertrauen und Liebe zu ihm hegen, die Seligkeit im Himmel nach dem Tode. Ich sehe deshalb keinen zwingenden Grund, die Echtheit der Stelle anzuzweifeln.
Dann folgt unvermittelt die Frage Ānandas, wie man sich den Frauen gegenüber verhalten solle, und die Antwort darauf. Diese kurze Stelle enthält, wie ich in dem vorigen Abschnitt "Der Buddha und die Frauen" gezeigt habe, nicht weniger als sechs grammatische und stilistische Merkmale, die unzweifelhaft beweisen, daß sie ursprünglich nicht im MPNS gestanden haben kann und erst in späterer Zeit entstanden sein muß. Inhaltlich steht sie durchaus im Widerspruch zu Buddhas Verhalten den Frauen gegenüber - man denke nur an den Besuch bei der Hetäre Ambapāli! - und zu allen sonstigen Äußerungen Buddhas über die Frauen. Sie ist sicherlich unecht. [warum nimmt K Schmidt hier die Frauen in Schutz und zweifelt Buddhas Worte an?]
Besser zur Situation paßt die weitere Frage Ānandas, wie die Jünger mit dem Leichnam des Vollendeten verfahren sollen. Buddha erwidert ihm, sie sollten sich um die Leienfeier keine Sorgen machen, sondern nur um ihr Heil ringen. Für die Leichenfeier würden schon wohlgesinnte Laien sorgen. Die weitere Frage, was mit dem Leichnam geschehen solle, erscheint hiernach nicht recht am Platz, und es ist wenig glaubhaft, daß Buddha die umständliche Zeremonie für die Feuerbestattung seines Leichnams im einzelnen und die Errichtung eines Thupa (Sanskrit: Stupa) vorgeschrieben haben soll. Auch die sich hier anschließende Aufzählung der vier eines Thupa würdigen Personen -vollkommener Buddha, Paccekabuddha, Tathāgatasāvaka und Cakkavatti-König - scheint spätere Einfügung zu sein.
Die Erwähnung des weltbeherrschenden (Cakkavatti-) Königs hier und bei den Vorschriften für die Bestattung Buddhas legt die Vermutung nahe, daß diese Stellen erst zur Zeit des Kaisers Asoka aufkamen und zur Verherrlichung Asokas dienen sollten. Der Cakkavatti-König erscheint im Kanon als ein feststehender Begriff, dessen Bedeutung beim Hörer als bekannt vorausgesetzt wird. Wir haben aber nicht den geringsten Anhalt dafür, wie das Volk von Magadha oder Kosala zu Lebzeiten Buddhas dazu gekommen sein sollte, von einem wellbeherrschenden Kaiser oder König zu träumen. In der indischen Geschichte, soweit wir sie übersehen können, hatte es bis dahin niemals auch nur etwas Ähnliches wie einen Weltherrscher gegeben, und nichts deutet darauf hin, daß zu jener Zeit eine Volkssehnsucht nach einem solchen aufkommen konnte.
Andrerseits liegt es sehr nahe, daß sich während der Regierung des weisen, den Buddhismus fördernden Kaisers Asoka die Meinung bilden konnte, Buddha müsse sein Kommen vorausgesagt haben, und daß die buddhistische Bhikkhugemeinde den von ihr verehrten Kaiser, wo es anging, in die Nähe Buddhas rücken wollte, indem sie ihn in den Kanon einschmuggelte.
Gegen diese Vermutung scheint die Erwähnung des Cakkavatti-Königs in M 115 und 129 zu sprechen, während sein Vorkommen in der Maitrāyaniya-Upanischad I, 4, das K. E. Neumann in seiner Anmerkung zu M 115 anführt, nicht ins Gewicht fällt, da diese Upanischad die letzte der drei jüngeren Prosa-Upanischaden ist (vgl. Deussen, "Allgemeine Geschichte der Philosophie", I, 2, Seite 25) und wahrscheinlich erst zur Zeit Asokas oder noch später verfaßt wurde. Bei näherer Prüfung der Sutten M 115 und 129 zeigt sich jedoch, daß auch sie, wie überhaupt die meisten der letzten fünfzig des M erst lange nach dem Tode Gotamas entstanden sein könen.
Nach dieser Abschweifung betritt das MPNS wieder geschichtlichen Boden: Ānanda weint "Ich bin noch ein Ringender (sekha), muß noch viel tun, und nun kommt das Parinirvana meines Meisters, der sich meiner annahm." Buddha tröstet ihn, und zwar mit denselben Worten, mit denen er Ānandas Bitte, länger am Leben zu bleiben, abgewiesen hatte. Dann lobt er seine Treue und Liebe und ermahnt ihn zu weiterem Streben. Zu den Bhikkhus gewandt aber preist er Ānandas Geschicklichkeit als Zeremonienmeister und seine Beredtsamkeit, wobei wieder der Cakkavatti auftaucht, der auch hier als späterer Zusatz zu erkennen ist.
Gleich darauf macht sich wieder das Ruhmbedürfnis der Epigonen geltend: wie konnte der große Buddha auf der Flur eines so kleinen Landstädtchens wie Kusinara zum Parinirvana eingehen! Warum wählte er dafür nicht eine große, angesehene Stadt wie Rājagaha oder Benares? War Kusinārā gegenwärtig klein, so mußte es doch wenigstens in grauer Vorzeit eine bedeutende Stadt gewesen sein. Also ließ man Buddha auf eine Frage Ānandas erklären, Kusinārā sei früher eine Stadt namens Kusāvatī gewesen, die Residenz eines großen Königs der Vorzeit.
Unmittelbar schließt sich hieran wiederum alter Tatsachenbericht: Buddhas Auftrag an Ānanda, nach Kusinārā zu gehen und die dortigen Stadtväter, die Mallas, von dem bevorstehenden Parinirvana zu benachrichtigen. Nachdem Ānanda die Botschaft überbracht hatte, kamen die Mallas an Buddhas Sterbelager, und Ānanda bringt es fertig, die Grußzeremonie in kurzer Zeit zu erledigen, indem er die Mallas nicht einzeln, sondern familienweise an Buddha herantreten läßt.
Nun erscheint der (andersgläubige) Wanderasket Subhadda, der von dem bevorstehenden Tode Buddhas gehört hatte und herbei eilte, um sich noch von ihm unterweisen zu lassen. Ānanda will ihn von dem sterbenden Meister fernhalten, aber dieser hört das Gespräch und läßt Subhadda nähertreten, belehrt ihn über den achtfachen Weg, und Subhadda tritt zur Buddhagemeinde über. Die Geschichtlichkeit dieses Vorgangs, an der wir nicht zu zweifeln brauchen, - im BC wird er ebenso dargestellt - wird wiederum durch alte Verse bestätigt Buddha spricht:
"Mit neunundzwanzig Jahren zog ich aus,
Das Heil zu suchen. Ich verließ mein Haus,
Und mehr als fünfzig Jahre sind vergangen,
Seit ich der Welt entsagt und angefangen,
Den rechten Weg, der Lehre nach, zu wandern.
Kein richtiger Asket geht einen andern."
Spätere Zutat könnte in dieser Unterredung zwischen Buddha und Subhadda vielleicht die Erwähnung der vier Gruppen oder Grade der Samanas sein, die in den Versen nicht vorkommt, aber gleich nachher noch einmal wiederholt wird, sowie der Schluß, in dem mit einer stereotypen Formel berichtet wird, Subhadda sei bald ein Arahā geworden. Im BC erlangt er alsbald das Nirvana und stirbt vor Buddha.
Das sechste Kapitel bringt Buddhas letzte Worte. Zu Ānanda gewandt spricht er: "Es könnte euch der Gedanke kommen: Die Heilslehre ist nun ohne Verkünder, unser Meister ist nicht mehr. So müßt ihr es jedoch nicht ansehen. Die Lehre und die Satzung, die ich euch verkündet und verordnet habe, die sind nach meinem Hinscheiden euer Meister." Dann fordert er seine Jünger auf, falls einer von ihnen noch einen Zweifel über Buddha oder über die Lehre oder über die Gemeinde oder über den Weg oder über den Pfad hätte, ihn zu fragen, damit sie sich nicht nachher Vorwürfe machen müßten, daß sie ihn nicht rechtzeitig gefragt hätten. Die Jünger schweigen und verharren auch im Schweigen, als er sie noch ein zweites und ein drittes Mal auffordert. "Vielleicht", fährt Buddha fort, "hält euch die Scheu vor dem Meister ab, zu fragen; dann mag der Freund dem Freunde seine Frage anvertrauen." Da die Jünger auch jetzt schweigen, nimmt Ānanda das Wort und sagt: "Herr, es ist höchst erstaunlich: in dieser Gemeinde ist nicht ein einziger Bhikkhu, der einen Zweifel über Buddha oder über die Lehre oder über die Gemeinde, über den Weg oder über den Pfad hat." Nun spricht Buddha: "Wohlan, meine Bhikkhus, höret jetzt, was ich euch noch zu sagen habe: Vergehen muß, was geworden ist. Unermüdlich müßt ihr an euch arbeiten!" Feierlich fügt der Bericht hinzu: "Dieses war das letzte Wort des Vollendeten."
Auch diese schöne, in ihrer schlichten Größe ergreifende Szene hat der Glaubenseifer einer späteren mönchischen Generation nicht mit stilwidrigen Einschaltungen verschont. Im Anfang, hinter der an Ānanda gerichteten Ermahnung, werden gleich drei Verunzierungen angebracht: Buddha soll - in dieser feierlichen Stunde! - ganz unvermittelt angeordnet haben, daß künftig die jüngeren Bhikkhus, wenn sie mit älteren reden, diese mit "bhante" anzureden hätten, die älteren die jüngeren aber mit Vor- oder Familiennamen oder mit "lieber Freund". Dann wird behauptet, Buddha habe der Gemeinde gestattet, nach seinem Tode diese oder jene minder wichtige Vorschrift abzuschaffen. Es muß also neuerungssüchtige Mönche gegeben haben, die ein großes Interesse daran hatten, gewisse willkürliche Änderungen der Ordensdisziplin auf eine von Buddha der Gemeinde gegebene Generalvollmacht zurückzuführen. Endlich soll Buddha, was am allerwenigsten hierher paßt, verfügt haben, daß die Gemeinde einen Bhikkhu namens Channa durch Boykott bestrafen solle. Was dieser unglückliche Channa verbrochen hat, wird nicht gesagt. Wie groß muß die ganz unbuddhistische Gehässigkeit unter den Mönchen gewesen sein, daß sie einen der Ihrigen gerade an dieser Stelle für alle Zeit als Übeltäter brandmarkten!
Buddhas Eingehen in das Parinirvana hat sich nach dem MPNS so vollzogen, daß Buddha die acht Stufen der Versenkung vorwärts- und rückswärts durchlief, dann noch einmal von der ersten bis zur vierten Stufe der Versenkung gelangte und von hier aus verschied. Da sich dieser Teil des Berichts mit einer geringen Änderung auch im BC findet, scheint er zum alten Bestande zu gehören. Spätere Einschaltung aber ist offenbar die im BC nicht vorkommende Wechselrede zwischen Ānanda und Anuruddha. Sie scheint nicht älter zu sein als die eben erwähnte Stelle, wo Buddha den Bhikkhus angeblich vorschreibt, nach seinem Tode die Alters- und Rangunterschiede bei der Anrede zu beachten; denn hier findet sich bereits die erste Anwendung dieser Regel: Ānanda redet Anuruddha mit "bhante", dieser aber jenen mit "lieber Freund" (avuso) an. Ānanda glaubt, daß Buddha in dem Augenblick, in dem er die achte Stufe der Versenkung erreicht hat, erloschen sei, während ihn Anuruddha darüber belehrt, daß er nicht erloschen, sondern nur zur Aufhebung von Wahrnehmung und Empfindung gelangt sei. Von diesem Zwiegespräch an tritt im MPNS Anuruddha in den Vordergrund. Nachdem Buddha verschieden ist, ist Anuruddha der Held der Erzählung. [14]
Das große Ereignis des Parinirvana und der tiefe Eindruck, den es auf alle machte, die es miterlebten, erfordern zu ihrer Darstellung der stärksten Mittel, die dem Berichterstatter zur Verfügung standen: ein furchtbares Erdbeben mit rollendem Donner veranschaulicht die seelische Erschütterung der Jünger. Dann erscheinen die beiden höchsten Personen der Mythologie, Brahmā Sahampati - derselbe, der Buddha nach dem Erwachen erschienen war und ihn gebeten hatte, die Lehre zu verkünden - und Sakka, der Indra der Götter, und huldigen dem erloschenen Meister mit Weihesprüchen. Es bedarf keiner Worte, daß es sich hierbei nicht um geschichtliche Vorgänge, sondern um poetische Ausschmückung handelt. Aber auch die mit den gleichen Worten wie diese Göttersprüche eingeleiteten, Anuruddha und Ānanda zugeschriebenen Verse sind zweifellos dichterische Zutat des Berichterstatters. Besonders dem Spruch Ānandas merkt man deutlich an, daß er ersr später gedichtet wurde:
"Damals begab sich Schreckliches,
da hat sich uns das Haar gesträubt,
Als der mit allerhöchsten Gaben
gesegnete Sambuddha starb."
Dieser Spruch ist wahrscheinlich ein Teil des ältesten, in Versen abgefaßten Berichts, dessen Bruchstücke auch an anderen Stellen dem späteren Prosabericht eingefügt worden sind. Daß gerade dieser Spruch Ānanda zugeschrieben wird, scheint die Annahme zu bestätigen, daß Ānanda der Verfasser jenes ältesten Berichts in Versen ist. (Der Spruch steht übrigens auch in den Theragāthā unter Nr. 1046.)
Die Bhikkhus brechen nun, soweit sie noch nicht von aller Leidenschaft frei sind, in laute Klagen aus. Da tröstet sie Anuruddha. Daß er dies mit den gleichen Worten tut, mit denen vorher Buddha Ānanda getröstet hatte, ist an sich nicht unwahrscheinlich, auch daß er, nachdem er den Rest der Nacht mit Ānanda in religiösem Gespräch verbracht hat, diesen nach Kusinārā schickte um den Mallas Buddhas Tod anzuzeigen, kann richtig sein. Es ist aber doch auffällig, daß er auch hier die gleichen Worte gebraucht, wie vorher Buddha. Und daß er zwischendurch Ānanda über die verschiedenen Arten der Gottheiten und Geister belehrt, die um Buddha trauern, wiederum mit den gleichen Worten, die im fünften Kapitel als angebliche Worte Buddhas vorkommen, macht den ganzen Abschnitt verdächtig. Den Schluß bildet ein umständlicher, mit Übertreibungen und Wundergeschichten ausstaffierter Bericht über die Verbrennung der Leiche und die Verteilung der Reliquien. In diesem letzten Teil treiben auch bei Asvagosha Mythologie und Legende üppige Blüten, und zwar im wesentlichen mit dem gleichen Inhalt wie im MPNS, woraus zu schließen ist, daß das Eingreifen der Geister und die Wundergeschichten schon in der alten Fassung des Berichts enthalten waren. Auf die Einzelheiten der Schlußerzählung einzugehen, mag einer späteren Arbeit vorbehalten bleiben.
Das Ergebnis unserer Untersuchung läßt sich dahin zusammenfassen: Das MPNS in seiner heutigen Gestalt ist jünger als diejenige Fassung des Berichts über Buddhas letzte Lebenszeit, die Asvagosha als Unterlage für sein Epos Buddhacarita gedient hat. Auch diese ältere Fassung kann nicht früher entstanden sein, als das Konzil stattfand, auf dem die Urform des Kanons mit seiner Einteilung in Vinaya und Sutta festgelegt wurde. Im MPNS finden sich jedoch Spuren einer noch älteren Form des Berichts, und zwar in den Gāthās erzählenden Inhalts, die vermutlich den ältesten Kern des MPNS bilden. Zu diesem ältesten Bestand gehören auch diejenigen Buddha zugeschriebenen Verse, die auf die berichteten Vorgänge unmittelbar Bezug haben, während das Udana am Ende des vierten Kapitels, obwohl es an sich vielleicht echt ist, wohl irrtümlich in das MPNS hineingeraten ist. Der älteste, in Versen überlieferte Teil ist ein schlichter, durchaus giaubwürdiger Tatsachenbericht ohne alle Wundergeschichten und ohne Mythologie.
Die vorstehende Untersuchung über das MPNS wurde im Frühjahr 1939 abgeschlossen. Fünf Jahre darauf, 1944, erschien eine Abhandlung von Ernst Waldschmidt, "Die Überlieferung vom Lebensende des Buddha", I. Teil, über denselben Gegenstand, jedoch auf anderer Grundlage. Waldschmidt geht aus von dem Sanskrittext Mahāparinirvānasūtra (MPS), von dem die deutschen Turfan-Expeditionen umfangreiche Bruchstücke im Tarimbecken aufgefunden haben. Dieser Sanskrittext ist bisher noch nicht veröffentlicht worden. Waldschmidt teilt aber mit, daß er die Herausgabe vorbereitet hat. Er hat außerdem die tibetischen und chinesischen Parallelversionen des MPS seiner Untersuchung zugrunde gelegt, dagegen berücksichtigt er nicht Asvagoshas Buddhacarita. Wahrscheinlich hat Asvagosha den Sanskrit-Kanon und damit auch das MPS gekannt und für sein BC benutzt.
Aus Waldschmidts Abhandlung habe ich folgendes nachzutragen:
Das "Udāna" bei der Überquerung des Ganges ist nach dem MPS nicht ein Wort Buddhas, sondern eine von drei Strophen, die bei dieser Gelegenheit ein Bhikkhu gesprochen haben soll. Es scheint, daß die beiden ersten dieser Strophen die ursprüngliche Fassung eines Berichts über den tatsächlichen Vorgang waren, später aber in einem übertragenden Sinn aufgefaßt wurden. Die unklare Pali-Version wäre danach ein von den Überarbeitern des MPNS nicht mehr verstandener Rest eines alten Tatsachenberichts in Versform, von dem wir ja mehrere Spuren gefunden haben.
Die Rede über die Bedingungen für das Gedeihen der Gemeinde befindet sich auch im MPS, sogar noch etwas ausführlicher als im MPNS, ebenso die Rede an die Bürger von Pātaligāma. Zu den Versen, in denen Buddha empfiehlt, den Ortsgeistern Opfer darzubringen, weist Waldschmidt aus dem MPS nach, daß es sich hierbei nicht um ein Opfer im gewöhnlichen Sinne handelt, sondern um die symbolische Übertragung des Lohnes für die gute Tat, die in der Speisung Buddhas und seiner Gemeinde besteht, auf die Geister oder Gottheiten.
Buddhas Erklärung, daß er keine Geheimlehre zurückbehalten habe, steht auch im MPS sowie in den chinesischen Parallelen; Asvagosha hat sie also wahrscheinlich gekannt und absichtlich weggelassen. Auch der "Spiegel der Lehre" ist im MPS enthalten, jedoch kürzer. Der "Prüfstein der echten Überlieferung" steht gleichfalls im MPS und seinen chinesischen Parallelen. Dagegen wird die Speise, die Buddha von Cunda bei seinem letzten Mahl erhielt, im MPS nicht erwähnt; in einer chinesischen Parallele, im Dīrghāgama, wird sie "Sandelbaumpilze" genannt. Der Verfasser dieser Übersetzung war also der Meinung, daß es ein Pilzgericht war. Die Übersetzung stammt aus einer Zeit, in der bei den Mahāyāna-Sekten das Fleischessen bereits als unerlaubt galt.
[K.E.Neumann erklärt hierzu, daß es sich tatsächlich um eine Pilzart handeln soll. Der Name des Pilzes "Eberwurz" o.ä. ist nach dem Wildschwein benannt, das wurde von einigen Übersetzern als Schweinefleisch interpretiert.]
Im übrigen bestätigt Waldschmidts Abhandlung die von mir ausgesprochene Vermutung, daß die Fassung des Berichts, die dem Asvagosha vorlag - wahrscheinlich eben das MPS - älter ist als das Mahāparinibbānasutta in seiner heutigen Gestalt.
Hierzu eine Tabelle mit chinesischen Schriftzeichen. Die Beigabe ist notwendig, weil sich die chinesische Sprache mit unserer Buchstabenschrift nicht unzweideutig wiedergeben läßt.
(Die Nummern beziehen sich auf die im vorhergehenden Kapitel angeführten chinesischen Text.)
Immanuel Kant wußte nichts von der Buddhalehre. Er konnte nichts von ihr wissen, denn er lebte von 1724 bis 1804, und erst 1821 wurden in Europa die ersten Stücke des buddhistischen Kanons bekannt, solche der nördlichen Tradition in Sanskrit-Handschriften, die der englische Resident beim Raja von Nepal, Hodgson, entdeckt hatte, und solche der südlichen Tradition, des Pali-Kanons, die George Turner auf Ceylon gefunden hatte. Was zu Kants Lebzeiten überhaupt von Buddha in Europa zu erfahren war, hat er aus Reiseberichten zusammengetragen und in seinem Werk "Physische Geographie", das nach seiner Handschrift und in seinem Auftrage von seinem Schüler Friedrich Theodor Rink 1802 veröffentlicht wurde, verzeichnet. Im 3. Abschnitt "Summarische Betrachtung der vornehmsten Naturmerkwürdigkeiten aller Länder nach geographischer Ordnung" lesen wir
unter China:
"Die Secte des Fo (Kant wußte nicht, daß Fo das chinesische Wort für Buddha ist) ist die zahlreichste. Unter diesem Fo verstehen sie eine eingefleischte Gottheit, die vornehmlich den großen Lama zu Barantola in Tibet anjetzt bewohnt und in ihm angebetet wird, nach seinem Tode aber in einen anderen Lama fährt. Die Tatarischen Priester des Fo werden Lamas genannt, die Chinesischen Bonzen. Die katholischen Missionarien beschreiben die den Fo betreffenden Glaubensartikel in der Art, daß daraus erhellt, es müsse dieses nichts Anderes, als ein ins große Heidentum degenerirtes Christenthum sein. Sie sollen in der Gottheit drei Personen statuiren, und die zweite habe das Gesetz gegeben und für das menschliche Geschlecht sein Blut vergossen. Der große Lama soll auch eine Art des Sacramentes mit Brod und Wein administrieren."
Unter Siam:
"Sie haben Nonnen- und Mönchsklöster in noch größerer Anzahl, als es deren in Portugal gibt. Die Mönche werden Talapoins genannt. Sie lehren, daß Alles in der Welt, belebte und unbelebte Wesen, eine Seele habe, die aus einem Körper in den anderen übergehe. Sie geben sogar vor, sich dieser Wanderung selbst zu erinnern. . . Sie verwerfen die göttliche Vorsehung, lehren aber, daß durch eine fatale (d.h. schicksalsmäßige) Notwendigkeit Laster bestraft und Tugenden belohnt werden. Sie vergießen ungern Blut, pressen keinen Saft aus Pflanzen, tödten kein Vieh, sondern essen es nur, wenn es von selbst gestorben ist. Daher ihre milden Kriege mit den Peguanern. Die Talapoins leben vom Betteln, sie sind liebreich und tugendhaft. Man verehrt bei ihnen nicht eigentlich ein höchstes Wesen, sondern den Sommona Cadam (offenbar die mißverstandene Wiedergabe von Samana Gotama), einen ehedeß gewesen Talapoin, der sich nun in dem Zustande der größten Glückseligkeit befinden soll, zu welchem auch, wie sie glauben, die Menschen nach vielen Wanderungen gewöhnlich in andere Körper gelangen, indem sich ihre Seele mit der Seele der Welt vermengt und als Funke in dem Himmelsraume übrig ist. Sommona Cadam aber soll wegen seiner großen Heiligkeit dahin gelangt sein. Die Gottlosen werden zu ewigen Wanderungen in andere Körper verurtheilt. Die Unempfindlichkeit ist bei ihnen die größte Glückseligkeit. Ihre Leichen werden verbrannt."
Unter Pegu (heute Burma):
Die Peguanischen Talapoins werden als die gütigsten Menschen von der Welt gerühmt. Sie leben von den Speisen, die sie an den Häusern betteln, und geben, was sie nicht brauchen, den Armen, sie thun Allem, was da lebt, Gutes, ohne Unterschied der Religion. Sie glauben, Gott habe an dem Unterschiede der Religion einen Gefallen und halte alle solche Religionen für gut, die den Menschen gutthätig und liebreich machen. Sie schlichten mit großer Bemühung alle Streitigkeiten unter den Menschen.
Unter Ceylon:
"Sie verehren einen obersten Gott, beten aber doch auch die Bildnisse der Heiligen und Helden an. Auf der Spitze des Pic d'Adam ist ihrem Vorgeben nach ein Fußstapfen ihres Gottes Buddha anzutreffen. Diesen Fußstapfen verehren sie. Man findet einige prächtige und sehr alte Tempel, die zu einer Zeit müssen erbaut sein, da ein sehr mächtiger Monarch über sie geherrscht hat. Denn jetzt wissen sie nicht einmal etwas an ihnen auszubessern."
Unter "Kalmüdeen" (Gemeint ist Tibet):
In Baranthola, oder wie Andere es nennen, in Potala residirt der Oberpriester der Mongolischen Tataren, ein wahres Ebenbild des Papstes. Die Priester dieser Religion, die sich von dieser Gegend der Tatarei bis in das Chinesische Meer ausgebreitet haben, heißen Lamas; diese Religion scheint ein in das blindeste Heidenthum ausgeartetes katholisches Christenthum zu sein. Sie behaupten, Gott habe einen Sohn, der in die Welt als Mensch gekommen, und in der er blos als ein Bettler gelebt, sich aber allein damit beschäftigt habe, die Menschen selig zu machen. Er sei zuletzt in den Himmel erhoben worden. Dieses hat Gmelin aus dem Munde eines Lama selbst gehört. Sie haben auch eine Mutter dieses Heilandes, von der sie Bildnisse machen. Man sieht bei ihnen auch den Rosenkranz. Die Missionarien berichten, daß sie auch ein Dreifaches in dem göttlichen Wesen statuieren, und daß der Dalai-Lama ein gewisses Sacrament mit Brod und Wein administriren soll, welches aber kein Anderer genießt. Dieser Lama stirbt nicht, seine Seele belebt ihrer Meinung nach alsbald einen Körper, der dem vorigen völlig ähnlich war. Einige Unterpriester geben auch vor, von dieser Gottheit beseelt zu sein, und die Chinesen nennen einen solchen einen lebendigen Fo."
Dies ist alles, was Kant von Buddha erfahren konnte. Von dem, was Buddha lehrte, hat er, wie man hieraus sieht, nicht das mindeste gewußt. Um so merkwürdiger ist, daß Kant aus eigenem Wissen in vielen Punkten zu denselben Ergebnissen gelangt ist wie Buddha.
Das kann man nicht kritiklos hinnehmen. Meister Ekkehard hat viele Jahrhunderte früher gelebt und seine Schriften weisen vile Parallelstellen zum Buddhismus auf, siehe Anmerkungen in Majjhima- und Digha-Nikaya von K.E.Neumann. In der "Kritik der reinen Vernunft", Elementarlehre, II. Teil, II. Abteilung, II. Buch, 1. Hauptstück, entwickelt Kant die Anattā-Lehre. Er widerlegt hier die Behauptung, daß es eine immaterielle, unveränderliche, unsterbliche Seele gebe, und kommt sodann zu dem Schluß":
"Nun haben wir aber in der inneren Anschauung gar nichts Beharrendes, denn das Ich ist nur das Bewußtsein meines Denkens; also fehlt es auch, wenn wir blos beim Denken stehen bleiben, an der notwendigen Bedingung, den Begriff der Substanz, d.i. eines für sich bestehenden Subjekts, auf sich selbst als denkend Wesen anzuwenden, und die damit verbundene Einfachheit der Substanz fällt mit der objektiven Realität des Begriffes gänzlich weg und wird in eine blos logische qualitative Einheit des Selbstbewußtseins im Denken überhaupt, das Subjekt mag zusammengesetzt sein oder nicht, verwandelt."
Hierauf folgt bei Kant noch eine ausführliche "Widerlegung des Mendelssohnschen Beweises der Beharrlichkeit der Seele."
Lesen wir weiter in der Kritik der reinen Verunft, so hommen wir zur "Antinomie der reinen Vernunft", wo Kant dieselben Fragen, die Buddha zu beantworten bebarrlich abgelehnt hat, als unlösbar nachweist: Ist die Welt ewig oder zeitlich begrenzt? Ist sie räumlich unendlich oder endlich?
Buddha lehrt, daß der Glaube an die Heilswirkung ritueller Handlungen und Sakramente (sīlabbataparāmāso) - was K.E. Neumann mißverständlich mit "Haften an Tugendwerk" übersetzt - eine der drei Fesseln ist, die an die Sinnenwelt binden und den Aufstieg zum Heil verhindern. Dasselbe hat auch Kant erkannt. In seinem 1793 erschienenen Werk "Die Religion innerhalb der Grenzen der blosen Vernunft" sagt er (III, 1, VII):
"Der Glaube einer gottesdienstlichen Religion ist ein Frohn- und Lohnglaube (fides mercenaria, servilis), und kann nicht für den seligmachenden angesehen werden, weil er nicht moralisch ist. Denn dieser muß ein freier, auf lauter Herzensgesinnungen gegründeter (fides ingenua) Glaube sein. Der erstere wähnt durch Handlungen (des cultus), welche (obzwar mühsam) doch für sich keinen moralischen Wert haben, mithin nur durch Furcht oder Hoffnung abgenöthigte Handlungen sind, die auch ein böser Mensch ausüben kann, Gott wohlgefällig zu werden, anstatt daß der letztere dazu eine moralisch gute Gesinnung als nothwendig voraussetzt."
Genau wie Buddha nennt Kant den Glauben an die Wirksamkeit ritueller Handlungen eine Fessel: "Das Leitband der heiligen Überlieferung mit seinen Anhängseln, Statuten und Observanzen, welches zu seiner Zeit gute Dienste that, wird nach und nach entbehrlich, ja endlich zur Fessel, wenn er in das Jünglingsalter eintritt. So lange er (die Menschengattung) ,ein Kind war, war es klug als ein Kind, und wußte mit Satzungen, die ihm ohne sein Zuthun auferlegt worden, auch wohl Gelehrsamkeit, ja sogar eine der Kirche dienstbare Philosophie zu verbinden; 'nun er aber ein Mann wird, legt er ab, was kindisch ist'. Der erniedrigende Unterschied zwischen Laien und Klerikern hört auf, und Gleichheit entspringt aus der wahren Freiheit, jedoch ohne Anarchie, weil ein Jeder zwar dem (nicht statutarischen) Gesetz gehorcht, das er sich selbst vorschreibt, das er aber auch zugleich als den ihm durch die Vernunft geoffenbarten Willen des Weltherrschers ansehen muß."
Buddha verwarf die Selbstpeinigung als niedrig, gemein, nutzlos. Ebenso sagt Kant in demselben Werk (IV, 2, §1):
"Je unnützer solche Selbstpeinigungen sind, je weniger sie auf die allgemeine Besserung des Menschen abgezweckt sind, desto heiliger scheinen sie zu sein; weil sie eben darum, daß sie in der Welt zu gar nichts nutzen, aber doch Mühe kosten, lediglich zur Bezeugung der Ergebenheit gegen Gott abgezweckt zu sein scheinen . . . Hier ist nun der Hang zu einem Verfahren sichtbar, das für sich keinen moralischen Wert hat, als etwa nur als Mittel, das sinnliche Vorstellungsvermögen zur Begleitung intellektueller Ideen des Zwecks zu erhöhen, oder um, wenn es den letzteren etwa zuwider wirken könne, es niederzudrücken; diesem Verfahren legen wir doch in unserer Meinung den Werth des Zweckes selbst, oder welches eben so viel ist, wir legen der Stimmung des Gemüths zur Empfänglichkeit Gott ergebener Gesinnungen (Andacht genannt) den Werth der letzteren bei; welches Verfahren mithin ein bloser Religionswahn ist, der allerlei Formen annehmen kann, in deren einer er der moralischen ähnlicher sieht, als in der anderen, der aber in allen nicht eine blos unvorsätzliche Täuschung, sondern sogar eine Maxime ist, dem Mittel einen Werth an sich, statt des Zwecks beizulegen, da denn vermöge der letzteren dieser Wahn unter allen diesen Formen gleich ungereimt und als verborgene Betrugsneigung verwerflich ist."
In § 2: "Alles, was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch thun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloser Religionswahn und Afterdienst Gottes."
"Es ist abergläubischer Wahn, durch Handlungen, die jeder Mensch thun kann, ohne daß er eben ein guter Mensch sein darf, Gott wohlgefällig werden zu wollen (z.B. durch Bekenntnis statutarischer Glaubenssätze, durch Beobachtung kirchlicher Observanz und Zucht u. dgl.)."
In § 3: "Das Pfaffenthum ist also die Verfassung einer Kirche, sofern in ihr ein Fetischdienst regiert, welches allemal da anzutreffen ist, wo nicht Prinzipien der Sittlichkeit, sondern statutarische Gebote, Glaubensregeln and Observanzen die Grundlage und das Wesentliche desselben ausmachen."
Buddha warnte, man solle nidht glauben, sondern sich nur an das halten, was man selbst als richtig erkannt hat. Ebenso Kant in demselben Werk (IV, 2, § 2):
"Aber wenn die Kirche ein solches Geheimniß etwa als offenbart verkündigen sollte, so wird doch die Meinung, daß diese Offenbarung, wie sie uns die heilige Geschichte erzählt, zu glauben und sie (es sei innerlich oder äußerlich) zu bekennen, an sich etwas sei, dadurch wir uns Gott wohlgefällig machen, ein gefährlicher Religionswahn sei". Denn dieses Glauben ist als inneres Bekenntniß seines festen Fürwahrhaltens so wahrhaftig ein Thun, das durch Furcht abgezwungen wird, daß ein aufrichtiger Mensch eher jede andere Bedingung als diese eingehen möchte, weil er bei allen anderen Frohndiensten allenfalls nur etwas Überflüssiges, hier aber etwas dem Gewissen in einer Declaration, von deren Wahrheit er nicht überzeugt ist, widerstreitendes thun würde."
Wie in Kants Werken, so findet sich auch in seinem Lebenswandel manches, was an Buddha erinnert. Als Kant, der übrigens ehelos lebte, im Sommer 1786 zum ersten Mal die Rektorwürde der Königsberger Universität antrat, wurde ihm von seinen Schülern ein längeres Gedicht überreicht, das ihn feierte als "Vater, Führer, Freund und Lehrer",
"Dessen Herz nach Ehre nimmer geizte,
Nie den Trieb zu niederm Stolz empfand,
Der mit seiner Tugendlehre heilig
Einen Wandel ihr gemäß verband."
Kant stand immer früh um 5 Uhr auf, und im Alter begnügte er sich mit einer Mahlzeit am Tage, dem Mittagsmahl. Auch darin war Kant, ohne es zu wissen, Buddha ähnlich.
[1] Kant sagt in der Vorrede zur "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft": "Die Moral, sofern sie auf dem Begriffe des Menscben als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines anderen Wesens über ihm, um seine Pflichten zu erkennen, noch einer anderen Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten. . . Sie bedarf also zum Behuf ihrer selbst keineswegs der Religion, sondern, vermöge der reinen praktischen Vernunft. ist sie sich selbst genug . . Aber aus der Moral geht doch ein Zweck hervor, denn es kann der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was dann aus diesem unserem Rechthandeln herauskomme. . . So ist es zwar nur eine Idee von einem Objekte, welches die formale Bedingung aller Zwecke zusammen vereinigt in sich enthält, das ist, die Idee eines höchsten Gutes in der Welt, . . . aber diese Idee geht aus der Moral hervor und ist nicht die Grundlage derselben."
[2] bhavarāgānusaya "das leidenschaftliche Begehren nach Macht"; bhava bedeutet hier nicht nur "werden", sondern, wie sonst gelegentlich vibhava "Macht, Bedeutung, Machtentfaltung".
[3] cakkhuvinnyāna ist nicht "Sehbewußtsein", sondern "mit dem Auge erkennen", d.h. sehen.
[4] kāyavinnyān "mit dem Körper erkennen", d.h. tasten.
[5] manas, sprachlich entsprechend dem lateinischen mens.
[6] manovinnyāna "mit dem inneren Sinn, dem Verstand oder Geist erkennen", d.h. vorstellen.
[7] Kant, Elementarlehre II, 1.
[8] Kant, Kritik der reinen Vernunft I § 2.
[9] Zum Beispiel: die Anweisung für die Bhikkhus über den Umgang mit Frauen in Digha-Nikaya 16, deren Unechtheit ich bereits 1919 nachgewiesen habe (siehe unten, Seite 113!), und der "Prüfstein der echten Überlieferung" in demselben Sutta, wo Buddha gesagt haben soll, man solle prüfen, ob ein Lehrsatz im Vinaya oder im Sutta stehe, während doch Vinaya und Sutta erst nach Gotamas Tode auf dem ersten Konzil festgelegt wurden.
[10] vergl. Seite 90.
[11] vergl. Seite 90.
[12] Grimm weicht übrigens von der überlieferten Buddha-Lehre ab durch seinen "Großen Syllogismus", den er in seinem Werk "Buddha und Christus" auf Seite 56 so formuliert:
"Was ich entstehen und vergehen und infolge dieser seiner Vergänglichkeit mir Leiden bringen sehe, das kann nicht mein Ich sein.
Nun sehe ich alles Erkennbare an mir und um mich entstehen and vergehen und infolge dieser seiner Vergänglichkeit mir Leiden bringen. Also ist nichts Erkennbares mein Ich."
So hat Buddha nie gesprochen, so kann er nie gesprochen haben, denn der "Große Syllogismus" ist ein Paralogismus, ein Fehlschluß. Er verwendet ein Wort, das Wort "ich", für zwei grundverschiedene Begriffe. Im Mittelbegriff (terminus medius) der Prämissen bedeutet "ich" das empirische Ich, das aus den 5 Gruppen besteht, das Individuum oder die Persönlichkeit, denn nur diese "sieht" und empfindet Leiden; im terminus maior aber bedeutet "ich" das transzendente Ich, das unergründliche, zeitlose. Der Obersatz, die erste Prämisse, enthält also einen logischen Fehler und verwirrt die Begriffe.
[13] Nach einer anderen Handschrift lautet dieser Vers:
"Der legt', vom Selbstbeherrschten hoch erfreut". Die eine Lesart ist "codito" = "gebten", die andere "modito" = "erfreut".
[14] Vergl. Seite 69: Buddha-Jhāna und Yoga-Jhāna!